Edition – drei Briefgruppen

Brief HK10 – 22.9.1876
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HK10 22.9.1876
Zürich, den 22. September 1876.
Meine innigst geliebte Mutter!

Du kannst kaum glauben, welche Freude mir Euer Entschluß bereitet hat, mich aus der Musikschule austreten zu lassen.258Hedwig Kappeler besuchte die damals auf Initiative von Friedrich Hegar neugegründete Musikschule Zürich, aus der sie offenbar austreten wollte, um fortan, zumindest was ihren Geigenunterricht betraf, Privatstunden bei Oskar Kahl zu nehmen (vgl. HK8-11). Der Geigenunterricht an der Musikschule fand in Klassen zu drei bis vier Schülern statt; Gottfried Lochbrunner, Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum der Musikschule in Zürich, 6-9.schliessen Frau Spyri hat dann mit Herrn Hegar259Eduard Ernst Friedrich Hegar (1841-1927), Geiger und Komponist. In Zürich ab 1863 Leiter des Tonhalle-Orchesters, Theaterkapellmeister, Dirigent verschiedener Chöre, 1876-1915 Mitbegründer und erster Direktor der Zürcher Musikschule. Hegar prägte das Zürcher Musikleben nachhaltig und brachte hervorragende Interpreten und Komponisten wie seinen Freund Johannes Brahms, aber auch Clara Schumann und Pablo de Sarasate nach Zürich. Wohnhaft an der Plattenstrasse 28; Schweizer Musikbuch, Bd. 2, 88-90; HLS VI, 186f.schliessen gesprochen, der es wirklich recht fand, daß es mehr nütze eine ganze Stunde bei dem Lehrer zu spielen. Darf ich vielleicht vor den Ferien noch eine od. zwei Stunden nehmen? Gell Du erlaubst es mir. Ich danke Dir noch vielmal für die köstlichen "Gutzeli",260"Guzeli", "Guteli", "Gutzeli", "Guetzli": schweizerdeutsch für kleines Gebäck.schliessen sie haben so gut geschmeckt, auch Frau Sp[yri] fand sie gut. Die Schuhe haben sehr gut gepasst, nur das weiße ist wirklich überflüssig. Jetzt muß ich Dich aber hauptsächlich um Verzeihung bitten, daß ich Dir solange nicht antwortete, aber es ist wirklich nicht meine Schuld, sondern die vielen Aufgaben u. der Aufsatz, den ich jetzt in Arbeit habe, halten mich davon ab. Du bist gewiss ganz überrascht zu vernehmen, daß ich schon in 14 Tagen in Eurer Mitte sein werde.

