Edition – drei Briefgruppen

Brief HK6 – 9.8.1876
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HK6 9.8.1876
Zürich, den 9. August [18]76
Meine lieben Eltern!

Am Montag Morgen langte ich nach einer langweiligen Fahrt glücklich hier an,107Die Sommerferien, welche Hedwig Kappeler in Frauenfeld bei ihrer Familie verbracht hat, sind vorbei, und Hedwig kehrt zurück nach Zürich.schliessen fand aber niemand am Bahnhof.108Der Zürcher Hauptbahnhof war im Herbst 1871 eingeweiht worden. Das neue, heutige Gebäude ersetzte den ersten Bahnhof von 1847.schliessen Herrn Spyri109Johann Bernhard Spyri (1821-1884), Stadtschreiber von Zürich und Ehemann von Johanna Spyri; vgl. Regine Schindler, Spurensuche, 349 und Stammbaum, 341; HBLS VI, 484.schliessen traf ich gerade beim Kaffee; er war sehr artig u. freundlich mit mir. Nachdem ich dann den kleinen Koffer ausgepackt, war es gerade Zeit, in die Schule zu gehen, drei sehr angenehme Stunden, Geschichte u. Italienisch. Um 11 Uhr hatte ich gerade noch rechte Zeit zu üben u. dann den Tisch zu decken. Herr Spyri hat mich jetzt an Frau Spyris Platz versetzt.110Johanna Spyri ist zurzeit in Dänemark bei ihrer Freundin Helga Kjaer, später Feddersen (vgl. EK3). Danach holt sie ihren kranken Sohn in Leipzig (vgl. EK4).schliessen Am Mittagessen war er wieder sehr freundlich u. ziemlich gesprächig. Nachmittags hatte ich wieder zwei Stunden bis 4 Uhr u. mußte dann von 6-7, nachdem ich meine Aufträge besorgt, in die Chorgesangsstunde. Das Theetrinken war schrecklich langweilig, nur so mit Sina.111Haushaltshilfe von Johanna Spyri, die Vorgängerin von Vreneli Vogelsanger.schliessen Denkt ich empfing den großen Koffer Montag abends.

[2] Gestern mußte ich um 8 Uhr in die Schule bis 11 worauf ich noch lernte; nachmittags übte ich mich auf dem Violin u. ging um 4 Uhr in die Musikstunde, die ziemlich gut ablief. Dann machte ich einen Besuch bei Frau Prof. Schröter,112Luise Schröter-Hauer (geb. 1823), Witwe von Moritz Schröter (1813-1867), Professor für Maschinenbau und Maschinenkonstruktion am Eidgenössischen Polytechnikum von 1865 bis 1867. Nach dem frühen Tod ihres Mannes, vermietete sie Pensionszimmer, um die Familie zu versorgen. 1868 wurde ihr und den fünf Kindern (geb. 1851-1861) - darunter der später bekannte Botaniker Carl Schröter (1855-1939) - von der Stadt Zürich das Bürgerrecht geschenkt. Wohnhaft Neue Plattenstrasse, Fluntern (eingemeindet 1893); HBLS VI, S. 245; www.ethbib.ethz.ch/aktuell/galerie/schroeter, 20.1.2011; Zürcher Adressbücher 1875/77.schliessen die ich ganz allein zu Hause fand. Sie war sehr liebenswürdig u. lud mich ein öfters zu ihnen zu kommen. Abends um acht Uhr holte mich Herr Spyri ab, um mit ihm in die Tonhalle113Die alte Tonhalle in Zürich stand auf dem heutigen Sechseläutenplatz schräg gegenüber dem alten Stadthaus am anderen Seeufer und war 1839 als Kornhaus erbaut worden, wurde aber von 1860 an als Synagoge, Fechtboden, Holzlager u. ä. benutzt. Anlässlich des Eidgenössischen Musikfestes 1867 wurde das Kornhaus umgebaut und diente bis zur Eröffnung der neuen Tonhalle im Oktober 1895 als Konzertsaal. 1896 wurde das ehemalige Kornhaus abgerissen; Samuel Zurlinden, Hundert Jahre Stadt Zürich, Bd. 2, 100f.; ausserdem Walter Baumann et al., Zürich zurückgeblättert, 176 zu Abb. 38 und 179 zu Abb. 57; Jürg Fierz, Zürich - wer kennt sich da noch aus?, 99.schliessen zu gehen. Wir saßen im Freien wo wir Herrn u. Frau von Marschall mit ihrem Sohn114Hermann Marschall (geb. 1812) und Adelheid Wilhelmine Auguste Marschall-von Sonnenberg (geb. 1822) sowie deren jüngster Sohn Roland Erich Marschall (geb. 1859), wohnhaft Stadelhoferplatz 8; BB 1875, Niedergelassene, 232.schliessen trafen und die Musik war ganz hübsch u. zum Schluss wurde noch ein Marsch von Emil Keller115Emil Keller (1838-1900), Musikdirektor, Musiklehrer an der Kantonsschule in Frauenfeld, Ehemann von Aline Keller-Kappeler (1846-1915), Hedwigs Halbschwester, Tochter von Oberst Hermann Kappeler aus erster Ehe; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen gespielt, Du kannst es ihm dann sagen. Um halb elf Uhr gingen wir beim prachtvollsten Mondschein nach Hause.

