Edition – drei Briefgruppen

Brief HK20 – 8.2.1877
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HK20 8.2.1877
Zürich, den 8 Februar 1877.
Liebe Mutter!

Da ich dem l[ieben] Vater476Hermann Kappeler (1808-1884), Oberst, Kaufmann und Verwaltungsratspräsident der Thurgauischen Hypothekenbank, Hedwigs Vater; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen eben einen Brief geschrieben, ist es mir unmöglich auch Dir noch einen Respektablen zu senden. Ich bitte Dich also von vornherein, weder auf Schrift noch auf Form zu achten. Ich muß Dir schnell noch einiges mittheilen u. vor Allem Dich um Etwas bitten. Sei so gut u. schicke mir in einer grossen Enveloppe ein Stück, ungefähr so groß wie Dein großes Briefpapier, von dem braunen Stoff, für mein Kleid ich habe etwas zerrissen, aber nicht wa[h]r so bald als möglich. Meinen besten Dank für Deinen l[ieben] Brief, er [ist] doch einmal ziemlich lang gewesen. Meine Geige habe ich richtig erhalten, aber ich spiele nicht gern darauf, sie hat einen sonderbaren Ton, an den ich gar nicht mehr gewohnt bin. Was ich mit der Invalidin anstelle, wird sich in meiner nächsten Musikstunde zeigen, wenn ich Herrn Kahl477Joseph Oskar Kahl (geb. 1843), Konzertmeister und Lehrer an der damals neugegründeten Musikschule Zürich. Kahl ist Hedwigs Geigenlehrer in Zürich. Er ist verheiratet mit Ida Kempin, einer Schwester von Walter Kempin-Spyri und somit Schwägerin von Dr. Emilie Kempin-Spyri, der ersten Juristin der Schweiz, Nichte von Johann Bernhard Spyri. Wohnhaft Zeltweg 27; BB 1879, 219; Zürcher Adressbuch 1877.schliessen fragen werde, natürlich tue ich dann wie er mir räth, denn jedenfalls versteht er noch ein wenig mehr als H[err] Keller.478Emil Keller (1838-1900), Musikdirektor, Musiklehrer an der Kantonsschule in Frauenfeld, Ehemann von Aline Keller-Kappeler (1846-1915), Hedwigs Halbschwester, Tochter von Oberst Hermann Kappeler aus erster Ehe; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen Am Mittwoch Abend waren wir bei Herrn Ulrichs,479Die Familie von Anna Elisabetha Dorothea Ulrich-Heusser (1825-1907), genannt Netti, der ältesten Schwester von Johanna Spyri und Friedrich Salomon Ulrich (1821-1899), Baumeister. Das Ehepaar hatte 5 Söhne und als Nachzüglerin eine Tochter, Anna. Johanna Spyri besuchte sie oft in Selnau bei Zürich und hatte vor allem zu ihrer Nichte Anna eine besonders freundschaftliche Beziehung.schliessen [2] um der Aufführung zweier von Frau Sp[yri] gemachten Charaden480Johanna Spyri schrieb für den Familiengebrauch "Charaden", die nicht veröffentlicht wurden.schliessen beizuwohnen. Es war wirklich sehr nett, natürlich hatte Anna481Anna Ulrich (1866-1920), Tochter von Anna Elisabetha Dorothea (Netti) Ulrich-Heusser und Friedrich Salomon Ulrich, Nichte von Johanna Spyri. Entwickelte wie ihre Tante und Grossmutter schriftstellerisches Talent, 1919 veröffentlichte sie die kleine Schrift "Johanna Spyri. Erinnerungen aus ihrer Kindheit".schliessen die Hauptrollen, sie spricht aber auch gut. Fr. Sp[yri] sagt mir eben, ob es Dir recht wäre wenn sie jetzt Henriette482Henriette Kappeler (1856-1916), älteste Schwester von Hedwig, heiratet am 10. April 1880 Theophil Studer, Professor für Zoologie in