Edition – drei Briefgruppen

Brief HK1 – 3./5.5.1876
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HK1 3./5.5.1876
Zürich, den 3. Mai 18761Hedwig Kappeler aus Frauenfeld ist von Mai 1876 bis Frühjahr 1878 Schülerin an der Höheren Töchterschule in Zürich und Pflegetochter bei der Familie Spyri im Stadthaus.schliessen
Meine l[ieben] Eltern!

Soeben habe ich meine Übungen auf dem Violin beendet, die beinahe 1½ Stunden dauerten, womit Ihr, hoffe ich, zufrieden seid. Ich will Euch nun kurz sagen was ich Alles getrieben habe, seit die l[iebe] Mutter2Aline Kappeler-Wüest (1829-1923), Hedwigs Mutter; vgl. Stammbäume Wüest und Kappeler, Materialien.schliessen verreist ist. Vom Bahnhof3Der Zürcher Hauptbahnhof war im Herbst 1871 eingeweiht worden. Das neue, heutige Gebäude ersetzte den ersten Bahnhof von 1847.schliessen ging ich mit Frau Spyri4Unterstreichung mit Bleistift wahrscheinlich nachträglich durch die Familie Kappeler.schliessen nach dem Selnau5Quartier von Zürich, ca. 1 km südlich des Hauptbahnhofs, zwischen Schanzengraben und linksufriger Zürichseebahn. Gehörte seit 1853 zur Stadt, befand sich aber ausserhalb der alten Stadtbefestigung. Kommt bei Johanna Spyri immer wieder als Wohnort ihrer Schwester Anna Ulrich-Heusser, genannt "Netti", vor.schliessen wo ich mit ihr bei Frau Scholder6Henriette Scholder-Develay (1824-1901), Jugendfreundin von Johanna Spyri, verheiratet mit Hermann Scholder (1828-1901), Bankier. Die Familie Develay stammte aus Yverdon und war Johanna Spyris Gastfamilie während ihres Welschlandjahrs. Frau Scholder wohnte 1876 an der Gerechtigkeitsgasse 17 (im Selnau), dann an der Bahnhofstrasse 48/Augustinergasse 29, im selben Haus, in dem Johanna Spyri nach dem Auszug aus dem Stadthaus 1885/86 wohnte.schliessen einen Besuch machte. Sie ist nämlich eine Waadtländerin u. hat immer französisch gesprochen, sie habe auch eine artige Tochter,7Elisabeth Konstanze Scholder (geb. 1859), Tochter von Henriette Scholder-Develay und Hermann Scholder, lebt später als Frau Dr. Morel in Zürich-Enge. Henriette Scholder-Develay war Johanna Spyris Freundin aus deren Welschlandzeit, die Familie Develay stammte aus Yverdon und war damals die Gastfamilie der jungen Johanna Heusser.schliessen die aber jetzt noch in Genf ist u. erst im Sommer zurückkommen wird. Mit derselben könnte ich dann Bekanntschaft machen u. zugleich durch französisch Reden mit ihr, einen Profit daraus ziehen. [2] Am Sonntag Morgen besuchten wir die französische Kirche8Als französische Kirche wurde ab 1860 die Großmünsterkapelle gebraucht, erbaut 1858-1859 im neugotischen Stil. 1901 bezog die französische Gemeinde eine eigene neoromanische Kirche an der Hohen Promenade; ZhPfrB, 129.schliessen wo Herr Pf[arrer] Shacards9Hedwig Kappeler schreibt "Shacards" anstatt "Jaccard". Emile François Jaccard (1834-1904) war 1868-1898 Pfarrer der französischen Kirche in Zürich, Ehrenbürger von Zürich 1875; ZhPfrB, 129, 365; HBLS IV, 379.schliessen eine sehr schöne Predigt hielt, er spricht sehr deutlich u. hat einen warmen lebhaften Vortrag. Ich freue mich wirklich von nun an oft hingehen zu können. Nachmittags übte ich mich, wurde aber durch den Besuch der zwei Däninnen10Bei den zwei Däninnen handelt es sich wahrscheinlich um die adeligen Schwestern Sehested von Gut Broholm in Dänemark (vgl. auch HK5). Thyra (1840-1923), Historikerin und Schriftstellerin, und Hilda Sehested (1858-1936), Komponistin, waren die Töchter des Gutsbesitzers und Archäologen Niels Frederik Bernhard Sehested (1813-1882); DBL XIII, 312, 319f., 327. - Dieser war der Halbbruder von Helga Kjaers Vater Erik Wilhelm Kjaer. Helga Josephine Frederikke Kjaer, später Feddersen (1852-1936) aus Kopenhagen war eine Freundin Johanna Spyris, heiratete 1890 Dr. Berend Wilhelm Feddersen (1832-1918), Physiker und Privatgelehrter in Leipzig; Martin Henke, Flinke Funken, 9, 45ff.; NDB V, 40f.). - Johanna Spyri besuchte Helga sowie die "Fräulein von S." im Sommer 1876 in Dänemark (vgl. EK3). Die Italienreise mit den Damen von Sehested erwähnt Johanna Spyri in einem Brief an Bertha von Orelli vom 10. September 1876, vgl. auch JS24.schliessen gestört, mit welchen Frau Spyri letzten Sommer in Italien war, die nun auf der Rückreise sich einige Tage hier aufhielten. Diese blieben dann bis 3 Uhr. Dann machten sie eine kleine Spazierfahrt auf dem Dampfschiff, ich aber zog vor zu Herrn Ulrichs11Friedrich Salomon Ulrich (1821-1899) und Anna Elisabetha Dorothea (Netti) Ulrich-Heusser (1825-1907), älteste Schwester von Johanna Spyri, sowie deren vier Kinder Franz Theodor (1855-1910), Paul Gustav (1856-1935), Karl Ferdinand (1859-1918) und Anna Luise (1866-1920), wohnhaft Brandschenkestrasse 1. Johanna Spyri besuchte sie oft im Selnau und hatte vor allem zu ihrer Nichte Anna eine besonders freundschaftliche Beziehung.schliessen zu gehen wo ich mich den ganzen Abend bis 10 Uhr amüsierte. Am Montag Morgen übte ich mich u. las aus dem Fiesco,12Friedrich Schiller, Die Verschwörung des Fiesco zu Genua, Uraufführung 1783.schliessen während Ernestine13Ernestine Kappeler (1857-1897), ältere Schwester Hedwigs. Ab 1883 verheiratet mit Friedrich Benedikt Brügger, Bürger von Churwalden. Sie starb am 14. Oktober 1897 an einer Bronchitis mit Lungenentzündung; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen kam und sagte, daß Herr Kappeler14Vermutlich Johann Jakob Kappeler, alt Müller (1808-1882), Cousin von Oberst Hermann Kappelers erster Frau Henriette. Wohnhaft Tiefenhöfe 8/Thalgasse 29, in der Nähe des Stadthauses; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien.schliessen in der Nacht starke Hustenanfälle gehabt habe u. nun zu Hause bleiben müsse.15Hedwigs Schwester Ernestine Kappeler hält sich zu diesem Zeitpunkt offenbar auch in Zürich auf, sie wohnt vermutlich bei Johann Jakob Kappeler, alt Müller (1808-1882), Cousin von Oberst Hermann Kappelers erster Frau Henriette, wohnhaft Tiefenhöfe 8/Thalgasse 29, in der Nähe des Stadthauses.schliessen Dann kamen die Däninnen, mit denen Frau Spyri einen Ausflug auf den Uetliberg16Zürichs Hausberg (870 m ü. M.). 1875 wurde die Uetlibergbahn gebaut.schliessen machte, [3] während Herr Spyri17Johann Bernhard Spyri (1821-1884), Stadtschreiber von Zürich und Ehemann von Johanna Spyri; Regine Schindler, Spurensuche, 349 und Stammbaum, 341; HBLS VI, 484.schliessen und ich allein zu Mittag speisten, nachdem er nicht weniger als 11 Paare copuliert18In seiner Funktion als Stadtschreiber von Zürich (Leiter der städtischen Verwaltung) betreute Johann Bernhard Spyri auch das Zivilstandswesen der Stadt und nahm Ziviltrauungen vor.schliessen hatte. Am Nachmittag machte ich einen Besuch bei Herrn Kappeler19Wohl Johann Jakob Kappeler, alt Müller (1808-1882), Cousin von Oberst Hermann Kappelers erster Frau Henriette. Wohnhaft Tiefenhöfe 8/Thalgasse 29, in der Nähe des Stadthauses; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien.schliessen um zu sehen wie es ihm gehe, worauf ich von 6-7 Chorgesang20Hedwig Kappeler besuchte die damals auf Initiative von Friedrich Hegar neugegründete Musikschule Zürich im Fraumünsteramt, nahe dem Stadthaus. Der Chorgesang und theoretische Elementarunterricht war für alle Schüler der Musikschule obligatorisch; Programm der Musikschule Zürich 1876.schliessen bei H[errn] Attenhofer21Karl Attenhofer (1837-1914), Musik- und Gesangslehrer, Organist, Chorleiter und Komponist. Seit 1875 Lehrer an der Höheren Töchterschule für Gesang und Musiktheorie und seit 1876 Lehrer für Chorgesang und die Orchesterklasse an der Musikschule Zürich. Nach dem Eidgenössischen Sängerfest von 1870 auch Musikdirektor der Universität Zürich, 1896 durch Friedrich Hegar Berufung an die Zürcher Musikschule, später Konservatorium, als zweiter Direktor; Salomon Stadler, Rückblick auf die Geschichte der höheren Töchterschule, 43; HBLS I, 464.schliessen hatte, das Lokal ist gar nicht weit, aber dafür die Zeit unangenehm. Die Stunde war schrecklich langweilig. Wir mußten immer die gleichen Übungen, die er auf die Tafel schrieb, singen. Dienstag morgens um 7 Uhr mußten sich alle Schülerinnen der H[öheren] Töchterschule u. des Seminars22Seit 1876 wurde parallel zur 1875 gegründeten Höheren Töchterschule ein Lehrerinnenseminar geführt; 100 Jahre Töchterschule, 102; Salomon Stadler, Rückblick auf die Geschichte der höheren Töchterschule, 16-18.schliessen im Singsaal des Schulgebäudes23Die Höhere Töchterschule war seit 1875 im Grossmünster-Schulhaus, heutige Kirchgasse 9, untergebracht; 100 Jahre Töchterschule, 90.schliessen einfinden, wo dann Herr Rektor Zehnder24Ferdinand Zehender (1829-1885), Theologe, Gründer und Leiter des Vereins für schweizerisches Mädchenschulwesen. 1865-1875 Prorektor der Mädchenschule in Winterthur, seit 1875 Rektor der Höheren Töchterschule Zürich, unterrichtete Deutsch, Geschichte, Religion und Pädagogik; Salomon Stadler, Rückblick auf die Geschichte der höheren Töchterschule, 15f.; 100 Jahre Töchterschule, 107; HBLS VII, 631.schliessen mit einer Rede die Schule eröffnete. Um 8 Uhr begannen schon die Stunden u. für mich Deutsch Literatur, bei H[errn] Zehnder. Er gefällt mir sehr gut, u. drückt sich in Allem kurz und klar aus. Am Nachmittag hatte ich Kunstgeschichte bei H[errn] Prof. Kinkel,25Johann Gottfried Kinkel (1815-1882), Dr. phil., Theologe, Dichter, Politiker und Kunsthistoriker. Seit 1866 Professor für Archäologie und Kunstgeschichte am Polytechnikum in Zürich, unterrichtete seit 1875 auch Kunstgeschichte an der Höheren Töchterschule. Später ausserdem Vorsteher der allgemeinen philosophischen und staatswissenschaftlichen Abteilung des Polytechnikums; Salomon Stadler, Rückblick auf die Geschichte der höheren Töchterschule, 42; HLS VII, 219; HBLS IV, 492; NDB XI, 623f.schliessen auch dieser gefiel mir im Ganzen gut, nur als [er] meinen Namen las, fragte er mich ob ich nicht eine Verwandte26Die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der Familie Kappeler sind insofern komplex, als Hedwigs Vater Oberst Hermann Kappeler zweimal verheiratet war. Die Verwandten