Edition – drei Briefgruppen

Brief HK19 – 8.2.1877
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HK19 8.2.1877
Zürich, den 8 Februar 1877
Mein l[ieber] Vater!

Leider finde ich erst jetzt Zeit Dir für Dein[en] l[ieben] Brief u. die Zeitungsartikel zu danken. Meine Zeit ist immer sehr ausgefüllt, wenn nur der Tag noch einmal länger wäre. Zur Schule u. den Aufgaben kamen letzte Woche noch Einladungen mit Herminen,444Hermine Labhardt (geb. 1853), Hedwig Kappelers Cousine mütterlicherseits, Tochter von Philipp Gottlieb Labhardt und Natalie Labhardt-Wüest. Am 10. Juli 1878 Heirat mit Konrad Gottlieb Wilhelm Jänike; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen welche ebenfalls Zeit kosten u. die ich nicht abschlagen konnte.

Emil445Emil Labhardt (geb. 1856), Hedwig Kappelers Cousin mütterlicherseits, Sohn von Gottlieb Labhardt und Natalie Labhardt-Wüest; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen habe ich gesehen, aber konnte gar nicht viel mit ihm sprechen, am Montag habe ich verstanden, daß Ernestine446Ernestine Kappeler (1857-1897), ältere Schwester Hedwigs. Ab 1883 verheiratet mit Friedrich Benedikt Brügger, Bürger von Churwalden. Sie starb am 14. Oktober 1897 an einer Bronchitis mit Lungenentzündung; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen gespielt habe letzten Sonntag u. als ich ihn bei Herrn Ulrichs447Friedrich Salomon Ulrich (1821-1899) und Anna Elisabetha Dorothea (Netti) Ulrich-Heusser (1825-1907), älteste Schwester von Johanna Spyri, sowie deren vier Kinder Franz Theodor (1855-1910), Paul Gustav (1856-1935), Karl Ferdinand (1859-1918) und Anna Luise (1866-1920), wohnhaft Brandschenkestrasse 1 im Stadtteil Selnau. Johanna Spyri besuchte sie oft und hatte vor allem zu ihrer Nichte Anna eine besonders freundschaftliche Beziehung.schliessen sah, vernahm [ich] zu meinem Erstaunen Ernestine habe nicht mitgewirkt. Seit Hermine in Goldbach448Ortsteil von Küsnacht am unteren rechten Zürichseeufer, ca. 5 km vom Stadthaus entfernt. Hermine wohnt dort vermutlich für einige Zeit bei Frau Anna Billeter (geb. 1827), Musiklehrerin (vgl. HK22).schliessen ist habe ich sie nicht mehr gesehen, Frau Sp[yri] u. ich beabsichtigen, sie dort einmal zu besuchen, denn es ist nicht so weit etwa 1 Stunde, ungefähr unseren gewöhnlichen Spaziergang. Ich glaube immer Hermine wird froh sein wenn sie ihr Amt wieder abgeben kann. [2] Letzten Sonntag war ich bei H[errn] Knüsli's449Johannes Knüsli (geb. 1826) und Emma Lina Knüsli-Kappeler (geb. 1839), Tochter von Johann Jakob Kappeler, alt Müller, sowie deren drei Kinder Mathilde (geb. 1862), Johannes (geb. 1865) und Eugen (geb. 1870). Wohnhaft Tiefenhöfe 8/Thalgasse 29, in der Nähe des Stadthauses; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien.schliessen zum Mittagessen, Herr Kappeler450Wohl Johann Jakob Kappeler, alt Müller (1808-1882), Cousin von Oberst Hermann Kappelers erster Frau Henriette. Wohnhaft Tiefenhöfe 8/Thalgasse 29, in der Nähe des Stadthauses; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien.schliessen war aber nicht zugegen. Ich sah ihn aber unter der Hausthüre u. fragte ihn natürlich sogleich, ob er nichts wisse von Deinem Herkommen, aber wieder konnte er mir nichts sagen. Wann hast Du denn eigentlich im Sinn zu kommen? Wirst Du bis zur Generalversammlung der Nordostbahnaktionäre451Die Schweizerische Nordostbahn (NOB) war eine Eisenbahngesellschaft, welche im Jahr 1853 durch die Fusion der Schweizerischen Nordbahn (SNB) mit den Bodensee- und Rheinfallbahnen entstanden war, der Hauptinitiant war der Zürcher Alfred Escher. Oberst Hermann Kappeler war Aktionär der NOB.schliessen warten? Sei so gut u. berichte es mir, da ich mich dann mit den Aufgaben ein wenig einrichten möchte, damit wir einander dieses Mal mehr genießen können. Hast Du schon von dem Unfall mit Karl Kappeler452Karl Kappeler (geb. 1857), Sohn von Johann Karl Kappeler (1816-1888), welcher seit 1857 Präsident des eidgenössichen Schulrats und damit Vorsteher des Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich war. Verwandter von Oberst Hermann Kappelers erster Frau Henriette; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien.schliessen gehört? Er war an453Korrigiert von "auf".schliessen einer Chemikerkneipe, u. kam in ein Nebenzimmer wo eben zwei angeheiterte Kameraden mit scharfen Säbeln die herum lagen zum Spaße ein wenig fochten. Karl K[appeler] glaubte sie seien in wirklichem Streit u. fuhr mit seinem Stock dazwischen, u. unglücklicher Weise schlug ihm einer auf den rechten Daumen, sogar den Knochen durch, so daß er nur noch durch ein einziges Äderchen zusammenhing. Er ließ sich den Finger im Spital verbinden u. sagte zu Hause zuerst nichts, bis am Morgen, sie das [3] Blut auf den Kleidern entdeckten. Herr Rose454Edmund Rose, Dr. med, wohnhaft Wiesenstrasse 2.schliessen richtete den Finger ein, jetzt habe ich nur gehört, daß die beiden Teile so lange nicht zusammen wachsen wollen.

