Edition – drei Briefgruppen

Brief HK5 – 17.-18.6.1876
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HK5 17.-18.6.1876
Zürich, den 17. Juni, 1876
Meine l[iebe] Mutter!

Endlich habe ich wieder einmal einen angenehmen Sonntag vor mir, denn die letzten war ich immer mit Aufgaben beschäftigt, auch der Aufsatz hat mir viel Zeit weggenommen, weshalb ich nicht früher schreiben konnte.

Ich war ganz betrübt von den schrecklichen Nachrichten von Frauenfeld u. Umgebung, kann überhaupt gar nicht begreifen, daß die sonst so unschuldige Murg solche Verheerungen anrichten konnte.89Im Juni 1876 erlitten weite Gebiete in der Deutschschweiz schwere Hochwasserschäden, am stärksten betroffen war die Ostschweiz. In Frauenfeld trat in der Nacht vom 10. auf den 11. Juni die Murg über die Ufer und richtete verheerende Schäden an; sie riss Brücken mit, beschädigte Strassen und Häuser und zerstörte Kulturland, Frauenfeld war eine Zeitlang von der Umwelt weitgehend abgeschnitten; Beat Gnädinger/Georg Spuhler, Frauenfeld, 98-109.schliessen Hier war der See u. die Limat auch sehr groß, aber hat nirgends gerade Schaden angerichtet. Man möchte fast glauben es wolle nie mehr schön werden; denn auch heute ist hier wieder ein sehr regnerischer Tag. Gestern war Emil90Emil Labhardt (geb. 1856), Hedwig Kappelers Cousin mütterlicherseits, Sohn von Gottlieb Labhardt und Natalie Labhardt-Wüest; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen schnell bei mir. Er brachte mir Grüße von Euch u. ich hoffte auch Geld, aber von dem wusste er nichts. Habt Ihr denn meinen Brief nicht bekommen? Ich sollte nämlich spätestens bis Freitag das Geld an der Musikschule91Hedwig Kappeler besuchte die damals auf Initiative von Friedrich Hegar neugegründetet Musikschule.schliessen bezahlen u. wartete deshalb immer noch auf einen [2] Brief u. Geld von dem l[ieben] Vater.92Hermann Kappeler (1808-1884), Oberst, Kaufmann und Verwaltungsratspräsident der Thurgauischen Hypothekenbank, Hedwigs Vater; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen Als aber nichts kam, hat mir Frau Spyri welches geliehen, das ich ihr natürlich sobald als möglich zurückgeben möchte. Jetzt habe ich noch 30 Franken. Wenn der l[iebe] Vater nun so gut sein wollte u. mir das Schulgeld schicken, das wie ich schon geschrieben habe 39 Fr. beträgt, so hätte ich hoffentlich noch genug Geld bis zu den Ferien, die mit 9 Juli beginnen.