[2] Den 2. 3. u. 4. Oktober finden die Repetitorien261Das erste Reglement der Höheren Töchterschule vom 6. März 1875 schreibt für die letzte Woche jedes Semesters öffentliche Repetitorien vor.schliessen statt, wozu die Eltern freundlich eingeladen sind. Es sind eigentlich nur gewöhnliche Stunden, in den Klassenzimmern, nur daß eben Leute zuhören können, aber ich habe doch ziemlich Angst darauf hin. Heute hat auch Herr Rektor262Ferdinand Zehender (1829-1885), Theologe, Gründer und Leiter des Vereins für schweizerisches Mädchenschulwesen. 1865-1875 Prorektor der Mädchenschule in Winterthur, seit 1875 Rektor der Höheren Töchterschule Zürich, unterrichtet Deutsch, Geschichte, Religion u. Pädagogik; Salomon Stadler, Rückblick auf die Geschichte der höheren Töchterschule, 15-16; 100 Jahre Töchterschule, 107; HBLS VII, S. 631.schliessen mitgeteilt, daß diejenigen welche Zeugnisse wünschen, sich nächste Woche in eine Liste eintragen sollen. Wünscht es der l[iebe] Vater,263Hermann Kappeler (1808-1884), Oberst, Kaufmann und Verwaltungsratspräsident der Thurgauischen Hypothekenbank, Hedwigs Vater; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen so würde ich es auch thun, nur mußt Du's mir sofort schreiben. Frau Spyri will also sehr gern Deiner Einladung folgen u. wird dann vielleicht 11. ev. 12. Okt. kommen, während ich beabsichtige, die erste Woche des Okt. noch hier zu bleiben, um Aufgaben, wenn ich welche bekomme od. so etwas zu absolvieren. Die Ferien würden eigentlich den 3. Okt. schon beginnen. Bist Du damit einverstanden, daß ich dann erst den 7ten Abends erscheine? Ich wüsste auch ein Logis für Emil,264Emil Labhardt (geb. 1856), Hedwig Kappelers Cousin mütterlicherseits, Sohn von Gottlieb Labhardt und Natalie Labhardt-Wüest; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen wenn er nicht bei Frau Irminger265Vermutlich Anna Elisabetha Irminger-Tobler (geb. 1809), seit 1859 Witwe des Pfarrers Balthasar Irminger. Wohnhaft an der Plattenstrasse, Fluntern (eingemeindet 1893); BB 1875, 148.schliessen bleiben könnte, nämlich bei Prof. Winter, Privatdocent.266Heinrich Georg Winter (1848-1887) aus Leipzig, Privatdozent für Botanik, 1876-1883 am Polytechnikum, 1878-1883 auch an der Universität Zürich; Ernst Gagliardi et al., Die Universität Zürich 1833-1933, 997.schliessen Frau Prof. Schröter267Luise Schröter-Hauer (geb. 1823), Witwe von Moritz Schröter (1813-1867), Professor für Maschinenbau und Maschinenkonstruktion am Eidgenössischen Polytechnikum von 1865 bis 1867. Nach dem frühen Tod ihres Mannes, vermietete sie Pensionszimmer, um die Familie zu versorgen. 1868 wurde ihr und den fünf Kindern (geb. 1851-1861) - darunter der später bekannte Botaniker Carl Schröter (1855-1939) - von der Stadt Zürich das Bürgerrecht geschenkt. Wohnhaft Neue Plattenstrasse, Fluntern (eingemeindet 1893); HBLS VI, 245; www.ethbib.ethz.ch/aktuell/galerie/schroeter, 20.1.2011; Zürcher Adressbücher 1875/77.schliessen hat ihn empfohlen. Als ich plötzlich Onkel Rudolph268Johann Rudolf Kappeler (1809-1888), Hedwigs Onkel väterlicherseits. Wohnhaft in Frauenfeld. Nach seinem Tod wohnt seine Witwe, Maria Katharina (Marie) Kappeler-Kessler (1835-1900) in Zürich, Bahnhofstrasse 106, bei ihrem Sohn, dem Arzt Rudolf Kappeler, und ganz in der Nähe ihrer Tochter Marie Luise Bremi-Kappeler; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen mit Sohn269Rudolf Kappeler (1858-1899), Hedwigs Cousin väterlicherseits, Sohn von Johann Rudolf Kappeler und Maria Katharina Kappeler-Kessler. Studierte ab dem Wintersemester 1876 Medizin in Zürich; Matrikeledition UZH online, Nr. 5124; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen auf der Brücke traf, war ich natürlich sehr erstaunt u. erwartete immer Marie270Marie Luise Kappeler (geb. 1856), Hedwigs Cousine väterlicherseits, Tochter von Johann Rudolf Kappeler und Maria Katharina (Marie) Kappeler-Kessler. Heiratet am 