Edition – drei Briefgruppen

Brief HK26 – 14.8.1877
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HK26 14.8.1877
Zürich, den 14 August 77
Meine lieben Eltern!

Wohlbehalten bin ich unter dem Schutze von Herr Jaenike622Konrad Gottlieb Wilhelm Jänike (geb. 1851), Commis und Leutnant der Infanterie. Sein Vater war Gastwirt im "Storchen" in Zürich. Ab 1878 verheiratet mit Hermine Labhardt, Hedwig Kappelers Cousine. Wohnhaft an der Selnaustrasse 20; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen hier angelangt.623Inzwischen waren Sommerferien.schliessen Stecke bereits wieder tief in Aufgaben u. Vergnügungen.

Letzten Mittwoch langte nämlich Herr Spyri junior624Diethelm Bernhard Spyri (1855-1884), einziger Sohn von Johann Bernhard Spyri und Johanna Spyri-Heusser. Studium der Rechte in Zürich, Leipzig (1875/76) und Göttingen (1877/78), während kurzer Zeit Tätigkeit als Sekretär der kaufmännischen Gesellschaft Zürich. Studium und Arbeit werden immer wieder durch Krankheit und Kuraufenthalte unterbrochen. Bernhard stirbt knapp 29jährig an Tuberkulose.schliessen von dessen Aussehen u. Befinden Emil625Emil Labhardt (geb. 1856), Hedwig Kappelers Cousin mütterlicherseits, Sohn von Gottlieb Labhardt und Natalie Labhardt-Wüest; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen berichtet haben wird, hier an.626Diethelm Bernhard Spyri, der bis August ein Semester lang in Göttingen studiert hatte, verbrachte den Sommer zuhause in Zürich, wo er eigentlich seine Studien abzuschliessen gedachte. Erst im Herbst entschied er sich, den Winter erneut in Göttingen zuzubringen (vgl. EK11 und 14, wo zweimal, Ende April und Anfang September 1877, Bernhards Abreise nach Göttingen beschrieben wird).schliessen Er ist außerordentlich fidel, wir leben ganz in den Tag hinein. Am Donnerstag gings schon spazieren, u. auch Samstag Nachmittag wieder da gingen wir zusammen mit Luise Grob627Wahrscheinlich Hanna Luise Grob (geb. 1851), Tochter von Heinrich Grob, Prorektor und Professor am Gymnasium, Mitglied des Grossen Stadtrats; BB 1879, 139.schliessen nach Küsnacht in die berühmte Sonne628Gasthaus in Küsnacht, welches erstmals in einer Urkunde von 1641 erwähnt wird.schliessen wo wir den beliebten Wampisbacher629"Wampisbach": Zürichdeutsch für "Wangensbach", Landhaus mit Weinbergen in Küsnacht, erbaut um 1600 von der Familie Werdmüller. Hier lebte Conrad Ferdinand Meyer 1876/77, bevor er das Haus in Kilchberg kaufte. "Wampisbach" wird im "Jürg Jenatsch" erwähnt; HKA X, 14; Gottlieb Binder, Altzürcherische Familiensitze am See, 127 - "Wampisbacher" ist in der "Sonne" der einheimische Wein.schliessen tranken. Am Sonntag gings wieder hinauf u. gestern war Knabenschießen.630Das "Knabenschiessen" wird als traditionelles Zürcher Jugendfest seit 1656 gefeiert. Es findet immer am zweiten Septemberwochenende statt, eine Woche vor dem Bettag. Bis 1847 auf dem Schützenplatz (heute Hauptbahnhof), von 1848 bis 1892 auf dem Sihlhölzli (damals ausserhalb der Stadt, heute Rasensportanlage). Seit 1899, nach jahrelangem Unterbruch, beim Albisgüetli, wo ein neuer Schiessplatz eingerichtet wurde; Samuel Zurlinden, Hundert Jahre Stadt Zürich, Bd. 2, 264.schliessen Ein grosses Fest der Schuljugend, an allen Schulen wurde frei gegeben u. sogar den höheren Töchtern. Am Morgen lud mich Herr Spyri631Diethelm Bernhard Spyri (1855-1884), einziger Sohn von Johann Bernhard Spyri und Johanna Spyri-Heusser. Studium der Rechte in Zürich, Leipzig (1875/76) und Göttingen (1877/78), während kurzer Zeit Tätigkeit als Sekretär der kaufmännischen Gesellschaft Zürich. Studium und Arbeit werden immer wieder durch Krankheit und Kuraufenthalte unterbrochen. Bernhard stirbt knapp 29jährig an Tuberkulose. Evtl. ist hier auch der Vater Johann Bernhard Spyri gemeint.schliessen ein mit ihm in's [2] Sihlhölzli,632Kleines Wäldchen mit Schiess- und Festplatz zwischen Sihl und Sihlkanal, im Westen der Stadt.schliessen dem Festplatz zu gehen u. dort dann die übliche Knabenschießenbratwurst zu genießen, die wirklich sehr gut war. Dann ging's nach dem Schiessstand wo alle Knaben von [sic!] 6ten Jahr an schießen durften. Dann waren für diejenigen die mit Hülfe des Büchsenmachers od. mit besonderem Glück gut getroffen eine Menge Preise ausgestellt. Es ist nur schade daß nicht Otto633Otto Kappeler (1869-1935), Hedwigs jüngster Bruder. Ab 1901 verheiratet mit Marie Pauline Stierlin (1877-1954); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen dabei sein konnte ich hätte das komische Gesicht sehen mögen wenn er ein so großes Gewehr hätte abfeuern sollen. Bis Mittag war das Schiessen vorbei u. nun lustwandelte die