der ersten, früh verstorbenen Frau Henriette, waren offenbar für die Kinder aus zweiter Ehe von unterschiedlicher Wichtigkeit. Die Familien um die Geschwister von Henriette Kappeler zählten sie zur Verwandtschaft, während die weiter entfernten Verwandten von Henriette Kappeler nicht mehr als solche empfunden wurden. So bezeichnet Hedwig beispielsweise Ida Kappeler-Aepli, die Frau des Bruders von Henriette Kappeler, ohne weiteres als "Tante Ida" (vgl. HK15) und zur Familie Ehrensperger, zum Sohn der Schwester von Henriette Kappeler, geht sie für längere Zeit nach England. Die Familie von Schulratspräsident Johann Karl Kappeler sowie Johann Jakob Kappeler, alt Müller, beide Cousins von Henriette Kappeler, scheinen dagegen für Hedwig nicht mehr in den Kreis der Verwandtschaft zu gehören; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien.schliessen v. Marie Kappeler27Maria Lina Kappeler (1855-1917), Tochter von Johann Karl Kappeler (1816-1888), welcher seit 1857 Präsident des eidgenössischen Schulrats und damit Vorsteher des Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich war. Sie besuchte damals wie Hedwig die Höhere Töchterschule, war aber bereits im zweiten Jahr. Verwandte von Oberst Hermann Kappelers erster Frau Henriette; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien.schliessen (Präsident) sei, als ich "Nein" sagte, nahm er seine Lorniette28Gemeint ist die Lorgnette, eine bügellose Brille, welche an einem Halter vor die Augen gehalten wurde.schliessen u. sagte "jetzt muß [4] ich sie doch einmal anseh'n", während er mich betrachtete. Von 4-5 hatte ich Violinstunde, welche wegen H[errn] Kahls29Joseph Oskar Kahl (geb. 1843), Konzertmeister und Lehrer an der damals neugegründeten Musikschule Zürich. Kahl ist Hedwigs Geigenlehrer in Zürich. Er ist verheiratet mit Ida Kempin, einer Schwester von Walter Kempin-Spyri und somit Schwägerin von Dr. Emilie Kempin-Spyri, der ersten Juristin der Schweiz, Nichte von Johann Bernhard Spyri. Wohnhaft Zeltweg 27; BB 1879, 219; Zürcher Adressbuch 1877.schliessen Unwohlsein von H[errn] Delpin30Victor Delpy, Musiker, Lehrer an der Musikschule. Wohnhaft an der Festgasse 21; Zürcher Adressbuch 1877.schliessen gegeben wurde. Heute mußte ich um 11 Uhr in die Englischstunde z. Hr. Baron,31Hedwig schreibt "Baron" statt "Barron". G. William Barron (geb. 1841) von London ist von 1875 bis 1888 Lehrer für Englisch an der Höheren Töchterschule in Zürich; Salomon Stadler, Rückblick auf die Geschichte der höheren Töchterschule, 42; BB 1875, Niedergelassene, 19.schliessen der ein dicker großer Engländer ist, aber hübsch Englisch spricht. Nachmittags hatte ich dann Französisch v. 2-3 bei H[errn] Bonnard,32Hedwig schreibt "Bonnard" für "Bornand". Der Waadtländer Theophil Bornand (geb. 1848) ist von 1875 bis 1877 Lehrer für Französisch an der Höheren Töchterschule; Salomon Stadler, Rückblick auf die Geschichte der höheren Töchterschule, S. 42; BB 1875, Niedergelassene, 45.schliessen der ein kleines, zappliges junges Männchen ist, aber jedenfalls gute Stunden gibt. Freitag abend den 5. Mai. Ich kann leider erst jetzt den Brief beenden, da ich Aufgaben zu machen hatte, u. gestern abend in der Musikschule33Hedwig Kappeler besuchte die damals auf Initiative von Friedrich Hegar neugegründete Musikschule Zürich im Fraumünsteramt, nahe dem