Bern; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen einladen würde? Bitte schreibe mir bald darüber. Also können wir dann wirklich zu dem letzten Theaterabend erscheinen? Ich habe in der Erwartung davon eine Einladung von Fr. Fetscherin483Eugenie Luise Fetscherin-Fueter, Frau von Rudolf Friedrich Fetscherin und Mutter von Luise Fetscherin (geb. 1856), welche zusammen mit Hedwig bei Johanna Spyri wohnt.schliessen mit Luise484Luise Fetscherin (1859-1951), Tochter von Rudolf Friedrich Fetscherin (1829-1892), 1859 Sekundärarzt in der psychiatrischen Klinik Waldau in Bern, von 1875 bis 1889 Direktor der psychiatrischen Klinik St. Urban; HLS IV, 487. - Luise besuchte im Wintersemester 1876/77 die Höhere Töchterschule in Zürich und wohnte damals zusammen mit Hedwig Kappeler als Pflegetochter bei Johanna Spyri. 1883 heiratete sie den Arzt Domenico Curo Tramèr. Das Ehepaar lebte ab 1886 in Basel und hatte fünf Kinder; Mitteilung Andreas Barth, Staatsarchiv Basel-Stadt, 4. Juni 2009. - 1908 erschien "Heidi, ein Kinderschauspiel in 3 Akten. Nach der Erzählung von Johanna Spyri bearbeitet" von Luise Fetscherin. Ob es von der Mutter oder der Tochter, die beide den selben Vornamen trugen, stammt, ist ungeklärt.schliessen nach St. Urban zu kommen über den Fasnachtssonntag auf den Rath von Fr. Sp[yri] abgeschlagen, erstens hätte ich dabei den ganzen Montag verloren u. dann glaub ich wäre es Vater doch nicht recht gewesen, da solche Sachen doch immer mit Kosten verbunden sind, u. beides könnte ich natürlich nicht haben u. ich natürlich den Kassinoabend485Das Kasino in Frauenfeld war ein grosser Theater- und Konzertsaal im Hotel Bahnhof mit 500-700 Sitzplätzen, der bis in die 1950er Jahre in Betrieb war; Beat Gnädinger/Georg Spuhler, Frauenfeld, 267-270.schliessen tausendmal vorziehe. Sage dem l[ieben] Ottoli486Otto Kappeler (1869-1935), Hedwigs jüngster Bruder. Ab 1901 verheiratet mit Marie Pauline Stierlin (1877-1954); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen daß ich ihm schreibe so bald als möglich. Wann soll ich meine Wäsche wieder schicken? Machst Du auch Küchli487Mit "Küchli" meint Hedwig wohl die traditionellen Fasnachtsküchlein.schliessen dieses Jahr od. sind die Zeiten auch für das nicht gut genug? Ach hoffentlich kommt es bald besser, denn das ist eine schreckliche Stimmung488Nach dem Aufschwung unmittelbar nach dem deutsch-französischen Krieg geriet die Schweizer Wirtschaft 1876 in eine massive Krise, von welcher Hermann Kappeler als Verwaltungsratspräsident der Thurgauischen Hypothekenbank, aber auch als Kaufmann und privater Anleger in besonderem Masse betroffen war; HLS VII, 367, Konjunktur.schliessen überall u. besonders beim l[ieben] Vater.489Hermann Kappeler (1808-1884), Oberst, Kaufmann und Verwaltungsratspräsident der Thurgauischen Hypothekenbank, Hedwigs Vater; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen Emil L.490Emil Labhardt (geb. 1856), Hedwig Kappelers Cousin mütterlicherseits, Sohn von Gottlieb Labhardt und Natalie Labhardt-Wüest; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen [3] fand ich doch schrecklich langweilig, in den Einladungen spricht er fast kein Wort. Er war an einem Sonntag mit Hermine491Hermine Labhardt (geb. 1853), Hedwig Kappelers Cousine