ganze Bevölkerung nach den verschiedenen Vergnügungsorten in u. außer der Stadt. Wir gingen auf den Züriberg,634Hügelrücken oberhalb der Stadt Zürich. Heute beliebtes Wohngebiet.schliessen in ein obskures Lokal von Oberst Spyri635Georg Jakob Spyri (geb. 1827), Halbbruder von Johann Bernhard und Johann Ludwig Spyri, gewesener Oberst im eidgenössischen Generalstab. Bruder von Mädeli Spyri; vgl. Regine Schindler, Spurensuche, 91 ff.schliessen ausgesucht, in den sog[enannten] Suseberg,636Der obere Teil von Fluntern (am Zürichberg), das bis 1893 nicht zur Stadt Zürich gehörte, war ein beliebtes Ausflugsziel. Noch heute gibt es einen Aussichtspunkt "Suseberg". Damals gab es ein Restaurant Susenberg, an der Susenbergstrasse 131.schliessen erstens mußte man da sich selbst Tisch u. Stühle an Ort u. Stelle schleppen, dann setzte man sich zu ein wenig Wein u. Küchli,637"Chüechli": schweizerdeutsch für Buttergebackenes aller Art.schliessen während auf allen Seiten Pistolen u. kleine Kanonen abgefeuert [wurden], daß ich bald glaubte mein Trommelfell sei gesprungen. [3] Schon um 7 Uhr waren wir wieder im Stadthaus638Das Stadthaus, in welchem sich die Amtswohnung des Stadtschreibers Johann Bernhard Spyri befand, stand am ehemaligen Kratzplatz, wo heute die Börsenstrasse in den Stadthausquai einmündet. Es wurde im Zuge der Umgestaltung des Quartiers 1886 abgerissen.schliessen u. gingen von da in die Tonhalle,639Die alte Tonhalle in Zürich stand auf dem heutigen Sechseläutenplatz schräg gegenüber dem alten Stadthaus am anderen Seeufer und war 1839 als Kornhaus erbaut worden, wurde aber von 1860 an als Synagoge, Fechtboden, Holzlager u. ä. benutzt. Anlässlich des Eidgenössischen Musikfestes 1867 wurde das Kornhaus umgebaut und diente bis zur Eröffnung der neuen Tonhalle im Oktober 1895 als Konzertsaal. 1896 wurde das ehemalige Kornhaus abgerissen; Samuel Zurlinden, Hundert Jahre Stadt Zürich, Bd. 2, 100f.; ausserdem Walter Baumann et al., Zürich zurückgeblättert, 176 zu Abb. 38 und 179 zu Abb. 57; Jürg Fierz, Zürich - wer kennt sich da noch aus?, 99.schliessen wo noch Feuerwerk sein sollte. Da war's ungeheuer angenehm, so ruhig dazu [sic!] sitzen, den See vom bengalischen Feuer beleuchtet zu sehen u. dazu die Musik. Die Tonhalle ist unbedingt der hübscheste Ort hier. Doch l[ieber] Vater mußt Du keine Angst haben, daß ich jetzt nicht mehr ohne Vergnügungen sein könne u. am Ende hier ganz verwöhnt werde, im Gegenteil ich bin recht froh wenn wir wieder einige Tage ruhig zu Hause sitzen bleiben u. arbeiten, also kannst Du ganz ruhig bleiben. Mit dem Coupon von Dir bin ich einmal auf den Uetliberg640Hausberg Zürichs (870 m ü. M.). 1875 wurde die Uetlibergbahn gebaut.schliessen gefahren mit Frau Spyri, man bekommt nämlich für ein Coupon 2 Retourbillets.641Hedwigs Vater Oberst Hermann Kappeler war evtl. Aktionär der Uetlibergbahn und erhielt als solcher Coupons, die gegen Fahrkarten eingetauscht werden konnten.schliessen Zufälliger Weise trafen wir eben mit Ditthmer642Hans Heinrich Dithmer (1856-1935), Sohn von Guts- und Fabrikbesitzer Georg Friedrich Dithmer in Klostermosegaard bei Helsingör, besuchte von 1874 bis 1878 die Ingenieurschule am Polytechnikum in Zürich und beteiligte sich anschliessend am Bau der Gotthardbahn; Dossier Hans Heinrich Dithmer, ETH Zürich; Programme der eidgen. Polytechnischen Schule; Mitteilung Telse Jensen-Gaard, Enkelin von Hans Heinrich Dithmer, Virum, Dänemark, 24.5.2009.schliessen zusammen der seinen Papa u. Bruder u. die Dame643Hans Heinrich Dithmers Vater Georg Friedrich Dithmer und einer seiner vier Brüder waren damals zu Besuch in Zürich. Um wen es sich bei der Dame handelt bleibt ungeklärt. Johanna Spyri hatte Georg Friedrich Dithmer im Sommer 1876 in Dänemark besucht und damals angekündigt, dass er sie "im folgenden Sommer" in Zürich besuchen wolle (s. EK3).schliessen die bei ihnen ist hinauf begleitete. So verbrachten wir noch einen recht angenehmen Nachmittag zusammen, der alte Ditthmer644Georg Friedrich Dithmer (1822-1894), Vater von Hans Heinrich Dithmer, Guts- und Fabrikbesitzer in Klostermosegaard bei Helsingör; Mitteilung Telse Jensen-Gaard, Enkelin von Hans Heinrich Dithmer, Virum, Dänemark, 24.5.2009.schliessen ist ein ausserordentlich liebenswürdiger Mann. Jetzt ist er mit seinen Söhnen,645Hans Heinrich Dithmer und einer seiner vier Brüder, Söhne von Georg Friedrich Dithmer, Guts- und Fabrikbesitzer in Klostermosegaard bei Helsingör.schliessen von denen der ältere noch eine Erholung von seiner Unterleibsentzündung nöthig hat nach dem Seelisberg646Kurort oberhalb des Vierwaldstättersees im Kanton Uri.schliessen abgereist.

