Edition – drei Briefgruppen

Brief HK18 – 19.1.1877
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HK18 19.1.1877
Zürich, den 19. Januar 1877424In der Zwischenzeit waren Weihnachtsferien (vom 23. Dezember 1876 bis 4. Januar 1877, vgl. HK13).schliessen
Mein l[ieber] Vater!

Erst heute komme ich endlich dazu Deinen l[ieben] Brief zu beantworten; denn die letzte, wie diese Woche habe ich sehr viel zu thun gehabt. Es war wirklich angenehm, als ich letzten Montag meinen Aufsatz einmal fertig hatte, er kostete in der That ziemlich Arbeit, aber denk Dir jetzt muß ich schon wieder Einen machen u. zwar französisch. Empfange noch vor Allem andern meinen besten Dank für die herrlichen Salzissen425Plural von "Salsiz": Trockenwurst. Wird in Frauenfeld auf den Bächtelitag (in Frauenfeld am 3. Montag im Januar) hin zubereitet und verschenkt; Idiotikon VII, Sp. 870.schliessen u. die Orangen. Erstere schmeckten Frau Spyri sehr gut, was [sie] Dir aber wohl geschrieben hat. Die Orangen haben wir ebenfalls zusammen verspeist, da es F[rau] Sp[yri] immer an Italien erinnert. Es ist wirklich schade daß Du letzten Montag nicht in's Rathhaus gehen konntest. Hoffentlich geht es Dir jetzt ganz besser.