Hoffentlich bist Du jetzt ganz hergestellt, es that mir sehr leid zu hören, daß noch der Arzt kommen mußte, u. es noch eine solche Geschichte absetzte. Die beiden Briefe jenes basler Mädchens sind sehr nett, nicht wahr ich darf sie doch behalten? Heute Abend erschien plötzlich Alfred Kappeler455Georg Alfred Kappeler (1839-1916), ab 1876 Pfarrer in Schwamendingen und ab1882 in Kappel (Zürich). Von 1892 bis 1904 Privatdozent für Neues Testament in Zürich. Sohn von Johann Salomon Kappeler und Ida Kappeler-Aepli, Verwandter von Oberst Hermann Kappelers erster Frau Henriette; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien.schliessen von Schwammendingen,456Schwamendingen ist 1876 ein selbständiger Vorort von Zürich und wird erst 1934 in die Stadt Zürich eingemeindet.schliessen blieb einen Augenblick u. schloss sich dann Herrn Spyri's457Johann Bernhard Spyri (1821-1884) und Johanna Louise Spyri-Heusser (1827-1901).schliessen an um in die Vorlesung458Am 8. Februar 1877 fand im Hotel Baur ein öffentlicher Vortrag von Karl Dilthey statt über Apuleius von Madama und seinen Roman "Verwandlungen"; Zürcher Taschenbuch 1879, 296.schliessen von Dilthey459Karl Dilthey (1839-1907), o. Professor für Archäologie an der Universität Zürich von 1870 bis 1877, nachher in Göttingen; HBLS II, 723.schliessen zu gehen. Hier im Garten habe ich schon eine Menge Schneeglöckchen gepflückt, die in der Stube einen angenehmen Duft verbreiten. Ihr habt gewiss wieder Glüsschen,460"Glisseli" etc.: schweizerdeutsch für verschiedene Hahnenfussarten mit goldgelb schimmernden Blüten; Idiotikon II, Sp. 648.schliessen die auch sehr angenehm sind. Was macht der kleine Ottoli,461Otto Kappeler (1869-1935), Hedwigs jüngster Bruder. Ab 1901 verheiratet mit Marie Pauline Stierlin (1877-1954); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen der muß doch immer etwas haben, der arme Kerl, es ist nur gut daß alles gut vorüber geht.

Denk die Nilsson,462Kristina (Christine) Nilsson (1843-1921) gilt neben Jenny Lind als die grösste schwedische Sängerin des 19. Jahrhunderts; MGG IX, Sp. 1535f.schliessen die hieherkommen wollte um ein Konzert zu geben, hat wieder abgeschlagen, sie forderte zwar unverschämt viel, auf dem I. Platz glaub ich 10 Fr. auf dem II. 5 aber es wäre doch schön gewesen, namentlich für die l[iebe] Mutter,463Aline Kappeler-Wüest (1829-1923), Hedwigs Mutter; vgl. Stammbäume Wüest und Kappeler, Materialien.schliessen einmal eine so gute Sängerin zu hören, sie soll Luca464Pauline Lucca (1841-1908), in Wien geborene, damals vielbejubelte und berühmte Sängerin, bis 1872 an der Berliner Hofoper, dann Gastspiele in Amerika und Europa, später vorwiegend an der Hofoper in Wien; Albert Ehrlich, Berühmte Sängerinnen, 92-94; NDB XV, 272f.schliessen übertreffen.