Heute war ich wieder in der Schule, hatte aber den Nachmittag frei. Abends wollte ich zu Frau Thomann gehen, fand sie aber nicht zu Hause. Die Magd sagte mir sie wolle ins Badische verreisen, ich verstand aber den Namen des Ortes nicht. Bitte schreibe mir ob ich vor ihrer Abreise noch einmal hingehen soll. Dann ging ich zu Fräulein Spyri116Anna Maria Magdalena (Mädeli) Spyri (1833-1877), "Fräulein Spyri", Halbschwester von Johann Bernhard Spyri. Hatte nie einen eigenen Wohnsitz, sondern lebte bei verschiedenen Verwandten in Zürich, auf dem Hirzel, in Richterswil, am Schluss in Teufen; vgl. Regine Schindler, Spurensuche, 176ff.schliessen im Selnau,117Quartier von Zürich, ca. 1 km südlich des Hauptbahnhofs, zwischen Schanzengraben u. linksufriger Zürichseebahn. Gehörte seit 1853 zur Stadt, befand sich aber ausserhalb der alten Stadtbefestigung. Kommt bei Johanna Spyri immer wieder als Wohnort ihrer Schwester Anna Ulrich-Heusser, genannt "Netti", vor. 1876 wohnt Mädeli Spyri bei der Familie Ulrich-Heusser und führt den Haushalt.schliessen die ebenfalls sehr [3] freundlich war u. mir sagte Frau Ulrich118Anna Elisabetha Dorothea (Netti) Ulrich-Heusser (1825-1907), Schwester von Johanna Spyri, verheiratet mit Friedrich Salomon Ulrich. Anna ist die einzige der drei Schwestern Johanna Spyris, die wie sie in Zürich lebte und zu der sie zeitlebens engen Kontakt pflegte.schliessen sei in Châtel ob Ollon119Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beliebter Winter- und Sommerkurort (1200 m ü. M.) in der politischen Gemeinde Ollon, Kanton Waadt.schliessen nicht so weit von Aigle auf der Höhe. Von Frau Spyri weiss ich nichts Näheres, es ist auch noch nicht bestimmt wann sie heimkommt u. ob sie ihren Sohn120Diethelm Bernhard Spyri (1855-1884), einziger Sohn von Johann Bernhard Spyri und Johanna Spyri-Heusser. Studium der Rechte in Zürich, Leipzig (1875/76) und Göttingen (1877/78), während kurzer Zeit Tätigkeit als Sekretär der kaufmännischen Gesellschaft Zürich. Studium und Arbeit werden immer wieder durch Krankheit und Kuraufenthalte unterbrochen. Bernhard stirbt knapp 29jährig an Tuberkulose. - In diesem Kommentar wird der Sohn Johanna Spyris bei vollständiger Namensnennung konsequent als Diethelm Bernhard bezeichnet - im Unterschied zu der in Teilen der bisherigen Spyri-Forschung gängigen Bezeichnung Bernhard Diethelm Spyri, die wohl auf den Rufnamen Bernhard zurückzuführen ist. Todesanzeige, Grabstein etc. legen die hier gewählte Reihenfolge nahe.schliessen mitbringt.121Diethelm Bernhard Spyri befindet sich 1876 zum Studium in Leipzig, wo ihn seine Mutter krankheitshalber abholt (vgl. EK4).schliessen Es ist so still u. langweilig ohne sie, daß ich wirklich Heimweh bekomme u. lieber noch einige Zeit zu Hause geblieben wäre. Was macht Ihr doch alle? Habt Ihr wieder Bericht von Henriette122Henriette Kappeler (1856-1916), älteste Schwester von Hedwig, heiratet am 10. April 1880 Theophil Studer, Professor für Zoologie in Bern; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen u. wann wird Aline123Aline Keller-Kappeler (1846-1915), Tochter von Oberst Hermann Kappeler aus erster Ehe und somit Halbschwester Hedwigs, verheiratet mit Musikdirektor Emil Keller; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen heimkommen? Hat Tante Natalie124Natalie Labhardt-Wüest (1823-1904), Hedwig Kappelers Tante mütterlicherseits, Schwester von Aline Kappeler-Wüest und Witwe von Philipp Gottlieb Labhardt; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen die Karte nicht bekommen, daß sie so lange nicht antwortet? Ich muß doch wohl dem Goldschmied die Antwort geben. Denkt den Husten habe ich plötzlich ganz verloren, dagegen bekomme ich ein "Gretchen"125"Gritli": schweizerdeutsch für Gerstenkorn am Auge.schliessen am Aug, was sehr unangenehm ist. Ich war schon letzten Montag bei Herr[n] Kappeler,126Vermutlich Johann Jakob Kappeler, alt Müller (1808-1882), Cousin von Oberst Hermann Kappelers erster Frau Henriette. Wohnhaft Tiefenhöfe 8/Thalgasse 29, in der Nähe des Stadthauses; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien.schliessen fand ihn aber nicht zu Hause, jetzt kann ich vor Samstag [nicht] wieder hingehen, da ich niemals von 11-12 da er zu Hause ist, frei habe. Was macht Ihr alle? Bist Du l[iebe] Mutter in Grosspapas127Johann Jakob Wüest (1792-1885), Postdirektor und Oberrichter, Hedwigs Grossvater mütterlicherseits, welcher im Bernerhaus wohnt; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen Garten? Wann wird Tante Natalie128Natalie Labhardt-Wüest (1823-1904), Hedwig Kappelers Tante mütterlicherseits, Schwester von Aline Kappeler-Wüest und Witwe von Philipp Gottlieb Labhardt; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen wieder von ihrer Last, den Baslerbuben129Die Familie Labhardt stammt aus Steckborn. Ein Zweig der Familie hat sich in Basel eingebürgert. Die Baslerbuben sind vermutlich Neffen von Natalie Labhardt-Wüest.schliessen [4] befreit? Sie wird wohl froh sein, wenn sie wieder allein ist. Ist Klara Keller130Clara Keller (geb. 1872), Tochter von Hedwigs Halbschwester Aline Keller-Kappeler und Emil Keller; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen wieder das alte Läuselchen? od. hat Alma131Alma Keller (geb. 1867), Tochter von Hedwigs Halbschwester Aline Keller-Kappeler und Emil Keller; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen einige Authorithät über sie. Sei so gut u. sage Ernestine132Ernestine Kappeler (1857-1897), ältere Schwester Hedwigs. Ab 1883 verheiratet mit Friedrich Benedikt Brügger, Bürger von Churwalden. Sie starb am 14. Oktober 1897 an einer Bronchitis mit Lungenentzündung; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen daß sie mir noch einmal eine Photographie von Marie Kappeler133Marie Luise Kappeler (geb. 1856), Hedwigs Cousine väterlicherseits, Tochter von Johann Rudolf Kappeler und Maria Katharina (Marie) Kappeler-Kessler. Heiratet am 3. Oktober 1877 Heinrich Adolf Bremi; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen bettelt. Auch wäre es mir sehr lieb wenn man mir endlich in mein Album schreiben würde, es geht so schrecklich lang. Beim Auspacken entdeckte ich, daß mein Poesie-Album fehlte, das sich wahrscheinlich noch in Ernestines134Ernestine Kappeler (1857-1897), ältere Schwester Hedwigs. Ab 1883 verheiratet mit Friedrich Benedikt Brügger, Bürger von Churwalden. Sie starb am 14. Oktober 1897 an einer Bronchitis mit Lungenentzündung; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen Pult befindet.