18. Juni: Bin leider gestern Abend durch eine Gesellschaft aufgehalten worden, den Brief fertig zu schreiben, u. auch heute habe ich nur noch eine kurze Zeit dazu vor mir. Wir gehen nämlich um 12 Uhr mit dem antiquarischen Verein93Die Antiquarische Gesellschaft in Zürich (AGZ) wurde als Gesellschaft des städtischen Bürgertums 1832 von Ferdinand Keller gegründet.schliessen per Dampfschiff nach Wädenschweil, von dort zu Fuß nach einer alten Schlossruine "Burg"94Ruine der Burg "Alt-Wädenswil".schliessen u. dann nach Richterschweil u. von da mit der Eisenbahn951875 war die linksufrige Zürichseebahn dem Verkehr übergeben worden.schliessen nach Hause. Heute ist ein wunderbar schöner Tag. Es ist so schade daß Du jetzt nicht kommen kannst um die prachtvollen Berge vom Erkerchen aus zu betrachten. Gestern Abend waren die beiden Dänen96Bei den zwei Dänen handelt es sich wahrscheinlich um die adeligen Schwestern Sehested von Gut Broholm in Dänemark (vgl. auch HK1). Thyra (1840-1923), Historikerin und Schriftstellerin, und Hilda Sehested (1858-1936), Komponistin, waren die Töchter des Gutsbesitzers und Archäologen Niels Frederik Bernhard Sehested (1813-1882); DBL XIII, 312, 319f., 327. - Dieser war der Halbbruder von Helga Kjaers Vater Erik Wilhelm Kjaer. Helga Josephine Frederikke Kjaer, später Feddersen (1852-1936) aus Kopenhagen war eine Freundin Johanna Spyris, heiratete 1890 Dr. Berend Wilhelm Feddersen (1832-1918), Physiker und Privatgelehrter in Leipzig; Martin Henke, Flinke Funken, 9, 45ff.; NDB V, 40f.). - Johanna Spyri besuchte Helga sowie die "Fräulein von S." im Sommer 1876 in Dänemark (vgl. EK3). Die Italienreise mit den Damen von Sehested erwähnt Johanna Spyri in einem Brief an Bertha von Orelli vom 10. September 1876, vgl. auch JS24. - Als "die beiden Dänen" werden in HK21 aber auch Hans Heirich Dithmer und einer seiner Freunde bezeichnet.schliessen u. die 2 Schwestern Fäsi97Zwei der drei Schwestern Fäsi: Laura Julie (geb. 1855), Maria Martha Eugenie (geb. 1856) und Louise Carolina Elisabeth Fäsi (geb. 1857), Töchter von Georg Heinrich Fäsi (1799-1863), Schülerinnen an der Höheren Töchterschule in Zürich, eine Klasse weiter als Hedwig Kappeler; Verzeichnis der Schülerinnen der Höheren Töchterschule 1875-1893, Klasse II, Schuljahr 1876/77.schliessen hier, es war ein sehr netter Abend, mir hat besonders die jüngere Fäsi sehr gut gefallen, es ist ein so bescheidenes ruhiges Mädchen, jedoch etwa drei Jahre älter als ich. Heute [3] morgen war ich im Fraumünster wo ich Herr[n] Pf[arrer] Zimmermann98Georg Rudolf Zimmermann (1825-1900), seit 1852 Pfarrer am Fraumünster, 1866-1897 Dekan. Seit 1854 im Vorstand der Evangelischen Gesellschaft, von 1876 bis 1893 deren Präsident. Er hielt die Abdankungspredigt bei der Beerdigung von Vater und Sohn Spyri 1884; ZhPfrB, 653; HBLS VII, 664.schliessen predigen hörte. Seine Predigt gefiel mir sehr gut, überhaupt seine ganze Erscheinung u. diese alte Kirche übte einen wichtigen Eindruck auf mich aus. Wem muß ich auch noch Besuche machen? Ich habe außer H[errn] Huber99Wahrscheinlich Peter Emil Huber (1836-1915), Ingenieur und Industrieller, Gründer und Präsident der "Maschinenfabrik Oerlikon", Erbauer der Uetlibergbahn (1872), Begründer der ersten Strassenbahn in Zürich (1882) und des elektrischen Trams (1893), 1878-1894 Mitglied des Verwaltungsrates der Schweizerischen Nordostbahn, zu deren Aktionären Hermann Kappeler gehörte; Hans Staffelbach, Peter Emil Huber-Werdmüller.schliessen niemanden mehr besucht seit Du fort bist. Hat Frau Widemann100Johanna Luise Widemann-Hol (geb. 1824), Frau von Wilhelm Widemann (geb. 1821), Kaufmann, wohnhaft in Küsnacht (vgl. HK22); BB 1875, 375.schliessen mich nicht eingeladen, zu ihr zu kommen? Frau Spyri käme dann mit mir da sie auch Bekannte in Küsnacht besuchen möchte. Es wäre ein so schöner Spaziergang. Ich nehme [mir] zwar noch viel vor, aber ich glaube kaum daß es möglich ist Alles auszuführen, bis ich nach Hause komme, denn die Tage und Wochen fliehen dahin, wie nichts. Ich freue mich ungeheuer wieder bei Euch zu sein. Nicht wahr Du erlaubst mir auch sogleich heimzukommen. Frau Spyri sagte nämlich Du müssest zuerst Einwilligung geben, sonst lasse sie mich nicht fort bis ich meine schriftlichen Aufgaben gemacht habe. Du kannst ganz sicher sein, daß ich zu Hause ganz fleißig daran arbeite bis ich sie vollendet habe, auch suche ich dann einen Theil noch während der Schule zu machen. Nicht wahr Du thust mir den Gefallen und erlaubst es mir, denn Du glaubst mir [wie] sehr ich mich freue wieder nach Hause zu kommen. Vielleicht kämen die Musikschulferien ein wenig ins Geheg, aber das kann man [4] dann schon in Ordnung bringen. Ich habe dann die Wäsche ganz richtig erhalten u. den weißen Korb, nochmals meinen besten Dank dafür. Ich glaube daß ich bis die Ferien beginnen, es noch machen kann ohne die Wäsche zu schicken, werde dann aber den großen Koffer mit mir nehmen. Jetzt kommt es mir darauf an, ob ich den kleinen zurücksenden soll u. die schmutzige Wäsche die ich da habe hineinpacken. Bitte schreibe mir was ich machen soll. Am Pfingstmontag waren wir auf dem Etzel,101Berg am Zürichsee zwischen Richterswil und Einsiedeln, Kanton Schwyz (1'098m ü.M.).schliessen eine komische Partie, von der ich dann mündlich erzählen will, was viel ausführlicher geschieht, überhaupt will [ich] von diesen drei Wochen noch alles aufs Mündliche versparen, weshalb Du Dich auch mit einem kurzen Brief begnügen mußt. Frau Huber102Wahrscheinlich Anna Maria (Nanny) Huber-Werdmüller (1844-1911), Frau von Peter Emil Huber. Engagierte sich im Zürcher Frauenverein für Mässigkeit und Volkswohl (später Zürcher Frauenverein für alkoholfreie Wirtschaften) und war viele Jahre lang dessen Präsidentin; Monique R. Siegel, Weibliches Unternehmertum, 34-61, 249.schliessen hat mit mir immer über eine Einladung zu einem Spaziergang gesprochen die aber bis jetzt entweder wegen schlechtem Wetter o. sonst irgendetwas immer wieder verschoben wurde. Auf nächsten Sonntag bin ich zu Herr Dr. Heussers103Theodor Diethelm Heusser (1822-1893), ältester Bruder von Johanna Spyri, Arzt in Richterswil, und seine Frau Regina Heusser-von Flugi (1827-1897) sowie deren drei überlebende Kinder Theodor Constantin (1852-1905), Meta Regina (1859-1931) und Heinrich Alfons (1862-1902).schliessen nach Richtersweil eingeladen. Ich habe sie bei jener Etzelpartie gesehen, und sie gefielen mir wirklich sehr gut. Auch davon werde ich dann ganz weit und breit erzählen, wenn wir auf der Altane104Balkonartiger Anbau, vom Boden aus gestützt.schliessen od. in der langen Kammer wieder einmal beisammen sind.

