Edition – drei Briefgruppen

Brief HK31 – 24.11.1877
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HK31 24.11.1877
Zürich, den 24 November [18]77752Brief auf weissem Papier.schliessen
Meine liebe Mutter!

Soeben habe ich aufgehört zu geigen, um Dir noch meine herzlichsten Glückwünsche zu Deinem Geburtstag753Widersprüchliche Quellenlage: Laut Haushaltungs-Register Frauenfeld wurde Aline Kappeler-Wüest am 24. November 1829 geboren. Aus dem vorliegenden Brief sowie aus HK13 geht jedoch hervor, dass sie am 25. November Geburtstag feierte.schliessen zu senden. Möge der l[iebe] Gott wie er bis dahin es gethan, Dich noch lange erhalten, u. Dein Leben angenehmer machen, u. Dich stärken Deine Sorgen zu tragen, woran ich auch oft Ursache bin u. Dich darum herzlich um Verzeihung bitte. Hoffentlich werdet Ihr doch morgen den Tag feiern, man kann sich da schon etwas erlauben weil es Sonntag ist, ich wollte nur ich könnte mit dabei sein, besonders da jetzt Ernestine754Ernestine Kappeler (1857-1897), ältere Schwester Hedwigs. Ab 1883 verheiratet mit Friedrich Benedikt Brügger, Bürger von Churwalden. Sie starb am 14.10.1897 an einer Bronchitis mit Lungenentzündung; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen fort ist. Diese plötzliche Abreise war Dir gewiss gar nicht gelegen, so auf einmal über Nacht alles in Ordnung zu machen. Habt Ihr schon Nachrichten wie Ernestine in Lausanne angelangt ist u. wie sie Madame Lochmann getroffen? Bitte schreibe mir doch darüber. Du wirst Tante Natalie755Natalie Labhardt-Wüest (1823-1904), Hedwig Kappelers Tante mütterlicherseits, Schwester von Aline Kappeler-Wüest und Witwe von Philipp Gottlieb Labhardt; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen schon gesehen haben, sie ist gewiss froh, daß sie wieder in ihrer alten gemüthlichen Behausung angelangt ist. Ich war aber sehr erstaunt, als ich gestern Abend, nach der Oper plötzlich Herminen756Hermine Labhardt (geb. 1853), Hedwig Kappelers Cousine mütterlicherseits, Tochter von Philipp Gottlieb Labhardt und Natalie Labhardt-Wüest. Am 10. Juli 1878 Heirat mit Konrad Gottlieb Wilhelm Jänike; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen traf, die mir dann sagte sie bleibe noch bis Montag. Ihr werde ich dann die gefärbten Band [sic!] mitgeben, ich konnte dieselben erst gestern abholen, sonst würde Tante Natalie sie mitgenommen haben. Wie Du eben gelesen bin ich schon wieder im Theater7571834 war in Zürich das Aktientheater in der ehemaligen Kirche des Barfüsserklosters an den Unteren Zäunen eröffnet worden, welches in der Neujahrsnacht 1890 abbrannte. Am 30. September 1891 wurde das neue "Stadttheater" (das heutige Opernhaus) eröffnet; Martin Hürlimann, Vom Stadttheater zum Opernhaus, 19, 34-39; Walter Baumann et al., Zürich zurückgeblättert, 181; vgl. auch das Kapitel zu Richard Wagner in: Regine Schindler, Johanna Spyri. Neue Entdeckungen und unbekannte Briefe.schliessen gewesen. [2] Es wurde nämlich eine sehr hübsche Oper gegeben: Der Postillon von Longjumeau.758Adolphe Adam, Der Postillon von Lonjumeau, Uraufführung 1836.schliessen Ich habe es ohnehin ziemlich streng gehabt mit solchen Anlässen, da mir Herr Jänike759Konrad Gottlieb Wilhelm Jänike (geb. 1851), Commis und Leutnant der Infanterie. Sein Vater war Gastwirt im "Storchen" in Zürich. Ab 1878 verheiratet mit Hermine Labhardt, Hedwig Kappelers Cousine. Wohnhaft an der Selnaustrasse 20.schliessen seinen Platz noch öfters antrug u. so sah ich noch den Ultimo760Gustav von Moser, Ultimo, Uraufführung 1874.schliessen u. andere kleine Lustspiele die man in Frauenfeld sehr gut aufführen könnte. Letzten Sonntag war ich zum Mittagessen bei H[errn] Jänike eingeladen, wohin ich meine Geige mitnehmen mußte u. am Abend zum Thee bei Frau Prof. Vögeli-Bernoulli,761Wohl Emilie Vögeli-Bernoulli (1824-1900), Witwe von Prof. Heinrich Vögeli (1810-1874), Pfarrer, wohnhaft am Hirschengraben 62.schliessen auch da mußte ich spielen ein junger Holländer begleitete mich ganz ordentlich. Es war überhaupt ein sehr angenehmer Abend, da die zwei Holländer, Freunde von Bels762Unsichere Lesung, vielleicht