mütterlicherseits, Tochter von Philipp Gottlieb Labhardt und Natalie Labhardt-Wüest. Am 10. Juli 1878 Heirat mit Konrad Gottlieb Wilhelm Jänike; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen u. erweitertem Klub hier u. saß neben mir u. sicher sagte er nicht 6 Worte zu mir, darauf waren wir bei Frau Ulrich492Anna Elisabetha Dorothea (Netti) Ulrich-Heusser (1825-1907), Schwester von Johanna Spyri, verheiratet mit Friedrich Salomon Ulrich. Anna ist die einzige der drei Schwestern Johanna Spyris, die wie sie in Zürich lebte und zu der sie zeitlebens engen Kontakt pflegte.schliessen wo ich ebenfalls das Vergnügen hatte neben ihm zu sitzen u. auch da war er sehr wortkarg gegen seine Cousine. Ernestine493Ernestine Kappeler (1857-1897), ältere Schwester Hedwigs. Ab 1883 verheiratet mit Friedrich Benedikt Brügger, Bürger von Churwalden. Sie starb am 14. Oktober 1897 an einer Bronchitis mit Lungenentzündung; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen u. Henriette494Henriette Kappeler (1856-1916), älteste Schwester von Hedwig, heiratet am 10. April 1880 Theophil Studer, Professor für Zoologie in Bern; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen werden sich lustig machen bei Tante Natalie495Natalie Labhardt-Wüest (1823-1904), Hedwig Kappelers Tante mütterlicherseits, Schwester von Aline Kappeler-Wüest und Witwe von Philipp Gottlieb Labhardt; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen u. im Kassino.496Grosser Theater- und Konzertsaal im Hotel Bahnhof in Frauenfeld mit 500-700 Sitzplätzen, der bis in die 1950er Jahre in Betrieb war; Beat Gnädinger/Georg Spuhler, Frauenfeld, 267-270.schliessen Spielt Hrm. [Hermann]497Hermann Kappeler junior (1858-1931), älterer Bruder Hedwigs. Ab 1892 verheiratet mit Maria Ida Ernestine Aepli (1866-1964).schliessen auch immer noch fleißig Klavier? Letzthin sagte mir H[err] Kahl498Joseph Oskar Kahl (geb. 1843), Konzertmeister und Lehrer an der damals neugegründeten Musikschule Zürich. Kahl ist Hedwigs Geigenlehrer in Zürich. Er ist verheiratet mit Ida Kempin, einer Schwester von Walter Kempin-Spyri und somit Schwägerin von Dr. Emilie Kempin-Spyri, der ersten Juristin der Schweiz, Nichte von Johann Bernhard Spyri. Wohnhaft Zeltweg 27; BB 1879, 219; Zürcher Adressbuch 1877.schliessen ich habe keinen Mangel an Gehör, sondern es sei verdorben, was sich nach u. nach verbessern lasse, sage es nur Herrn Keller499Emil Keller (1838-1900), Musikdirektor, Musiklehrer an der Kantonsschule in Frauenfeld, Ehemann von Aline Keller-Kappeler (1846-1915), Hedwigs Halbschwester, Tochter von Oberst Hermann Kappeler aus erster Ehe; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen nicht er würde sich sonst beleidigt fühlen; denn ich glaube es rührt eben von seiner Nachlässigkeit her. Jedenfalls hat er mein Spiel nur so ernst500Unsichere Lesung, evtl. auch "weit".schliessen genommen u. gedacht er lasse mich so spielen, damit ich einige Stücke spielen können [sic!] u. dann zufrieden seie. Jetzt seit ich solche Stunden habe, wird meine Freude am Spiel auch immer größer.

Empfange viele Grüße von Frau Sp[yri] u. von Deiner Dich her[z]lich liebenden Tochter einen tüchtigen Kuß.

Schreibe mir ja recht bald über alles u. gib diesen Brief niemandem in die Hände.