Nun lebe wohl l[iebe] Mutter, einen herzlichen Kuß von Deiner Dich innig liebenden Tochter
Hedwig

[4 am Rd.] Bitte verzeihe diesen flüchtigen Brief, aber es war mir wirklich unmöglich, langsamer zu machen. [4 oben] Meine besten Grüße an alle. Dem l[ieben] Vater sowie Henriette105Henriette Kappeler (1856-1916), älteste Schwester von Hedwig, heiratet am 10. April 1880 Theophil Studer, Professor für Zoologie in Bern; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen lasse ich einstweilen vielmals danken für die Briefe u. Zeitungen die mich sehr interessierten. Auch viele Grüße ins Bernerhaus106Spätbarockes Herrschaftshaus in Frauenfeld, im 18. Jahrhundert Quartier der Tagsatzungsgesandten aus Bern, heute Bankplatz 5; Beat Gnädinger/Georg Spuhler, Frauenfeld, 267-270. - Wohnsitz der Grosseltern mütterlicherseits, Johann Jakob Wüest (1792-1885) und Maria Wüest-Merkle (1795-1887) sowie von Hedwigs unverheiratetem Onkel Jakob Hermann Wüest (1822-1919) und der ledig gebliebenen Tante Anna Friederike Wüest (1821-1920).schliessen u. entschuldige mich daß die versprochenen Briefe nie verabfolgt. [1 am Rd.] Sei so gut u. schreibe mir recht bald.