ist "14" gemeint.schliessen, sehr artige Burschen sind, besonders einer, der auf Java geboren u. aufgewachsen ist u. die Reise nach Europa ums Cap der guten Hoffnung herum machte. Da war es natürlich sehr interessant seinen Gesprächen zuzuhören. Letzten Dienstag waren dann Tante763Natalie Labhardt-Wüest (1823-1904), Hedwig Kappelers Tante mütterlicherseits, Schwester von Aline Kappeler-Wüest und Witwe von Philipp Gottlieb Labhardt; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen u. das Brautpaar764Bei dem Brautpaar handelt es sich um Hermine Labhardt und Konrad Gottlieb Wilhelm Jänike, welche am 10. Juli 1878 heiraten.schliessen hier, H[err] Jänike765Konrad Gottlieb Wilhelm Jänike (geb. 1851), Commis und Leutnant der Infanterie. Sein Vater war Gastwirt im "Storchen" in Zürich. Ab 1878 verheiratet mit Hermine Labhardt, Hedwig Kappelers Cousine. Wohnhaft an der Selnaustrasse 20; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen u. ich musizierten zusammen nachdem er mit Hermine766Hermine Labhardt (geb. 1853), Hedwig Kappelers Cousine mütterlicherseits, Tochter von Philipp Gottlieb Labhardt und Natalie Labhardt-Wüest. Am 10. Juli 1878 Heirat mit Konrad Gottlieb Wilhelm Jänike; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen den bekannten Faustwalzer767Walzer aus Charles Gounod, Faust, Uraufführung 1859.schliessen gespielt hatte. Zuerst spielten wir den Don Juan,768Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni, Uraufführung 1787.schliessen was noch ordentlich ging, dann die Zauberflöten Potpourri,769Wohl ein Potpourri aus Wolfgang Amadeus Mozart, Die Zauberflöte, Uraufführung 1791.schliessen das beides vom Blatt gespielt, es war von beiden keine besondere Leistung. Letzten Mittwoch kehrte Herr Spyri770Johann Bernhard Spyri (1821-1884), Stadtschreiber von Zürich und Ehemann von Johanna Spyri; vgl. Regine Schindler, Spurensuche, 349 und Stammbaum, 341; HBLS VI, 484.schliessen von Baden zurück, jedoch nicht ganz geheilt, er ist eben ziemlich eigensinnig u. wollte nicht mehr länger fort bleiben. Diese drei letzten Tage habe ich nun fleißig gearbeitet, so daß ich hoffe die nächste Woche wieder recht [3] im Gange zu sein. Morgen ist das Benefiz-Konzert von Attenhofer,771Karl Attenhofer (1837-1914), Komponist, Chorleiter, "Musikdirektor", seit 1875 Lehrer an der Höheren Töchterschule für Gesang und Musiktheorie, wohnt in Hottingen, Englischviertelstrasse 26. Nach dem Eidgenössischen Sängerfest von 1870 auch Musikdirektor der Universität Zürich, 1896 durch Friedrich Hegar Berufung an die Zürcher Musikschule, später Konservatorium, als zweiter Direktor; HBLS I, 464; Salomon Stadler, Rückblick auf die Geschichte der höheren Töchterschule, 43.schliessen da singt Herr Wäffler772Vermutlich Hans Wäffler-Sevin (1846-1915), Sänger aus Basel.schliessen von Basel. Ich hoffte immer nun werde bald die Klara Schumann773Clara Josephine Schumann, geb. Wieck (1819-1896), Pianistin und Komponistin, Ehefrau von Robert Schumann.schliessen kommen, da sagte mir aber Marie Vogler, sie werde nicht kommen, was ich ungeheuer bedaure. Was macht Ihr jetzt zusammen u. es [ist] gewiss ein wenig Stille wenn Ihr so allein seid, denn Henriette774Henriette Kappeler (1856-1916), älteste Schwester von Hedwig, heiratet am 10. April 1880 Theophil Studer, Professor für Zoologie in Bern; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen macht gewiss nicht gerade großen Lärm, doch dafür sorgen dann des Abends die beiden Buben. Sage doch Ernst775Ernst Kappeler (1865-1936), jüngerer Bruder Hedwigs, bis 1893 Vikar im Thurgau, im Winter 1893/94 in Montreux, ab 1894 Pfarrer in Neunforn, nach dem frühen Tod seiner Frau (1905) von 1908-1931 in Zollikon. Ab 1896 verheiratet mit Marie Stephanie van Vloten (1874-1905); ZhPfrB, 372; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen meinen besten Dank für seinen Brief u. die Marken, nur soll er suchen ein wenig korrekter zu schreiben; denn solche Fehler, wie er machte, sollten bei einem Gymnasiasten nicht mehr vorkommen. Dem kleinen Otto776Otto Kappeler (1869-1935), Hedwigs jüngster Bruder. Ab 1901 verheiratet