Stadthaus. Die alle vierzehn Tage stattfindende Unterrichtsstunde in "Aesthetik und Geschichte der Musik" war für alle Schüler der Musikschule ab 16 Jahren obligatorisch; Programm der Musikschule Zürich 1876.schliessen Aestäthik u. Geschichte der Musik besuchte, welche von Organist Weber34Gustav Weber (1845-1887), Komponist, Musikdirektor und Organist an der St. Peterkirche und ab 1876 am Grossmünster in Zürich; Schweizer Musikbuch, Bd. 2, 210f.; HBLS VII, 443.schliessen gelesen wurde, was wirklich sehr interessant ist, aber an schönen Sommerabenden eine ungeschickte Zeit. Gestern war auch die erste Italienischstunde bei Fräulein Heim,35Sophie Heim (1847-1931), erste weibliche Lehrkraft an der Höheren Töchterschule. Sie unterrichtete Italienisch und galt als "pädagogische Pionierin". Sie hatte in Italien studiert und war eine hervorragende Italien-Kennerin. Ihre Italien-Begeisterung verband sie mit Johanna Spyri. Sophie Heim publizierte mehrere Lehrbücher, die viele Auflagen erlebten, das wichtigste war ihr "Elementarbuch der italienischen Sprache". Aus gesundheitlichen Gründen trat sie als Lehrerin um die Jahrhundertwende zurück; Einer pädagogischen Pionierin, in: Schweizer Frauenblatt, 4. September 1931. - Schwester von Prof. Albert Heim, Schwägerin von Dr. Marie Heim-Vögtlin. Ihre Mutter war Sophie Heim-Fries, eine Schwester der Malerin Anna (Netti) Fries; vgl. Stammbaum Wirz, Fries, Heim in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage. - Der Grossvater, Landschreiber Fries, war 1826 von Dr. Heusser auf dem Hirzel geheilt worden; vgl. Meta Heusser-Schweizer, Hauschronik, 94f. - Wohnhaft Zeltweg 16, später Klosbachstr. 119.schliessen (die ist auch so klein) die ich aber vorher schon zweimal bei Fr. Spyri sah, am Nachmittag hatte ich dann wieder Englisch. Heute hatte ich von 8-10 Deutsche Literatur und Geschichte, v. 10-11 eine Stunde frei in der ich mich dann im Garderobe-Zimmer auf das Italienisch von 11-12 vorbereitete, aber fast erfror. Heute Nachmittag hatte ich v. 2-3 Französisch u. [5] Kunstgeschichte, dann ging ich noch schnell zu Ernestine36Ernestine Kappeler (1857-1897), ältere Schwester Hedwigs. Ab 1883 verheiratet mit Friedrich Benedikt Brügger, Bürger von Churwalden. Sie starb am 14. Oktober 1897 an einer Bronchitis mit Lungenentzündung; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen übte mich noch ein wenig u. ging um 6 Uhr in die Violinstunde, welche Herr Kahl37Joseph Oskar Kahl (geb. 1843), Konzertmeister und Lehrer an der damals neugegründeten Musikschule Zürich. Kahl ist Hedwigs Geigenlehrer in Zürich. Er ist verheiratet mit Ida Kempin, einer Schwester von Walter Kempin-Spyri und somit Schwägerin von Dr. Emilie Kempin-Spyri, der ersten Juristin der Schweiz, Nichte von Johann Bernhard Spyri. Wohnhaft Zeltweg 27; BB 1879, 219; Zürcher Adressbuch 1877.schliessen wieder gab und mir sagte, daß ich Dont's 20 Übungen38Jakob Dont (1815-1888), österreichischer Violinist, Pädagoge und Komponist. Verfasser von Geigenliteratur, welche bis heute von Bedeutung ist; Hedwig spricht hier vermutlich von den 20 fortschreitenden Übungen in Dont's "Gradus ad Parnassum", op. 38, für zwei Violinen; Riemann Musik-Lexikon I, 414.schliessen haben müsse u. überhaupt muß ich viele u. theure Bücher kaufen u. wäre deshalb froh wenn ich einmal alles habe, ich könnte es auch bald