[4] Was macht denn die Ernestine647Ernestine Kappeler (1857-1897), ältere Schwester Hedwigs. Ab 1883 verheiratet mit Friedrich Benedikt Brügger, Bürger von Churwalden. Sie starb am 14. Oktober 1897 an einer Bronchitis mit Lungenentzündung; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen im Engadin? Frau Spyri sagt, daß sie vielleicht mit Fräulein Rossier nach Hause reisen könnte, wenn diese noch keine andere Reisegesellschaft hat. Fr. Spyri hat ihr geschrieben u. erwartet nun die Antwort. Das wäre eine sehr liebenswürdige Dame, wo Ernestine wieder einmal französisch sprechen könnte. Sie würde am 23. d[es] M[onats] von St. Moritz verreisen. Fr. Sp[yri] lud Ernestine sogleich ein auf dem Rückweg hier zu übernachten, da es doch nicht in einem Tag ginge. Letzten Samstag wurde ich auch so ordentlich überrascht von einer Verlobungsanzeige von E. Grob.648Hedwig Kappelers Cousin Carl Emil Grob (1845-1921), Sohn von Hedwigs Tante väterlicherseits, Louisa Elisabetha Grob-Kappeler, und Johann Jacob Grob, Arzt aus Lichtensteig, heiratete am 23. Mai 1878 Bertha Halter; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen Es scheint eine ganze Verlobungswuth in dieser Familie eingerissen zu haben.649Hedwig Kappeler nimmt mit ihrer Bemerkung Bezug auf die bereits erwähnte Verlobung ihrer Cousine Marie Luise Kappeler (geb. 1856) mit Heinrich Adolf Bremi (s. HK25) und evtl. auch auf die Verlobung Hermine Labhardts (vgl. Verlobungsanzeige in HK27).schliessen Wer ist denn diese Fräulein Halter?650Bertha Halter, Braut von Hedwig Kappelers Cousin väterlicherseits, Carl Emil Grob; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen Bitte l[iebe] Mutter schreibe mir noch etwas von ihr.

