Edition – drei Briefgruppen

Brief HK4 – 12.6.1876
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HK4 12.6.1876
Zürich, den 12. Juni, 18768249. Geburtstag von Johanna Spyri, bleibt aber unerwähnt von Hedwig.schliessen
Mein l[ieber] Vater!

Heute Abend habe ich mit dem größten Schrecken von Herrn Widmer,83Evtl. handelt es sich um Julius Widmer (geb. 1835), Kantonsrat, Ehemann von Hedwig Kappelers Cousine väterlicherseits Margaretha Louise Grob (geb. 1840), der ältesten Tochter von Hermann Kappelers Schwester Louisa Elisabetha Grob-Kappeler (1815-1892) und Johann Jacob Grob (1812-1881), Arzt aus Lichtensteig; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen der gestern in Frauenfeld war, [erfahren], daß mein l[iebes] Heimatstädtchen so großen Schaden erlitten hat.84Im Juni 1876 erlitten weite Gebiete in der Deutschschweiz schwere Hochwasserschäden, am stärksten betroffen war die Ostschweiz. In Frauenfeld trat in der Nacht vom 10. auf den 11. Juni die Murg über die Ufer und richtete verheerende Schäden an; sie riss Brücken mit, beschädigte Strassen und Häuser und zerstörte Kulturland, Frauenfeld war eine Zeitlang von der Umwelt weitgehend abgeschnitten; Beat Gnädinger/Georg Spuhler, Frauenfeld, 98-109.schliessen Ich erwartete deshalb, aber immer vergebens einen Brief mit genaueren Nachrichten über das Unglück. Es ist wirklich schrecklich wie es die ganze Zeit regnet, u. der Himmel den Anschein hat, als habe er nichts weiteres zu thun, als immer seine Regengüsse zum Schaden der Menschen, herabströmen zu lassen. Auch hier ist der See zu einer bedenklichen Höhe gestiegen. Ich kann mir eigentlich, obschon nur im Kleinen das gräßliche Schauspiel, das Ihr vor Augen habt, vorstellen. So etwas hat jedenfalls Frauenfeld seit langer, langer Zeit nicht mehr gesehen, und es dünkt ganz traurig, daß ich wenn ich in die Ferien komme, so verwüstete Gegenden vor mir sehe.

[2] Ich habe den Koffer richtig empfangen u. sage meinen besten Dank für alle l[ieben] Briefe u. alle die Sachen. Ich werde dann das nächste Mal das Absenden des Koffers nach einer Anweisung besorgen, wir können dann den Unterschied sehen. Auch habe ich heute Abend in der Musikschule85Hedwig Kappeler besuchte die damals auf Initiative von Friedrich Hegar neugegründetet Musikschule.schliessen vernommen, daß das Schulgeld jetzt bezahlt werden müsse u. der höchste Termin auf Freitag bestimmt sei. Die Summe beträgt wie ich wahrscheinlich schon geschrieben habe Fr. 39. Besitze aber leider nicht mehr so viel u. bitte Dich mir zu schreiben wie ich es machen soll. Od. wärest Du vielleicht so gut u. würdest mir Geld schicken? Ich werde sobald ich wieder Zeit habe, einen rechten Brief schreiben aber da ich bis heute mit meinem Aufsatz zu schaffen hatte, so wirst Du begreifen daß ich nicht viel vorige86"Voorig", "vorig": schweizerdeutsch für "übrig".schliessen Zeit hatte.

Viele tausend Grüße und Küsse an Euch alle, besonders aber an Dich mein l[ieber] Vater von Deiner Dich innig liebenden
Tochter Hedwig.

Bitte verzeih mir den flüchtigen Brief, aber es ist schon spät u. ich habe ihn wirklich in einer Besorgnis um die l[ieben] Frauenfelder u. in aller Eile geschrieben.

[3] Bitte grüße mir doch alle vielmal u. sage dem l[ieben] Ottoli87Otto Kappeler (1869-1935), Hedwigs jüngster Bruder. Ab 1901 verheiratet mit Marie Pauline Stierlin (1877-1954); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen meinen besten Dank für sein herziges Briefchen, das mich aufs höchste überrascht habe. In höchster Spannung bin ich eines Briefs mit genauer Nachricht gewärtig.

Auch viele Grüße von Frau Spyri. [1 am Rd.] Beiliegendes Siegel ist für Ernstli.88Ernst Kappeler (1865-1936), jüngerer Bruder Hedwigs, bis 1893 Vikar im Thurgau, im Winter 1893/94 in Montreux, ab 1894 Pfarrer in Neunforn, nach dem frühen Tod seiner Frau (1905) von 1908-1931 in Zollikon. Ab 1896 verheiratet mit Marie Stephanie van Vloten (1874-1905); ZhPfrB, 372; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen