Edition – drei Briefgruppen
Soeben habe ich Deine Karte bekommen. Es ist mir völlig unbegreiflich, daß Du den Schlüssel nicht gefunden, ich [habe] denselben hinten in einen Saum des Unterzeugs gesteckt. Er muß noch dort sein od. am Ende ist er hinausgefallen, bitte suche nur noch einmal recht. Es freut mich sehr Otto590Otto Kappeler (1869-1935), Hedwigs jüngster Bruder. Ab 1901 verheiratet mit Marie Pauline Stierlin (1877-1954); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen zu sehen mit seinem fidelen Gesicht, das er bei der Ankunft in Zürich machen wird. Ich werde also etwa um 9 Uhr morgen auf dem Bahnhof591Der Zürcher Hauptbahnhof war im Herbst 1871 eingeweiht worden. Das neue, heutige Gebäude ersetzte den ersten Bahnhof von 1847.schliessen sein.
Gestern morgen sagte mir plötzlich eine Fräulein Imhof592Leonie Imhof (geb. 1856), Mitschülerin von Hedwig Kappeler an der Höheren Töchterschule; Jahresberichte der Höheren Töchterschule 1875-1880; Verzeichnis der Schülerinnen der Höheren Töchterschule 1875-1893, Klasse I, Schuljahr 1876/77.schliessen ob meine Schwester mit ihrem Vetter Herr Bremy593Heinrich Adolf Bremi (geb. 1851), Kaufmann und Bräutigam von Hedwigs Cousine Marie Luise Kappeler; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen verlobt sei, ich war ganz verdutzt, wusste aber sogleich, daß das Marie594Marie Luise Kappeler (geb. 1856), Hedwigs Cousine väterlicherseits, Tochter von Johann Rudolf Kappeler und Maria Katharina (Marie) Kappeler-Kessler. Heiratet am 3. Oktober 1877 Heinrich Adolf Bremi; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen sein müsse. Du kannst Dir denken, daß ich nicht sehr angenehm berührt war, das in der Schule zu vernehmen u. glaubte es anfangs nicht recht. Abends bekam ich dann die bestätigende Anzeige. Ihr war[t] gewiss auch ganz überrascht? Emil595Emil Labhardt (geb. 1856), Hedwig Kappelers Cousin mütterlicherseits, Sohn von Gottlieb Labhardt und Natalie Labhardt-Wüest; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen hat mir noch immer keine Strümpfe gebracht, ich bin in größter Verlegenheit, od. ist er am Ende nicht nach Hause gekommen? [2] In letzter Zeit habe ich verschiedene Ausflüge gemacht. An dem Sonntag, als Tante Nette596Anna Friederike (Nette) Wüest (1821-1920), Tante mütterlicherseits von Hedwig, wohnhaft im Bernerhaus; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen da war in den Sihlwald,597Grosser Wald (45 ha) im Bezirk Horgen, im Sihltal zwischen Langnau und Sihlbrugg, zwischen Sihl und Albis. Der Sihlwald ist seit Jahrhunderten Besitz der Stadt Zürich. Im Forstheim an der Sihl "residierte" der "Sihlherr", resp. der Verwalter (1781-1788 war dies Salomon Gessner).schliessen was sehr hübsch ist. Um 10 Uhr mußte ich mich bei Herr Hubers598Wahrscheinlich Peter Emil Huber (1836-1915) und Anna Maria (Nanny) Huber-Werdmüller (1844-1911) mit ihren Kindern Emil (geb. 1865), Anna Barbara (geb. 1867) und Max (geb. 1874).schliessen einfinden. Dann fuhren wir in einer Droschke nach Langnau, von wo wir etwa eine Viertelstunde in der brennendsten Hitze im Trap hinauf zu gehen hatten, nach