[4] Sage doch Hermann465Hermann Kappeler junior (1858-1931), älterer Bruder Hedwigs. Ab 1892 verheiratet mit Maria Ida Ernestine Aepli (1866-1964); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen er solle mir einmal schreiben, er hat gewiss mehr Zeit als ich, u. es würde mich sehr freuen etwas Näheres von ihm zu hören. Henriette466Henriette Kappeler (1856-1916), älteste Schwester von Hedwig, heiratet am 10. April 1880 Theophil Studer, Professor für Zoologie in Bern; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen wird wohl bald hieher kommen dürfen, Frau Sp[yri] sagte mir wenigstens sie wolle jetzt dann bald schreiben. In der Schule geht es mir ganz ordentlich, auch mit den Musikstunden. Die Letzte fiel zwar aus, da Herr Kahl467Joseph Oskar Kahl (geb. 1843), Konzertmeister und Lehrer an der damals neugegründeten Musikschule Zürich. Kahl ist Hedwigs Geigenlehrer in Zürich. Er ist verheiratet mit Ida Kempin, einer Schwester von Walter Kempin-Spyri und somit Schwägerin von Dr. Emilie Kempin-Spyri, der ersten Juristin der Schweiz, Nichte von Johann Bernhard Spyri. Wohnhaft Zeltweg 27; BB 1879, 219; Zürcher Adressbuch 1877.schliessen einige Tage in Strassburg war. Wann wird Ernestine468Ernestine Kappeler (1857-1897), ältere Schwester Hedwigs. Ab 1883 verheiratet mit Friedrich Benedikt Brügger, Bürger von Churwalden. Sie starb am 14. Oktober 1897 an einer Bronchitis mit Lungenentzündung; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen spielen? Es interessiert mich sehr etwas über die Kassinoaufführungen469Das Kasino in Frauenfeld war ein grosser Theater- und Konzertsaal im Hotel Bahnhof mit 500-700 Sitzplätzen, der bis in die 1950er Jahre in Betrieb war; Beat Gnädinger/Georg Spuhler, Frauenfeld, 267-270.schliessen zu hören, hoffentlich schreibt mir einmal eines meiner Schwestern470Henriette (1856-1916) und Ernestine Kappeler (1857-1897); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen darüber, aber es scheint, in der That, als ob Federn, Tinte u. Papier bei ihnen so theuer seien, daß sie sich solche nicht verschaffen könnten. Bei uns geht immer alles seinen gewohnten Gang, besonders da Frau Spyri wieder hergestellt ist, worüber ich sehr froh bin. Letzten Dienstag war ein Nachtessen hier, wo Herr Dokt[or] Heusser471Theodor Diethelm Heusser (1822-1893), ältester Bruder von Johanna Spyri, Arzt in Richterswil.schliessen von Richtersweil u. Nabholz, ein Freund von Ersterem mit Frau u. Tochter,472Wahrscheinlich Johannes Nabholz (1829-1885) und seine Frau Johanna Maria Nabholz-Sibenmann (geb. 1836) sowie eine der beiden Töchter Johanna Maria (geb. 1860) oder Elise Mathilde (geb. 1868). Nabholz war in den 1850er und 1860er Jahren Apotheker in Richterswil, wo Theodor Heusser als Arzt wirkte, und später Zürcher Stadtrat, Finanzvorstand und Kantonsrat. 1877 wird seine Beförderung gefeiert. In Meta Heussers "Hauschronik" wird er als "befreundeter Apotheker" erwähnt; Meta Heusser-Schweizer, Hauschronik, 130; vgl. BB 1855-1879. - Das Grab der Familie Nabholz-Sibenmann befindet sich unmittelbar neben dem Spyri-Grab auf dem Friedhof Sihlfeld in Zürich. Dies hängt wohl mit den Ämtern und dem ähnlichen Todesjahr von Spyri und Nabholz zusammen.schliessen denen das Essen galt u. Herr Pfarrer Spyri473Johann Ludwig Spyri (1822-1895), Bruder von Stadtschreiber Johann Bernhard Spyri, seit 1850 Kantonsrat, 1851 Pfarrer in Altstetten, 1865-1875 Diakon am Neumünster in Hottingen, später Statistiker der Nordostbahn; ZhPfrB, 539.schliessen zugegen waren. Ein wenig langweilig wie solche Anlässe sind.

[4 am Rd.] Nun empfange aber einen herzlichen Nacht Kuß von Deiner dankbaren Tochter
Hedwig

[4 oben] Eine Empfehlung von Frau Spyri. [2 am Rd.] Grüße mir alle vielmal, die vom Bernerhaus474Spätbarockes Herrschaftshaus in Frauenfeld, im 18. Jahrhundert Quartier der Tagsatzungsgesandten aus Bern, heute Bankplatz 5; Beat Gnädinger/Georg Spuhler, Frauenfeld, 267-270. - Wohnsitz der Grosseltern mütterlicherseits, Johann Jakob Wüest (1792-1885) und Maria Wüest-Merkle (1795-1887) sowie von Hedwigs unverheiratetem Onkel Jakob Hermann Wüest (1822-1919) und der ledig gebliebenen Tante Anna Friederike Wüest (1821-1920).schliessen nicht vergessen u. Tante Natalie475Natalie Labhardt-Wüest (1823-1904), Hedwig Kappelers Tante mütterlicherseits, Schwester von Aline Kappeler-Wüest und Witwe von Philipp Gottlieb Labhardt; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen soll doch endlich einmal ihre Feder ergreifen, um mir den längst versprochenen Brief [1 am Rd.] zu schreiben, besonders da sie jetzt doch nicht hieher kommt.