3. Oktober 1877 Heinrich Adolf Bremi; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen würde mich doch noch schnell [3] besuchen, aber ich wartete umsonst den ganzen Nachmittag. H[err] Kappeler271Wohl Johann Jakob Kappeler, alt Müller (1808-1882), Cousin von Oberst Hermann Kappelers erster Frau Henriette. Wohnhaft Tiefenhöfe 8/Thalgasse 29, in der Nähe des Stadthauses; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien.schliessen sei wieder von Ragaz272Bad Ragaz, bis 1937 offiziell Ragaz genannt. Kurort im Kanton St. Gallen.schliessen zurück gekehrt, ich fand aber noch keine Zeit ihn zu besuchen. Überhaupt habe ich nicht viel Zeit Besuche zu machen u. wenn ich welche habe spaziere ich eher ein wenig mit Fr. Sp[yri]. Ihrem Sohn273Diethelm Bernhard Spyri (1855-1884), einziger Sohn von Johann Bernhard Spyri und Johanna Spyri-Heusser. Studium der Rechte in Zürich, Leipzig (1875/76) und Göttingen (1877/78), während kurzer Zeit Tätigkeit als Sekretär der kaufmännischen Gesellschaft Zürich. Studium und Arbeit werden immer wieder durch Krankheit und Kuraufenthalte unterbrochen. Bernhard stirbt knapp 29jährig an Tuberkulose.schliessen geht es ziemlich besser. Habe ich schon geschrieben daß jenes Mädchen, von dem Frau Sp[yri] mir geschrieben, eine Luise Vetscherin274Luise Fetscherin (1859-1951), Tochter von Rudolf Friedrich Fetscherin (1829-1892), 1859 Sekundärarzt in der psychiatrischen Klinik Waldau in Bern, von 1875 bis 1889 Direktor der psychiatrischen Klinik St. Urban; HLS IV, 487. - Luise besuchte im Wintersemester 1876/77 die Höhere Töchterschule in Zürich und wohnte damals zusammen mit Hedwig Kappeler als Pflegetochter bei Johanna Spyri. 1883 heiratete sie den Arzt Domenico Curo Tramèr. Das Ehepaar lebte ab 1886 in Basel und hatte fünf Kinder; Mitteilung Andreas Barth, Staatsarchiv Basel-Stadt, 4. Juni 2009. - 1908 erschien "Heidi, ein Kinderschauspiel in 3 Akten. Nach der Erzählung von Johanna Spyri bearbeitet" von Luise Fetscherin. Ob es von der Mutter oder der Tochter, die beide den selben Vornamen trugen, stammt, ist ungeklärt.schliessen von St. Urban wirklich kommt. Ihre Mutter275Eugenie Luise Fetscherin-Fueter, Frau von Rudolf Friedrich Fetscherin und Mutter von Luise Fetscherin (geb. 1856), welche zusammen mit Hedwig bei Johanna Spyri wohnt.schliessen ist dagewesen, eine feste ruhige Bernerin. Was machen auch Ernestine276Ernestine Kappeler (1857-1897), ältere Schwester Hedwigs. Ab 1883 verheiratet mit Friedrich Benedikt Brügger, Bürger von Churwalden. Sie starb am 14. Oktober 1897 an einer Bronchitis mit Lungenentzündung; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen u. Henriette277Henriette Kappeler (1856-1916), älteste Schwester von Hedwig, heiratet am 10. April 1880 Theophil Studer, Professor für Zoologie in Bern; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen ich glaube fast, sie haben mich vergessen, daß nie ein Buchstaben von ihnen an mich gelangt. Umsonst sehe ich jetzt schon seit acht Tagen in den Briefkasten u. immer vergebens. Die faulen Mädchen können wirklich einmal noch schreiben bevor ich komme, sie könnten sonst heiser werden, wenn sie mir Alles mündlich erzählen müssen. Wann kommt Sophie Grob278Vermutlich Sophie Henriette Grob (1847-1917), Hedwig Kappelers Cousine väterlicherseits, Tochter von Oberst Hermann Kappelers Schwester Louisa Elisabetha Grob-Kappeler (1815-1892) und Johann Jacob Grob (1812-1881), Arzt aus Lichtensteig; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen hieher? Es wäre doch schade wenn sie gerade während der Ferien hier wäre. Wie geht es mit dem Trau Paar.279Es handelt sich vermutlich um Hedwigs Cousine Marie Kappeler, Tochter von Johann Rudolf Kappeler und Maria Katharina (Marie) Kappeler-Kessler und Heinrich Adolf Bremi, welche 1877 heiraten; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen Kann ich die Weinlese noch mitfeiern. Ach wie köstlich!

