Edition – drei Briefgruppen

Brief HK9 – 12.9.1876
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HK9 12.9.1876
Zürich den 12. September [18]76
Meine l[iebe] Mutter!

Wurde heute Mittag sehr überrascht, von der schnellen Rückkehr meines Koffers. Meinen besten Dank für Deinen l[ieben] Brief, u. namentlich für die herrlichen "Guteli".236"Guzeli", "Guteli", "Gutzeli", "Guetzli": schweizerdeutsch für kleines Gebäck.schliessen Du kannst kaum begreifen mit welchem Heißhunger ich sofort einige verschlang mit dem herrlichen Gedanken, daß sie von Dir gemacht waren. Es war[en] wohl wenige, die mich aber desto mehr gefreut haben. Daß Du mir das weiße Piquet237"Piquet" für "Piqué": ein meist baumwollenes Gewebe mit abwechselnd erhöhten und vertieften Stellen.schliessen Kleid wieder geschickt hast finde ich sonderbar; denn tragen kann ich es nicht mehr, da füllt es nur meinen Platz unnützerweise aus. Mit den Schuhen bin ich ziemlich zufrieden. Nur die Absätze sind nicht schön. Übrigens habe ich doch gewiß wenig Wäsche gebraucht, nicht wahr?

Die Berichte wegen der Musikschule238Hedwig Kappeler besuchte die damals auf Initiative von Friedrich Hegar neugegründete Musikschule Zürich, aus der sie offenbar austreten wollte, um fortan, zumindest was ihren Geigenunterricht betraf, Privatstunden bei Oskar Kahl zu nehmen (vgl. HK8-11). Der Geigenunterricht an der Musikschule fand in Klassen zu drei bis vier Schülern statt; Gottfried Lochbrunner, Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum der Musikschule in Zürich, 6-9).schliessen haben mich natürlich sehr beschäftigt, u. so konnte ich nicht unterlassen, dieselben Frau Spyri mitzuteilen. Sie selbst ist ganz meiner Ansicht u. auch Herr B[ernhard] Sp[yri]239Diethelm Bernhard Spyri (1855-1884), einziger Sohn von Johann Bernhard Spyri und Johanna Spyri-Heusser. Studium der Rechte in Zürich, Leipzig (1875/76) und Göttingen (1877/78), während kurzer Zeit Tätigkeit als Sekretär der kaufmännischen Gesellschaft Zürich. Studium und Arbeit werden immer wieder durch Krankheit und Kuraufenthalte unterbrochen. Bernhard stirbt knapp 29jährig an Tuberkulose.schliessen so daß sie [2] die Sache ganz energisch an die Hand genommen hat u. gestern sogar so gut war zu Herrn Kahl240Joseph Oskar Kahl (geb. 1843), Konzertmeister und Lehrer an der damals neugegründeten Musikschule Zürich. Kahl ist Hedwigs Geigenlehrer in Zürich. Er ist verheiratet mit Ida Kempin, einer Schwester von Walter Kempin-Spyri und somit Schwägerin von Dr. Emilie Kempin-Spyri, der ersten Juristin der Schweiz, Nichte von Johann Bernhard Spyri. Wohnhaft Zeltweg 27; BB 1879, 219; Zürcher Adressbuch 1877.schliessen zu gehen um mit ihm darüber zu sprechen. Nicht wahr, das ist doch sehr artig von ihr? Sie wird Dir H[errn] K[ahls] Ansichten schon mitteilen, da sie auch schon mit der Antwort auf Deinen Brief beschäftigt ist. Was ich gern hätte weißt Du, l[iebe] Mutter u. wirst mich auch begreifen. Wenn ich Dich nur so beim Üben herbeizaubern könnte, um mich bei den falschen Tönen, die leider noch oft vorkommen, zu tadeln. Du kannst versichert sein, daß ich Dir dann 1000 mal danken würde dafür, während ich früher wirklich sehr unartig wurde gegen Dich, was ich aber schon längst bereue u. Dich jetzt noch um Verzeihung