Emil Keller426Emil Keller (1838-1900), Musikdirektor, Musiklehrer an der Kantonsschule in Frauenfeld, Ehemann von Aline Keller-Kappeler (1846-1915), Hedwigs Halbschwester, Tochter von Oberst Kappeler aus erster Ehe; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen wird Dir gesagt haben, daß er mich gesehen; denn wir hatten unsern Platz gar nicht weit [2] von einander entfernt. Als ich aber einmal ein wenig seitwärts sah, erblickte ich H[errn] Dokt[or] Haffter427Möglicherweise Elias Haffter (1851-1909), Dr. med., 1874-76 Assistenzarzt am thurgauischen Kantonsspital Münsterlingen, dann Arzt in Frauenfeld und Gründer des dortigen Bezirksspitals, erfolgreicher Reiseschriftsteller und Förderer der Thurgauer Musikszene; HBLS IV, 49; HLS VI, 32. - Bruder von Konrad Haffter (1837-1914), s. HK 12.schliessen von Weinf[elden] Natürlich dachte ich, da sind meine Frauenfelder gewiss nicht sehr weit davon u. wirklich, noch ein wenig rückwärts geschaut, da war plötzlich Emil K[eller]. Das Konzert war wundervoll, Joachim's428Joseph Joachim (1831-1907), ungarischer Violinist, Dirigent und Komponist. Neben seiner Hochschultätigkeit leitete Joachim das nach ihm benannte Joachim-Quartett (Carl Halir, Robert Hausmann, Joseph Joachim, Emanuel Wirth) und wurde einer der Hauptrepräsentanten der deutschen Musikkultur zum Ende des 19. Jahrhunderts. Er gehörte zu den engeren Freunden von Clara Schumann und Johannes Brahms; MGG VII, Sp. 56f.schliessen Spiel war hinreißend. Solche Töne habe ich noch nie vorher von einer Violine gehört. Alles war so glockenhell, wie eine schöne menschliche Stimme. Dann diese Stellung! So gerade, die Geige hielt er etwas in die Höhe u. immer während dem Spiel blieb er ganz ruhig, bei den schwersten Stellen, machte er nicht die geringste unnöthige Bewegung, was so viele Geiger thun, ohne daß sie sich nur im geringsten mit einem Joachim messen könnten. Luise Grob429Wahrscheinlich Hanna Luise Grob (geb. 1851), Tochter von Heinrich Grob, Prorektor und Professor am Gymnasium, Mitglied des Grossen Stadtrats; BB 1879, 139.schliessen sagte, daß er wirklich noch ein Konzert gebe hier, auf seiner Rückkehr von Nizza, worüber sich Frau Sp[yri] sehr freut da sie ihn letztes Mal nicht hören konnte, um [3] ihrer Fussverstauchung [willen]. Sie mußte diese ganze Woche noch ruhig sitzen bleiben, hoffentlich kann sie aber bis Sonntag ausgehen. Wann wirst Du endlich hieher kommen? Frau Huber,430Wahrscheinlich Anna Maria (Nanny) Huber-Werdmüller (1844-1911), Frau von Peter Emil Huber. Engagierte sich im Zürcher Frauenverein für Mässigkeit und Volkswohl (später Zürcher Frauenverein für alkoholfreie Wirtschaften) und war viele Jahre lang dessen Präsidentin; Monique R. Siegel, Weibliches Unternehmertum, 34-61, 249.schliessen die mich gestern einlud mit ihr in Helenen's Tanzstunde zu kommen sagte mir daß sie Dich immer erwarteten. Hoffentlich bleibst Du dann mehr als ein Tag, daß Du doch wenigstens auch zu genießen bist u. nicht sogleich wieder fort stürmst. Wird Hermine431Hermine Labhardt (geb. 1853), Hedwig Kappelers Cousine mütterlicherseits, Tochter von Philipp Gottlieb Labhardt und Natalie Labhardt-Wüest. Am 10. Juli 1878 Heirat mit Konrad Gottlieb Wilhelm Jänike; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen gewiss nächsten Montag kommen? Sei so gut u. sage ihr, sie möchte mir doch die Adresse der Fräulein Savary432Fräulein Savary ist wohl eine Dame im Welschland, welche Pensionärinnen aufnimmt (s. auch HK30).schliessen zu [sic!] bringen u. auch den Pensionspreis sowie den Prospekt, wenn Einer vorhanden ist. Frau Huber433Wahrscheinlich Anna Maria (Nanny) Huber-Werdmüller (1844-1911), Frau von Peter Emil Huber. Engagierte sich im Zürcher Frauenverein für Mässigkeit und Volkswohl (später Zürcher Frauenverein für alkoholfreie Wirtschaften) und war viele Jahre lang dessen Präsidentin; Monique R. Siegel, Weibliches Unternehmertum, 34-61, 249.schliessen ersuchte mich darum für eine Verwandte von ihr. Nächste Woche muß [ich] einmal anfangen Besuche zu machen; denn bis jetzt hatte ich unmöglich Zeit