Gebadet habe ich noch nie, ich hatte niemand der mit mir ginge u. ganz allein mag ich auch nicht unter so viel Fräulein, von denen ich keine einzige kenne.135Es gab damals eine Badeanstalt für Frauen am See bei den Stadthausanlagen; Stadtplan in: Samuel Zurlinden, Hundert Jahre Stadt Zürich, Bd. 2, nach 110.schliessen Mein Badthuch muß noch zu Hause sein, hier ist es nirgends u. ich erinnere mich nun ganz deutlich, daß ich dasselbe mitgenommen habe um es in den Ferien zu zeichnen,136Es war damals üblich, die eigenen Kleidungs- und Wäschestücke zur Kennzeichnung mit kleinen eingestickten Initialen zu versehen.schliessen wahrscheinlich ist es unter andere Sachen gekommen.

Otto137Otto Kappeler (1869-1935), Hedwigs jüngster Bruder. Ab 1901 verheiratet mit Marie Pauline Stierlin (1877-1954); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen und Ernst138Ernst Kappeler (1865-1936), jüngerer Bruder Hedwigs, bis 1893 Vikar im Thurgau, im Winter 1893/94 in Montreux, ab 1894 Pfarrer in Neunforn, nach dem frühen Tod seiner Frau (1905) von 1908-1931 in Zollikon. Ab 1896 verheiratet mit Marie Stephanie van Vloten (1874-1905); ZhPfrB, 372; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen werden jetzt auch wieder in die Schule gehen.

Viele tausend Grüße und Küsse an alle u. besonders an Euch von Eurer dankbaren Tochter
Hedwig

[4 am Rd.] Viele Grüße an die Grosseltern139Johann Jakob Wüest (1792-1885), Postdirektor und Oberrichter, und Maria Wüest-Merkle (1795-1887), Hedwigs Grosseltern mütterlicherseits; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen und Tante140Anna Friederike Wüest (1821-1920), Hedwigs Tante mütterlicherseits, wohnhaft im Bernerhaus; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen im Bernerhaus,141Spätbarockes Herrschaftshaus in Frauenfeld, im 18. Jahrhundert Quartier der Tagsatzungsgesandten aus Bern, heute Bankplatz 5; Beat Gnädinger/Georg Spuhler, Frauenfeld, 267-270. - Wohnsitz der Grosseltern mütterlicherseits, Johann Jakob Wüest (1792-1885) und Maria Wüest-Merkle (1795-1887) sowie von Hedwigs unverheiratetem Onkel Jakob Hermann Wüest (1822-1919) und der ledig gebliebenen Tante Anna Friederike Wüest (1821-1920).schliessen so wie an Herr[n] Keller.142Emil Keller (1838-1900), Musikdirektor, Musiklehrer an der Kantonsschule in Frauenfeld, Ehemann von Aline Keller-Kappeler (1846-1915), Hedwigs Halbschwester, Tochter von Oberst Kappeler aus erster Ehe; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen Auch Lisbeth143Lisbeth, im Brief HK1 "Lisabeth", wird in zehn Briefen von Hedwig gegrüsst. Sie ist offensichtlich die Hausangestellte bei Familie Kappeler-Wüest in Frauenfeld, die aber sehr familiär behandelt wird u. z.B. auch ein Foto von Hedwig bekommt (vgl. HK12 und 13). Gemäss HK35 wohnt sie im Dachstock von Hedwigs Elternhaus.schliessen und Marie144Marie ist vermutlich ein Hausmädchen der Familie Kappeler-Wüest (vgl. HK1 und HK29, wo sie jeweils zusammen mit Lisbeth gegrüsst wird).schliessen nicht vergessen.