bitte. Du kannst sicher sein daß ich mich fleißig übe, jeden Tag eine Stunde u. wenn ich kann eher noch mehr, nur damit etwa der l[iebe] Vater od. H[err] Keller241Emil Keller (1838-1900), Musikdirektor, Musiklehrer an der Kantonsschule in Frauenfeld, Ehemann von Aline Keller-Kappeler (1846-1915), Hedwigs Halbschwester, Tochter von Oberst Kappeler aus erster Ehe; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen meinen ich sei etwa nicht fleißig genug etc. auch ist H[err] K[ahl] damit vollständig zufrieden wie er Fr. Sp[yri] gesagt hat. Was braucht es mehr? Muß ich eine Künstlerin werden? Das kann unmöglich Eure Absicht sein. Übrigens kommt es auf die Art, mit [3] der Privatstunde neben der Musikschule ebenso teuer wie Privatstunden allein. Auch möchte ich fragen, was dem l[ieben] Vater nun Freude mache, mich ein Stück spielen zu hören od. eine Etüde. Bis jetzt ist nämlich an der Musikschule von einem Stück keine Rede gewesen. Letzten Sonntag war in der Musikschule ein Konzert von unseren Schülern, wo aber auch Herr Direktor Hegar242Eduard Ernst Friedrich Hegar (1841-1927), Geiger und Komponist. In Zürich ab 1863 Leiter des Tonhalle-Orchesters, Theaterkapellmeister, Dirigent verschiedener Chöre, 1876-1915 Mitbegründer und erster Direktor der Zürcher Musikschule. Hegar prägte das Zürcher Musikleben nachhaltig und brachte hervorragende Interpreten und Komponisten wie seinen Freund Johannes Brahms, aber auch Clara Schumann und Pablo de Sarasate nach Zürich. Wohnhaft an der Plattenstrasse 28; Schweizer Musikbuch, Bd. 2, 88-90; HLS VI, 186f.schliessen spielte, den ich bei dieser Gelegenheit hörte. Das Ganze war sehr nett u. darunter jedenfalls gute Musikanten. Herr Widmer243Hier handelt es sich eher nicht um Julius Widmer (geb. 1835), Kantonsrat, Ehemann von Hedwig Kappelers Cousine väterlicherseits Margaretha Louise Grob (geb. 1840), der ältesten Tochter von Hermann Kappelers Schwester Louisa Elisabetha Grob-Kappeler (1815-1892) und Johann Jacob Grob (1812-1881), Arzt aus Lichtensteig (vgl. HK4); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen ist aber noch nicht aufgetreten, hingegen wurde ein sehr schönes Trio von Beethoven gespielt, eine Musikschülerin, die wirklich viel Fertigkeit hat, spielte Klavier. H[err] Hegar Violin u. ein anderer Herr, den ich nicht kannte Violoncell. Es war wirklich schön. H[err] Heg[ar] spielte wirklich gut, so fein u. edel, weißt Du keine kratzige Töne, alles so zart u. weich u. rein. Wenn ich nur ein besseres Gehör hätte, immer u. immer muß ich wieder zu dem Gedanken kommen, daß ich so es niemals weit bringen kann, was mich oft ganz trostlos macht. Sonntag Abends war ich zum Thee bei Frau Scholder244Henriette Scholder-Develay (1824-1901), Jugendfreundin von Johanna Spyri, verheiratet mit Hermann Scholder (1828-1901), Bankier. Die Familie Develay stammte aus Yverdon und war Johanna Spyris Gastfamilie während ihres Welschlandjahrs. Frau Scholder wohnte 1876 an der Gerechtigkeitsgasse 17 (beim Selnau), dann an der Bahnhofstrasse 48/Augustinergasse 29, im selben Haus, in dem Johanna Spyri nach dem Auszug aus dem Stadthaus 1885/86 wohnte.schliessen eingeladen u. mußte da mit [4] Elisabeth245Elisabeth Konstanze Scholder (geb. 1859), Tochter von Henriette