zahlen, damit die Sache dann abgethan wäre, besonders da ich ja von so verschiedenen Orten die Sachen beziehen muß, da ich nicht alle Bücher in einem Laden bekomme. Morgen habe ich den ganzen Tag nur l Stunde was sehr angenehm ist, da kann ich dann noch recht üben u. alle übrigen Aufgaben der Woche machen. Damit ich den Sonntag ganz frei habe. Auf morgen hat Frau Spyri wieder die beiden Dänen39Bei den zwei Dänen handelt es sich wahrscheinlich um die adeligen Schwestern Sehested von Gut Broholm in Dänemark (vgl. auch HK5). Thyra (1840-1923), Historikerin und Schriftstellerin, und Hilda Sehested (1858-1936), Komponistin, waren die Töchter des Gutsbesitzers und Archäologen Niels Frederik Bernhard Sehested (1813-1882); DBL XIII, 312, 319f., 327. - Dieser war der Halbbruder von Helga Kjaers Vater Erik Wilhelm Kjaer. Helga Josephine Frederikke Kjaer, später Feddersen (1852-1936) aus Kopenhagen war eine Freundin Johanna Spyris, heiratete 1890 Dr. Berend Wilhelm Feddersen (1832-1918), Physiker und Privatgelehrter in Leipzig; Martin Henke, Flinke Funken, 9, 45ff.; NDB V, 40f.). - Johanna Spyri besuchte Helga sowie die "Fräulein von S." im Sommer 1876 in Dänemark (vgl. EK3). Die Italienreise mit den Damen von Sehested erwähnt Johanna Spyri in einem Brief an Bertha von Orelli vom 10. September 1876, vgl. auch JS24.schliessen u. beide Frl. Spyri40Zwei der damals noch unverheirateten Schwestern Spyri, Lina Elisabeth (geb. 1850), Maria Carolina (geb. 1854) und Anna Spyri (geb. 1856), Töchter von Pfarrer Johann Ludwig Spyri (1822-1895). Die zweite Tochter, Emilie (geb. 1853), ist bereits mit Walter Kempin verheiratet, die jüngste Tochter Fanny (geb. 1864), ist zu diesem Zeitpunkt erst 12 Jahre alt und wird daher wohl noch nicht als "Fräulein" bezeichnet.schliessen u. Ernestine41Ernestine Kappeler (1857-1897), ältere Schwester Hedwigs. Ab 1883 verheiratet mit Friedrich Benedikt Brügger, Bürger von Churwalden. Sie starb am 14. Oktober 1897 an einer Bronchitis mit Lungenentzündung; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen eingeladen zum Thee. Von Herrn Rost hörten wir daß er krank sei u. nun hat heute Abend Fr. Spyri ihn besucht. Ich hoffe l[ieber] Vater daß du zufrieden bist, wenn [ich] jetzt um halb oder um 6 Uhr aufstehe. Es wird mir zwar bei solch schrecklichem Wetter etwas schwer [6] aber wir trinken um 7 Uhr den Kaffee da muß ich doch fertig sein. Es gefällt mir immer sehr gut hier besonders der Abend, da trinken Fr. Spyri und ich allein den Thee, den ich schon ziemlich gern habe u. dann stricken wir od. ich mache noch einige Aufgaben u. lese dann aus dem englischen Buch das wir kaufen mußten für in die Schule "Missunderstood"42Florence Montgomery, Misunderstood, 1869. Offenbar wurde das Buch häufig im Englischunterricht gebraucht, es gibt verschiedene Ausgaben in Englisch zum Schulgebrauch in Deutschland.schliessen vor u. bevor ich ins Bett gehe lese ich dann immer noch ein Kapitel aus der franz. Bibel vor. Nun solltet Ihr einen kleinen Begriff haben von dem was ich alles thue u. treibe, aber dafür möchte auch ich gerne wissen was zu Hause alles her u. zu geht, denn neugierig bin ich doch noch geblieben. Ich hoffe Ihr seid alle so wohl wie ich und wünsche daß man mir jedesmal die großartigen Neuigkeiten der Stadt Frauenfeld berichtet. Was macht Ihr eigentlich auch? Hat die