Hoffentlich seid Ihr alle recht u. vergnügt in Eurem Frauenfeld beisammen.

Grüßet mir Alle recht herzlich u. seid 1000 mal gegrüßt u. geküßt von Eurem
dankbaren Kinde Hedwig

[4 unten] Natürlich auch viele Grüße ins Bernerhaus,651Spätbarockes Herrschaftshaus in Frauenfeld, im 18. Jahrhundert Quartier der Tagsatzungsgesandten aus Bern, heute Bankplatz 5; Beat Gnädinger/Georg Spuhler, Frauenfeld, 267-270. - Wohnsitz der Grosseltern mütterlicherseits, Johann Jakob Wüest (1792-1885) und Maria Wüest-Merkle (1795-1887) sowie von Hedwigs unverheiratetem Onkel Jakob Hermann Wüest (1822-1919) und der ledig gebliebenen Tante Anna Friederike Wüest (1821-1920).schliessen an Lisbeth,652Lisbeth, im Brief HK1 "Lisabeth", wird in zehn Briefen von Hedwig gegrüsst. Sie ist offensichtlich die Hausangestellte bei Familie Kappeler-Wüest in Frauenfeld, die aber sehr familiär behandelt wird u. z.B. auch ein Foto von Hedwig bekommt (vgl. HK12 und 13). Gemäss HK35 wohnt sie im Dachstock von Hedwigs Elternhaus.schliessen Jungfer Fehr653Jungfer Fehr wird viermal gemeinsam mit Lisbeth gegrüsst, sie gehört offenbar auch zum Haushalt der Familie Kappeler-Wüest, evtl. als Büglerin oder Hausdame.schliessen etc. u. Herr Kellers,654Emil Keller (1838-1900) und Aline Keller-Kappeler (1846-1915), Hedwigs Halbschwester sowie deren zwei Töchter Alma (geb. 1867) und Clara (geb. 1872), welche auch in Frauenfeld wohnen; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen Alinens655Aline Keller-Kappeler (1846-1915), Halbschwester Hedwigs, verheiratet mit Musikdirektor Emil Keller; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen Album habe ich abgeholt, sie kann es haben wenn sie will. [4 am Rd.] Noch viele Grüße von Frau Spyri. Herr Sp[yri]656Johann Bernhard Spyri (1821-1884), Stadtschreiber von Zürich und Ehemann von Johanna Spyri; vgl. Regine Schindler, Spurensuche, 349 und Stammbaum, 341; HBLS VI, 484.schliessen ist abwesend, sonst würde er natürlich auch noch Grüße senden. [2 am Rd.] Morgen wollen wir zusammen musizieren, ich will sehen wie ich durchkomme.