Scholder-Develay und Hermann Scholder, lebt später als Frau Dr. Morel in Zürich-Enge. Henriette Scholder-Develay war Johanna Spyris Freundin aus deren Welschlandzeit, die Familie Develay stammte aus Yverdon und war damals die Gastfamilie der jungen Johanna Heusser.schliessen spielen. Es war ein ganz netter Abend. H[err] B[ernhard] Sp[yri]246Diethelm Bernhard Spyri (1855-1884), einziger Sohn von Johann Bernhard Spyri und Johanna Spyri-Heusser. Studium der Rechte in Zürich, Leipzig (1875/76) und Göttingen (1877/78), während kurzer Zeit Tätigkeit als Sekretär der kaufmännischen Gesellschaft Zürich. Studium und Arbeit werden immer wieder durch Krankheit und Kuraufenthalte unterbrochen. Bernhard stirbt knapp 29jährig an Tuberkulose.schliessen kann jetzt auch wieder geigen. Er hat es wirklich schon sehr gut los. Hat aber auch bei einem guten Lehrer Stunden gehabt, bei einem H[errn] Meisel,247Evtl. handelt es sich um ein Mitglied der bekannten sächsischen Geigenbauerfamilie Meisel aus Klingenthal im Vogtland. "C. Meisel, Musiker" figuriert in den Akten des Universitätsarchivs Leipzig, da er für den wegen seiner Krankheit bereits vorzeitig nach Zürich zurückgekehrten Diethelm Bernhard Spyri am 17. Oktober 1876 dessen Sittenzeugnis in Empfang nahm; Sittenzeugnis Diethelm Bernhard Spyri, Universitätsarchiv Leipzig. - Laut den Leipziger Adressbüchern war Meisel Mitglied des Stadtorchesters; Mitteilung Petra Oelschlaeger, Staatsarchiv Leipzig, 21.7.2009.schliessen dann hat er im Gewandhaus sehr viel schöne u. klassische Musik, berühmte Geiger, wie Joachim,248Joseph Joachim (1831-1907), ungarischer Violinist, Dirigent und Komponist. Neben seiner Hochschultätigkeit leitete Joachim das nach ihm benannte Joachim-Quartett (Carl Halir, Robert Hausmann, Joseph Joachim, Emanuel Wirth) und wurde einer der Hauptrepräsentanten der deutschen Musikkultur zum Ende des 19. Jahrhunderts. Er gehörte zu den engeren Freunden von Clara Schumann und Johannes Brahms; MGG VII, Sp. 56f.schliessen Sevcik249Unsichere Lesung. Otakar Šev?ík (1852-1934), tschechischer Violinist und Musikpädagoge; Riemann Musik-Lexikon II, 676f.schliessen etc. gehört, was auch sehr gut ist. Er ist aber noch immer nicht ganz gesund, u. muß auch bei solchem Wetter immer zu Hause bleiben. Frau Ulrich250Anna Elisabetha Dorothea (Netti) Ulrich-Heusser (1825-1907), Schwester von Johanna Spyri, verheiratet mit Friedrich Salomon Ulrich. Anna ist die einzige der drei Schwestern Johanna Spyris, die wie sie in Zürich lebte und zu der sie zeitlebens engen Kontakt pflegte.schliessen ist endlich wieder zurückgekehrt, habe sie aber noch nie gesehen. Zu Frau Thomann werde ich nächstens einmal gehen. Denk heute Morgen wurde ich durch einen Brief von J.B. höchlichst überrascht. Werde ihr nun natürlich sobald wie möglich antworten. Ich danke Dir auch noch vielmals, daß Du Frau Sp[yri] eingeladen [hast]. Sie wird wahrscheinlich kommen u. Du wirst dann sehen wie angenehme Tage wir dann miteinander verleben können. Auch der l[iebe] Vater wird dann wieder von ihr aufgeheitert. Wie schnell vergeht doch die Zeit, es wird noch höchsten[s] 2-3 Wochen dauern u. ich werde Dir wieder einen saftigen, lieben Nachtkuß von Dir empfangen während ich denselben jetzt nur in Gedanken erhalten muß.