dem Wildpark.599Den Wildpark Langenberg gibt es noch heute, in jüngster Zeit wurde er mit dem Sihlwald unter der Bezeichnung "Wildnispark Zürich" zu einem Naturpark zusammengeschlossen.schliessen Es ist ein wunderhübsches Besitztum von Forstmeister Orelli,600Carl Anton Ludwig von Orelli (1808-1890), Stadtforstmeister von 1835 bis 1875, Kantonsrat von 1875 bis 1881, lebte in Langnau, ab 1878 in der Stadt Zürich an der Bärengasse 18. Gründer des Tierparks Langenberg; HLS IX, 452f.schliessen der auf der Anhöhe ein niedliches Sommerhäuschen bewohnt, u. seinen Park hinten mit vielen Hirschen und Rehen dem Publikum geöffnet hat. Wir spazierten lange herum, bis wir endlich einen ganzen Rudel weidender junger Hirsche trafen, die sich dann ins Gehölz flüchteten, etwa 18. Nachher lief uns ein weißer junger Hirsch nach ganz zahm u. bettelte immer Brot, es war so nett. Von da hatten wir wieder eine ziemliche Strecke zu gehen, bis wir endlich im Sihlwald u. dem Försterhaus ankamen, wo wir zu Mittag speisten etwa um 3 Uhr. Nachher ergingen wir uns ein wenig im Sihlwald, wo sich Frau Huber601Wahrscheinlich Anna Maria (Nanny) Huber-Werdmüller (1844-1911), Frau von Peter Emil Huber. Engagierte sich im Zürcher Frauenverein für Mässigkeit und Volkswohl (später Zürcher Frauenverein für alkoholfreie Wirtschaften) und war viele Jahre lang dessen Präsidentin; Monique R. Siegel, Weibliches Unternehmertum, 34-61, 249.schliessen sofort auf den Boden legte um auszuruhen. Ungefähr um halb 7 brachen wir auf um über den Berg nach Thalwil zu gehen u. dann die Eisenbahn6021875 war die linksufrige Zürichseebahn (Zürich-Näfels) dem Verkehr übergeben worden.schliessen zu besteigen. Da waren so viele Leute, daß man sich ganz vertheilen [3] mußte. Nach 10 Uhr langte ich glücklich wieder im Stadthaus603Das Stadthaus, in welchem sich die Amtswohnung des Stadtschreibers Johann Bernhard Spyri befand, stand am ehemaligen Kratzplatz, wo heute die Börsenstrasse in den Stadthausquai einmündet. Es wurde im Zuge der Umgestaltung des Quartiers 1886 abgerissen.schliessen an. Letzten Sonntag machte die antiquarische Gesellschaft604Die Antiquarische Gesellschaft in Zürich (AGZ) wurde als Gesellschaft des städtischen Bürgertums 1832 von Ferdinand Keller gegründet.schliessen wozu auch H[err] Sp[yri]605Johann Bernhard Spyri (1821-1884), Stadtschreiber von Zürich und Ehemann von Johanna Spyri; vgl. Regine Schindler, Spurensuche, 349 und Stammbaum, 341; HBLS VI, 484.schliessen gehört einen Ausflug nach Kappel606Gemeinde im Kanton Zürich zwischen Albis und Zugersee, vor allem Zisterzienserkloster mit grosser Kirche.schliessen u. dem Zwinglidenkmal. Wir gingen auch mit, es war ein sehr hübscher Ausflug u. zugleich recht interessant. Die Kirche in Kappel war von einem Kloster der Cisterzienser gebaut im 13 Jahrhundert ganz gothischer Stil, u. mit Begräbniskapellen verschiedener hervorragender Familien u. schönen Glasmalereien, die sich mehr durch Lebhaftigkeit der Farben, als durch Schönheit der Figuren auszeichnen. Der Präsident der Gesellschaft, Herr Junker Meier von Knonau,607Gerold Meyer von Knonau (1843-1931), stammte aus alter Zürcher Familie. Geschichtsstudium in Zürich, Bonn, Berlin und Göttingen, von 1872 bis 1920 ordentlicher Professor für Geschichte an der Universität Zürich. Von 1871 bis 1921 präsidierte er die Antiquarische Gesellschaft Zürich; HBLS V, 107; HLS VIII, 550.schliessen Prof. der Geschichte, gab dann in der Kirche eine kurze Erklärung von Allem. Von da gings auf das Schlachtfeld des Kappelerkriegs, wo Zwingli ein grosser Stein mit folgender Inschrift, wenige Schritte von dem Baum entfernt aufgestellt [wurde], an dem er getödtet wurde. Die Inschrift heißt nach seinen letzten Worten: Den Leib könnt ihr mir tödten, die Seele aber nicht. So sprach Zwingli auf dieser Stätte, für den Glauben u. die Wahrheit u. für die Freiheit den Heldentodt sterbend. 31. Okt. 1531.608In Kappel starb am 11. Oktober 1531 auf dem Schlachtfeld der Reformator Ulrich Zwingli - Hedwig gibt also ein unkorrektes Todesdatum an.schliessen
Auch da gab Herr Prof. Meier609Gerold Meyer von Knonau (1843-1931), stammte aus alter Zürcher Familie. Geschichtsstudium in Zürich, Bonn, Berlin und Göttingen, von 1872 bis 1920 ordentlicher Professor für Geschichte an der Universität Zürich. Von 1871 bis 1921 präsidierte er die Antiquarische Gesellschaft Zürich; HBLS V, 107; HLS VIII, 550.schliessen eine kurze Beschreibung über den Verlauf der Schlacht. Du kannst Dir denken, daß mich das sehr interessierte. Frau Sp[yri] sagte mir daß sie als 6jähriges Kind mit ihrer Mama,610Meta Heusser-Schweizer (1797-1876), Arztfrau und Schriftstellerin, Mutter von Johanna Spyri; vgl. Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer.schliessen der Einweihung des Denkmals beigewohnt habe,611Johanna Spyri war zum Zeitpunkt der Einweihung des Zwingli-Denkmals (11. Oktober 1838) nicht sechs, sondern schon elf Jahre alt. Das Denkmal wurde nicht zu Zwinglis dreihundertstem Todestag, dem 11. Oktober 1831, errichtet, sondern sieben Jahre später.schliessen worüber auch ein Gedicht [4] von Frau Dr. Heusser612Meta Heusser-Schweizer (1797-1876), Arztfrau und Schriftstellerin, Mutter von Johanna Spyri; vgl. Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer.schliessen in der Sammlung ist.613Gemeint ist das Gedicht "Zur Einweihung des Zwingli-Denkmals" von Meta Heusser-Schweizer (1838). Es erschien erstmals in den "Liedern einer Verborgenen" 1858, S. 189 (in den "Gedichten" von 1898, S. 199). Die "Sammlung", von welcher Hedwig spricht, ist vermutlich Meta Heussers Gedichtband von 1877, welchen sich Hedwig zu Weihnachten 1876 wünscht (s. HK13); Werkverzeichnis in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, 357f.schliessen Frau Sp[yri] hat soeben wieder eine Kindergeschichte, die auf Helgoland spielt,614Die von Hedwig erwähnte Kindergeschichte, welche auf Helgoland spielt, ist vermutlich (eine Vorform von) "Katjoeken", eine Geschichte von Johanna Spyri, welche aus fragwürdigen Gründen in Bremen verloren ging und nie gedruckt wurde; vgl. Regine Schindler, Spurensuche, 208 ff.schliessen umgearbeitet die ich im Manuskript lesen darf. Wahrscheinlich wird diese mit mehreren frühern gedruckt werden.