Schule für die jungen Herren43Hedwigs Brüder Hermann (geb. 1858), Ernst (geb. 1865) und Otto Kappeler (geb. 1869); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen wieder begonnen? Ich sehne mich sehr nach einem ausführlichen Brief, solche werden [7] zwar wohl nicht so dicht gesät werden, wenn die Putzerei u. Schneiderei u. alles mögliche auf einander kommt. Ich wäre wirklich froh wenn ich einmal meine Hemden u. Hosen bekäme, wann muß ich auch meine schicken u. wie? Ich habe ja gar nichts da. Was machen die im Bernerhaus,44Spätbarockes Herrschaftshaus in Frauenfeld, im 18. Jahrhundert Quartier der Tagsatzungsgesandten aus Bern, heute Bankplatz 5; Beat Gnädinger/Georg Spuhler, Frauenfeld, 267-270. - Wohnsitz der Grosseltern mütterlicherseits, Johann Jakob Wüest (1792-1885) und Maria Wüest-Merkle (1795-1887) sowie von Hedwigs unverheiratetem Onkel Jakob Hermann Wüest (1822-1919) und der ledig gebliebenen Tante Anna Friederike Wüest (1821-1920).schliessen sind sie alle wohl? Ich lasse den l[ieben] Grosseltern45Johann Jakob Wüest (1792-1885), Postdirektor und Oberrichter, und Maria Wüest-Merkle (1795-1887), Hedwigs Grosseltern mütterlicherseits; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen vielmal danken für die Photographien, die mich ungeheuer freuten. Jetzt aber genug für dieses Mal, ich muß dann ein andermal meine dummen Plaudereien fortsetzen. Viele Grüße an Euch alle, die im Bernerhaus, Herr Kellers,46Emil Keller (1838-1900) und Aline Keller-Kappeler (1846-1915), Hedwigs Halbschwester, sowie deren zwei Töchter Alma (geb. 1867) und Clara (geb. 1872), welche auch in Frauenfeld wohnen; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen Lisabeth,47Lisbeth, im Brief HK1 "Lisabeth", wird in zehn Briefen von Hedwig gegrüsst. Sie ist offensichtlich die Hausangestellte bei Familie Kappeler-Wüest in Frauenfeld, die aber sehr familiär behandelt wird und z.B. auch ein Foto von Hedwig bekommt (vgl. HK12 und 13). Gemäss HK35 wohnt sie im Dachstock von Hedwigs Elternhaus.schliessen Margreth,48Margreth ist vermutlich ein Hausmädchen der Familie Kappeler-Wüest.schliessen Marie,49Marie ist vermutlich ein Hausmädchen der Familie Kappeler-Wüest (vgl. HK6 und HK29, wo sie jeweils zusammen mit Lisbeth gegrüsst wird).schliessen überhaupt an alle die mir nachfragen. Bitte l[iebe] Mutter schicke mir doch die eine Hälfte des grünseidenen Wiegenumhangs, es wäre gerade recht ge[sch]meidig und weich für die Geige, denn das rote Tuch ist so zerfetzt, daß ich mich schämen [8] muß, wenn ichs bei der Stunde sehen lasse. Auch ist mir vom blauen Geigerock ein weißer Knopf gerade vorn an der Gestalt,50"Gstalt": zürichdeutsch für Oberteil des Frauenkleides.schliessen wo ich ihn gar nicht entbehren kann zerbrochen, so daß ich das Kleid so nicht mehr tragen kann. Nun aber gute Nacht! Viele Grüße und Küße an meine drei l[ieben] Brüder51Hermann Kappeler junior (1858-1931), Ernst Kappeler, (1865-1936) und Otto Kappeler (1869-1935); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen u. die l[iebe] Henriette.52Henriette Kappeler (1856-1916), älteste Schwester von Hedwig, heiratet am 10. April 1880 Theophil Studer, Professor für Zoologie in Bern; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen

Es grüßt und küßt Euch meine l[ieben] Eltern tausendmal Eure Euch herzlich liebende Tochter
Hedwig