mit Marie Pauline Stierlin (1877-1954); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen werde ich schreiben sobald ich Zeit dazu habe u. er sich ein wenig besser aufführt. Dir danke ich für Deinen obwohl sehr kurzen Brief, hoffentlich bekomme ich bald einen Längeren, da Du jetzt mehr in der Ruhe bist, nur sei so gut sehe bei Deinen Couverts nach, ich habe Deinen letzten Brief offen bekommen, wahrscheinlich hast Du nicht bemerkt, daß die Enveloppe keinen Gummi hatte. Was macht Hermann,777Hermann Kappeler junior (1858-1931), älterer Bruder Hedwigs. Ab 1892 verheiratet mit Maria Ida Ernestine Aepli (1866-1964); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen er wird doch meinen Brief erhalten haben, warum schreibt er mir nie, das wäre doch gewiss keine so fürchterliche Arbeit. Ich wünsche mir einen neuen Geigenbogen auf Weihnachten, zweifle jedoch an der Erfüllung dieses Wunsches, es ist wirklich etwas viel verlangt, aber Kahl778Joseph Oskar Kahl (geb. 1843), Konzertmeister und Lehrer an der damals neugegründeten Musikschule Zürich. Kahl ist Hedwigs Geigenlehrer in Zürich. Er ist verheiratet mit Ida Kempin, einer Schwester von Walter Kempin-Spyri und somit Schwägerin von Dr. Emilie Kempin-Spyri, der ersten Juristin der Schweiz, Nichte von Johann Bernhard Spyri. Wohnhaft Zeltweg 27; BB 1879, 219; Zürcher Adressbuch 1877.schliessen sagte mir ich sollte einen neuen Bogen haben, der sei ja ganz ausgespielt u. habe keine Spannung mehr, weshalb [4] ich verschiedene Stricharten gar nicht spielen kann. Aber wenn ich ihn auch nicht auf Weihnachten bekomme, geschieht es hoffentlich später, ich hätte nur gerne, daß Kahl selbst ihn aussuchen würde, daß ich dann einen Guten bekomme. Daneben wünsche ich mir noch einen Muff u. einen Geigenhalter, das heißt 3 Fr. Ich werde ihn dann selbst kaufen wie es mir paßt. Es wird gewiß schwere Tage absetzen, wenn man so viel Geld braucht, auch [ich] muß wieder haben u. werde deshalb Vater noch einige Zeilen schreiben. Drum könnte man mir den Bogen auch aus dem Zins von dem Sparkassengeld kaufen u. dann das nöthige noch darauf thun. Jetzt muß [ich] plötzlich noch schnell auf das Kapitel meinen Aufenthalt in Genf zurückkommen. Du warst vielleicht ein wenig verletzt, daß ich Dir vor meiner Abreise nichts darüber mitgetheilt habe, aber, [ich] dachte es werde noch früh genug sein, wenn Vater Dir die Geschichte erklärt. Scheint Dir der Plan nicht auch gut, wenn sich nur das findet, was man wünscht. Jetzt muß ich leider mein Geplauder abschließen, da ich noch an Vater schreiben will. Bitte grüße mir Alle recht herzlich. Die l[ieben] Grosseltern779Johann Jakob Wüest (1792-1885), Postdirektor und Oberrichter, und Maria Wüest-Merkle (1795-1887), Hedwigs Grosseltern mütterlicherseits; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen Tanten u. Onkeln780Hedwig grüsst die in Frauenfeld lebenden Tanten und Onkeln - väterlicherseits: Johann Rudolf Kappeler ("Onkel Rudolph") und mütterlicherseits: Anna Friederike Wüest ("Tante Nette"), Jakob Hermann Wüest ("Onkel Hermann"), Natalie Labhardt-Wüest ("Tante Natalie") und Emil Wüest ("Onkel Emil"); vgl. Stammbäume Kappeler und Wüest, Materialien.schliessen u. die l[ieben] Geschwister.781Henriette (1856-1916), Hermann (1858-1931), Ernst (1865-1936) und Otto Kappeler (1869-1935). Ernestine (1857-1897) ist gemäss dem vorliegenden Brief in Lausanne (s. oben).schliessen

Empfange aber Du vor allem herzliche Grüße u. Küsse zu Deinem Geburtstag,
von Deinem treuen Kinde Hedwig

Ich werde morgen in Gedanken Dein Geburtstagsfest mitfeiern.

[2 am Rd.] Grüße mir auch Lisbeth782Lisbeth, im Brief HK1 "Lisabeth", wird in zehn Briefen von Hedwig gegrüsst. Sie ist offensichtlich die Hausangestellte bei Familie Kappeler-Wüest in Frauenfeld, die aber sehr familiär behandelt wird u. z.B. auch ein Foto von Hedwig bekommt (vgl. HK12 und 13). Gemäss HK35 wohnt sie im Dachstock von Hedwigs Elternhaus.schliessen etc. u. schreibe mir wenn ihr Wünsche habt, daß ich meine Sachen schicken kann, da ich noch einige Schachteln zum Zurücksenden habe. [4 am Rd.] Viele Grüße von Herr u. Frau Spyri.