[4] Was macht Ihr alle u. ich habe schon so lang nichts mehr von Euch vernommen. Wie hast Du es mit meinen Winterkleidern im Sinn, ich muß jedenfalls einen Sonntag- u. einen Werktagsrock haben, auch einen Mantel; könntest Du nicht nach Paris um Muster schreiben u. mir dann diese hieher schicken, die Du für mich für passend hältst, damit ich sehe was für Kleider ich bekomme? Es wäre jedenfalls gut wenn Du den Stoff hättest bis ich in die Ferien komme, damit Jungfern Rebsamen denselben noch verarbeiten können. Ich hoffe daß mein Geld mir für so kurze Zeit noch reicht u. wenn nicht, so werde ich dann Frau Spyri anpumpen, man kann in den Ferien alles wieder gut in Ordnung machen.

Geht der l[iebe] Vater fleißig auf die Jagd? Hier gibt es nicht viel. Einmal spazierte ich mit Frau Sp[yri] u. Sohn280Diethelm Bernhard Spyri (1855-1884), einziger Sohn von Johann Bernhard Spyri und Johanna Spyri-Heusser. Studium der Rechte in Zürich, Leipzig (1875/76) und Göttingen (1877/78), während kurzer Zeit Tätigkeit als Sekretär der kaufmännischen Gesellschaft Zürich. Studium und Arbeit werden immer wieder durch Krankheit und Kuraufenthalte unterbrochen. Bernhard stirbt knapp 29jährig an Tuberkulose.schliessen nach Küsnacht u. einmal war ein Herr Prof. Sauppe281Friedrich Hermann Sauppe (1809-1893), deutscher klassischer Philologe, Pädagoge. Professor für klassische Philologie an der Universität Zürich von 1839 bis 1845, daneben Lehrer an der Kantonsschule; Sauppe beschäftigte sich u. a. mit dem Rechtsleben des Altertums. Gymnasialdirektor in Weimar von 1845 bis 1858, Professor in Göttingen von 1858 bis 1893. Er galt als Persönlichkeit mit grosser Ausstrahlung. Ausführlich erwähnt als "Professor S." in Brief EK18 vom 2. Februar 1879, wo Johanna Spyri, die ihren kranken Sohn in Göttingen besuchte, von der Familie Sauppe beherbergt wurde. Sauppe wird auch in einem Brief von Christian Heusser vom 24. Oktober 1847 erwähnt, ausserdem EK44 und EK64; Ernst Gagliardi et al., Die Universität Zürich 1833-1933, 365; HBLS VI, 91; ADB LV, 146-158; Barbara Helbling, Jakob Christian Heusser.schliessen ein ehemaliger Lehrer von H[errn] Sp[yri]282Johann Bernhard Spyri (1821-1884), Stadtschreiber von Zürich und Ehemann von Johanna Spyri; vgl. Regine Schindler, Spurensuche, 349 und Stammbaum, 341; HBLS VI, 484.schliessen zum Mittagessen da.283Friedrich Hermann Sauppe war in seiner Zürcher Zeit offensichtlich Lehrer von Johann Bernhard Spyri an der Universität gewesen. Christian Heusser erlebte ihn vermutlich als Lehrer an der Kantonsschule.schliessen Vielleicht kennt ihn Onkel Hermann284Wohl Jakob Hermann Wüest (1822-1919), Hedwigs Onkel mütterlicherseits, wohnhaft im Bernerhaus; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen ich weiß nicht. Jetzt muß ich aber meine Plauderei beschließen, da ich noch fleißig an meinem Aufsatz arbeiten muß.

Leb wohl auf Wiedersehn! Viele tausend herzliche Grüße u. Küsse an Euch Alle, besonders an Dich von
Deinem dankbaren Kinde Hedwig

[1 am Rd.] Viele Grüße von Frau Spyri. [4 am Rd.] Viele Grüße im Bernerhaus,285Spätbarockes Herrschaftshaus in Frauenfeld, im 18. Jahrhundert Quartier der Tagsatzungsgesandten aus Bern, heute Bankplatz 5; Beat Gnädinger/Georg Spuhler, Frauenfeld, 267-270. - Wohnsitz der Grosseltern mütterlicherseits, Johann Jakob Wüest (1792-1885) und Maria Wüest-Merkle (1795-1887) sowie von Hedwigs unverheiratetem Onkel Jakob Hermann Wüest (1822-1919) und der ledig gebliebenen Tante Anna Friederike Wüest (1821-1920).schliessen an Alle die mir nachfragen.