dazu. Meine beiden Vettern434Hedwigs Vettern, d.h. Cousins, Rudolf Kappeler (1858-1899) und Emil Labhardt (geb. 1856) studieren damals beide in Zürich; vgl. Stammbäume Kappeler und Wüest, Materialien.schliessen haben mich bis jetzt noch nie besucht, es ist fast als ob das Stadthaus435Das Stadthaus, in welchem sich die Amtswohnung des Stadtschreibers Johann Bernhard Spyri befand, stand am ehemaligen Kratzplatz, wo heute die Börsenstrasse in den Stadthausquai einmündet. Es wurde im Zuge der Umgestaltung des Quartiers 1886 abgerissen.schliessen für die langen Beine nicht zu erreichen wäre. [4] Warum schreibt Hermann436Hermann Kappeler junior (1858-1931), älterer Bruder Hedwigs. Ab 1892 verheiratet mit Marie Ida Ernestine Aepli (geb. 1866); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen gar nie, ich erwartete schon längst einen Brief von ihm, bitte, sage es ihm. In meinen Geigenstunden geht es mir jetzt ganz ordentlich, habe bald beide Heft[e] mit Etüden fertig, auch das Larghetto habe ich glücklich zu Stande gebracht u. werde nun Cavatine437Kürzeres Gesangstück für eine Solostimme mit Begleitung; MGG II, Sp. 933f.schliessen u. Raff438Joseph Joachim Raff (1822-1882), Komponist, gebürtig aus Lachen (Kanton Schwyz); NDB XXI, 108f.schliessen spielen. Ging nichts Besonderes vor am Bächtoldstag?439Der Bächtoldstag oder Berchtoldstag (Bechtelstag, Bechtle, Bechtelistag, Berchtelistag, Bächtelistag, Bärzelistag) ist ein schweizerischer Feiertag, welcher meist am 2. Januar gefeiert wird. In Frauenfeld ist der Bächtelistag ein besonderer Festtag und wird am 3. Montag im Januar gefeiert. Auf einer Grammophonaufnahme aus dem Jahr 1930 beschreibt die siebzigjährige Hedwig Kappeler das Brauchtum dieses Tages; vgl. Hörstück, Materialien.schliessen Die Buben werden sich doch verkleidet haben u. als "Onarronarronarr"440Im Thurgau gehen am Berchtoldstag Vermummte um, Appels-Narr genannt - und die Kinder rufen "Narro" hinter dem Fasnachtsnarren her; Idiotikon IV, Sp. 781; Idiotikon I, Sp. 23.schliessen herumgesprungen sein? Bei uns ist es immer ganz still u. ruhig, ich war außer im Konzert, noch einmal im Theater4411834 war in Zürich das Aktientheater in der ehemaligen Kirche des Barfüsserklosters an den Unteren Zäunen eröffnet worden, welches in der Neujahrsnacht 1890 abbrannte. Am 30. September 1891 wurde das neue "Stadttheater" (das heutige Opernhaus) eröffnet; Martin Hürlimann, Vom Stadttheater zum Opernhaus, 19, 34-39; Walter Baumann et al., Zürich zurückgeblättert, 181; vgl. auch das Kapitel zu Richard Wagner in: Regine Schindler, Johanna Spyri. Neue Entdeckungen und unbekannte Briefe.schliessen wo ich eine Oper von Kreutzer hörte, "Das Nachtlager von Granada"442Conradin Kreutzer, Das Nachtlager von Granada, Uraufführung der ersten Fassung 1834.schliessen ganz hübsche Musik. Es ist so ganz herrlich, ganz ohne die Einladungen am Sonntag zum Mittagessen. Hie u. da Theater u. Konzert u. dazwischen ruhig arbeiten zu Hause u. bei schönem Wetter spazieren aber jene Einladungen zum Essen sind mir doch schrecklich verhasst. Du kannst übrigens ganz ruhig sein, über Deine Tochter: es ist gar nicht meine Absicht etwa recht genuß[4 am Rd.]süchtig zu werden. Ich [kann] einmal ganz gut ohne Theater u. Konzert leben, aber weil [ich] nun einmal hier bin zur allgemeinen Ausbildung meines Geistes, gehört auch [2 am Rd.] das dazu, sonst wäre man für alle solche Sachen ganz ein Neuling, u. beide bilden den Menschen doch.

Nun aber lebe wohl, empfange einen [1 am Rd.] herzlichen Kuß von Deiner dankbaren Tochter
Hedwig.

[3 unten] Grüße mir alle noch mal, die vom Bernerhaus443Spätbarockes Herrschaftshaus in Frauenfeld, im 18. Jahrhundert Quartier der Tagsatzungsgesandten aus Bern, heute Bankplatz 5; Beat Gnädinger/Georg Spuhler, Frauenfeld, 267-270. - Wohnsitz der Grosseltern mütterlicherseits, Johann Jakob Wüest (1792-1885) und Maria Wüest-Merkle (1795-1887) sowie von Hedwigs unverheiratetem Onkel Jakob Hermann Wüest (1822-1919) und der ledig gebliebenen Tante Anna Friederike Wüest (1821-1920).schliessen nicht vergessen.