Sei Du tausendmal geküßt u. gegrüßt sowie der l[iebe] Vater von Deinem treuen Kinde
Hedwig

[1 am Rd.] Bin jetzt ganz ins Lesen der "Elisabeth" von N.251Vermutlich Marie von Nathusius, Elisabeth. Eine Geschichte, die nicht mit der Heirath schliesst, 1858; Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur II, 533f.schliessen vertieft. Du erinnerst Dich vielleicht noch, als Du mich einst im Salon daran ertapptest u. mich der angenehmen Lektüre beraubtest. [2 am Rd.] Weißt Du nicht wann Sophie Grob252Vermutlich Sophie Henriette Grob (1847-1917), Hedwig Kappelers Cousine väterlicherseits, Tochter von Oberst Hermann Kappelers Schwester Louisa Elisabetha Grob-Kappeler (1815-1892) und Johann Jacob Grob (1812-1881), Arzt aus Lichtensteig; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen hieher kommt? Von Lydia Mäggi habe [ich] noch nichts gesehen, könntest Du mir nicht ihre Adresse verschaffen, ich möchte sie gern einmal sehen. [3 am Rd.] Vergesse mir auch nicht die l[ieben] Grosseltern,253Johann Jakob Wüest (1792-1885), Postdirektor und Oberrichter, und Maria Wüest-Merkle (1795-1887), Hedwigs Grosseltern mütterlicherseits; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen Tanten, Vettern u. Basen zu grüßen. [3 oben] Mit Schrecken sehe ich, daß ich schon wieder so schlecht geschrieben, aber wenn ich einmal in Eifer gerathe schreibe ich eben tapfer drauf los u. vergesse das Schönschreiben ganz. [2 oben] Letzte Woche wollte mich K. Vetter254Unsichere Lesung. Vermutlich ein Verwandter von Frau Pfarrer Johanna Hafner-Vetter (geb. 1807), wohnhaft in Greifensee. Siehe dazu auch HK27.schliessen auf der Durchreise nach Greifensee255In Greifensee wirkte Pfarrer Rudolf Friedrich Hafner (1830-1913). Seine Mutter war Frau Pfarrer Johanna Hafner-Vetter (geb. 1807) von Stein, Witwe von Pfarrer Friedrich Ludwig Hafner (1802-1833); ZhPfrB, 315, 317.schliessen besuchen, da war ich zu meinem größten Ärger gerade bei Prof. Schröters.256Luise Schröter-Hauer (geb. 1823), Witwe von Moritz Schröter (1813-1867), Professor für Maschinenbau und Maschinenkonstruktion am Eidgenössischen Polytechnikum von 1865 bis 1867. Nach dem frühen Tod ihres Mannes, vermietete sie Pensionszimmer, um die Familie zu versorgen. 1868 wurde ihr und den fünf Kindern (geb. 1851-1861) - darunter der später bekannte Botaniker Carl Schröter (1855-1939) - von der Stadt Zürich das Bürgerrecht geschenkt. Wohnhaft Neue Plattenstrasse, Fluntern (eingemeindet 1893); HBLS VI, 245; www.ethbib.ethz.ch/aktuell/galerie/schroeter, 20.1.2011; Zürcher Adressbücher 1875/77.schliessen [4 am Rd.] Herzliche Grüsse an die ganze Familie Klein u. Groß. Sei so gut u. sage den beiden Schwestern,257Henriette (1856-1916) und Ernestine Kappeler (1857-1897); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen daß ich längst Briefe erwarte von ihnen und denk an die Marken um die ich gebeten