Ich war ganz erstaunt über alle die Reisepläne die plötzlich entworfen wurden. Es ist nur schade, daß dann alle fort sind wenn ich in die Ferien komme. Kommt Henriette615Henriette Kappeler (1856-1916), älteste Schwester von Hedwig, heiratet am 10. April 1880 Theophil Studer, Professor für Zoologie in Bern; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen über Zürich wenn sie nach Ziegelbrücke geht, dann soll sie mir doch den Zug angeben, damit ich sie sehen kann. Sage Ernestine,616Ernestine Kappeler (1857-1897), ältere Schwester Hedwigs. Ab 1883 verheiratet mit Friedrich Benedikt Brügger, Bürger von Churwalden. Sie starb am 14. Oktober 1897 an einer Bronchitis mit Lungenentzündung; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen daß H[err] Ditthmer617Hans Heinrich Dithmer (1856-1935), Sohn von Guts- und Fabrikbesitzer Georg Friedrich Dithmer in Klostermosegaard bei Helsingör, besuchte von 1874 bis 1878 die Ingenieurschule am Polytechnikum in Zürich und beteiligte sich anschliessend am Bau der Gotthardbahn; Dossier Hans Heinrich Dithmer, ETH Zürich; Programme der eidgen. Polytechnischen Schule; Mitteilung Telse Jensen-Gaard, Enkelin von Hans Heinrich Dithmer, Virum, Dänemark, 24.5.2009.schliessen ganz empört war daß man ihm nicht sogleich berichtet habe, als sie mich besuchte, u. sie solle doch wieder einmal herkommen, damit er sie wieder sehen könne. Denke sein Bruder618Hans Heinrich Dithmer hatte 5 Brüder und eine Schwester: Heinrich August (geb. 1852, starb im Alter von einem Monat), August (1854-1935) wurde Bauer in Schweden, Georg Friedrich (1858-1907) wurde Bauer in Schweden, Dänemark und Russland, ab 1897 in Südwest-Afrika, Sophus Waldemar (1859-1933) wurde Besitzer einer grossen Gärtnerei, Fritz (1861-1932) wurde Ingenieur und übernahm 1891 den Betrieb des Vaters und Marie (1863-1932), lebte in Klostermosegaard mit ihrem Bruder Fritz; Mitteilung Telse Jensen-Gaard, Enkelin von Hans Heinrich Dithmer, Virum, Dänemark, 24.5.2009.schliessen ist wahnsinnig geworden, so daß er seit dieser Nachricht ganz traurig ist u. schlecht aussieht. Wir gehen öfters mit den Herren auf den See, ich lerne rudern u. kann schon ein wenig, nur das ab u. anfahren ist nicht leicht.
Jetzt muß ich aber schliessen, damit Du den Brief heute noch bekommst. Vergiss also ja nicht mir Wäsche u. Zeugstiefel619Frauenstiefelchen aus Tuch; Idiotikon X, Sp. 1452.schliessen u. eine Badekappe so bald als möglich zu schicken. Viele herzliche Grüße an Alle, auch von Frau Sp[yri] die Dir noch schreiben will bevor Du verreist. Hoffentlich wirst Du eine recht gute Kur machen.620Im Brief EK13 vom 20. Juni 1877 an Hedwig nimmt Johanna Spyri offenbar Bezug auf diesen Kuraufenthalt von Aline Kappeler-Wüest.schliessen
Mit herzlichem Kuß Deiner dankbaren Tochter[4 am Rd.] Du mußt gewiss entschuldigen, daß ich so wenig schreibe, aber ich habe viel Aufgaben u. dann gehen wir eben abends bei so schönem Wetter spazieren. [1 unten] Willst so gut sein u. beiliegendes Kärtchen an Marie621Marie Luise Kappeler (geb. 1856), Hedwigs Cousine väterlicherseits, Tochter von Johann Rudolf Kappeler und Maria Katharina (Marie) Kappeler-Kessler. Heiratet am 3. Oktober 1877 Heinrich Adolf Bremi; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen schicken. [1 am Rd.] Darf ich meinen Sonnenschirm überziehen lassen, er ist ganz durchlöchert, ich [2 am Rd.] muß mich schämen, damit auszugehen.