Edition – drei Briefgruppen

Brief HK11 – 29.-30.9.1876
Eintrag drucken
HK11 29.-30.9.1876
Zürich, den 29. Sept[ember] [18]76
Meine liebe Mutter!

Danke Dir bestens für Deine, obwohl wenigen Zeilen. Heute um 12 Uhr haben meine Stunden des Sommersemesters aufgehört, wie froh bin ich. Du glaubst nicht wie ich diese letzten paar Wochen viel zu thun gehabt habe, ich sehne mich wirklich nach einigen Tagen der Ruhe. Meinen Aufsatz habe ich glücklich abgegeben, es ist mir wirklich eine Last vom Herzen, wenn nur die Repetitorien286Das erste Reglement der Höheren Töchterschule vom 6. März 1875 schreibt für die letzte Woche jedes Semesters öffentliche Repetitorien vor.schliessen auch schon vorbei wären, es ist mir ordentlich Angst darauf hin. Im Ganzen habe ich 8 Stunden, 4 am Montag, 2 am Dienstag u. 2 am Mittwoch, dann um 12 Uhr will ich aufjubeln. Frau Spyri hat mir noch gesagt, es würde sie sehr freuen wenn Jemand von Euch kommen möchte, ich sagte ihr aber, daß ich nach Deinem Briefchen keine Hoffnung daran hegen darf. Heute hatte ich die letzte Stunde in der Musikschule,287Hedwig Kappeler besuchte die damals auf Initiative von Friedrich Hegar neugegründete Musikschule Zürich, aus der sie offenbar austreten wollte, um fortan, zumindest was ihren Geigenunterricht betraf, Privatstunden bei Oskar Kahl zu nehmen (vgl. HK8-11). Der Geigenunterricht an der Musikschule fand in Klassen zu drei bis vier Schülern statt; Gottfried Lochbrunner, Festschrift zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum der Musikschule in Zürich, 6-9.schliessen [2] nach deren Verlauf ich Herrn Kahl288Joseph Oskar Kahl (geb. 1843), Konzertmeister und Lehrer an der damals neugegründeten Musikschule Zürich. Kahl ist Hedwigs Geigenlehrer in Zürich. Er ist verheiratet mit Ida Kempin, einer Schwester von Walter Kempin-Spyri und somit Schwägerin von Dr. Emilie Kempin-Spyri, der ersten Juristin der Schweiz, Nichte von Johann Bernhard Spyri. Wohnhaft Zeltweg 27; BB 1879, 219; Zürcher Adressbuch 1877.schliessen fragte wegen einer Privatstunde vor den Ferien. Er war sehr artig u. begleitete mich da es schon 7 Uhr u. ziemlich dunkel war, nach Hause. Morgen um 4 Uhr können Zeugnisse in der Musikschule abgeholt werden, es wundert mich wirklich wie es ausfällt. Hat Tante Natalie289Natalie Labhardt-Wüest (1823-1904), Hedwig Kappelers Tante mütterlicherseits, Schwester von Aline Kappeler-Wüest und Witwe von Philipp Gottlieb Labhardt; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen ihre Wässerchen bekommen, ich wünsche nur guten Erfolg zu ihrer Kur.

30 Sept. Wurde gestern am Weiterschreiben verhindert, u. muß auch jetzt eilen, damit der Brief noch fortkommt. Du mußt Dich diesmal mit wenigen Zeilen begnügen, aber ich muß doch noch etwas zu erzählen haben wenn ich komme. Heute in acht Tagen werde ich schon wieder in Eurer Mitte sein u. das Repetitorium hinter mir haben.

Ich war einmal bei Herrn Kappeler,290Wohl Johann Jakob Kappeler, alt Müller (1808-1882), Cousin von Oberst Hermann Kappelers erster Frau Henriette. Wohnhaft Tiefenhöfe 8/Thalgasse 29, in der Nähe des Stadthauses; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien.schliessen ich fand ihn so ziemlich fidel, er will wahrscheinlich nächsten Montag nach Baden291Badekurort im Kanton Aargau, ca. 20 km von Zürich entfernt.schliessen auf die Jagd, aber nur für 1 od. 2 Tage. [3] Bringt der liebe Vater292Hermann Kappeler (1808-1884), Oberst, Kaufmann und Verwaltungsratspräsident der Thurgauischen Hypothekenbank, Hedwigs Vater; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen eigentlich viele Hühner etc. von der Jagd u. wie geht es mit Feldmann?293Wohl ein Jagdgefährte von Oberst Hermann Kappeler.schliessen Nicht wahr ich darf mich wenn ich komme photographieren lassen? Ihr habt ja noch kein einziges Bild von mir allein. Du schreibst mir gar nichts von Hermann,294Hermann Kappeler junior (1858-1931), älterer Bruder Hedwigs. Ab 1892 verheiratet mit Maria Ida Ernestine Aepli (1866-1964); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen ob er in die Lehre eingetreten ist, auch wegen der Pariser Muster hast Du mir nicht geantwortet, es ist jetzt wirklich die höchste Zeit. Frau Sp[yri] weiß noch nicht [mit] welchem Zug sie kommen wird, wenn sie nur auch ganz gewiss kommt aber sie hat es ja versprochen. Herr B[ernhard] Sp[yri]295Diethelm Bernhard Spyri (1855-1884), einziger Sohn von Johann Bernhard Spyri und Johanna Spyri-Heusser. Studium der Rechte in Zürich, Leipzig (1875/76) und Göttingen (1877/78), während kurzer Zeit Tätigkeit als Sekretär der kaufmännischen Gesellschaft Zürich. Studium und Arbeit werden immer wieder durch Krankheit und Kuraufenthalte unterbrochen. Bernhard stirbt knapp 29jährig an Tuberkulose.schliessen geht es ein wenig besser. Ich freue mich so, Euch alle wieder zu sehen, es war jetzt die ganze Zeit nur Onkel Emil296Emil Wüest (1833-1894), Hedwigs Onkel mütterlicherseits; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen bei mir, der ist doch brav. Wann wird wohl Sophie Grob297Vermutlich Sophie Henriette Grob (1847-1917), Hedwig Kappelers Cousine väterlicherseits, Tochter von Oberst Hermann Kappelers Schwester Louisa Elisabetha Grob-Kappeler (1815-1892) und Johann Jacob Grob (1812-1881), Arzt aus Lichtensteig; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen einmal anlangen? Was macht eigentlich Henr[iette]298Henriette Kappeler (1856-1916), älteste Schwester von Hedwig, heiratet am 10. April 1880 Theophil Studer, Professor für Zoologie in Bern; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen Ich glaube fast sie hat zu wenig Tinte um mir den längst versprochenen, eng geschriebenen Brief zu schreiben. Nun aber lebe wohl auf Wiedersehn! Nicht wahr Du schreibst mir nächste Woche noch einmal u. ich werde dann noch eine Karte schicken, mit welchem Zug ich in meinem Frauenfeld anlange.

[4] Ist eigentlich die Weinlese noch in meinen Ferien, die bis 28 Okt. dauern, gell Du schreibst es mir.

Wenn nur Ottoli299Otto Kappeler (1869-1935), Hedwigs jüngster Bruder. Ab 1901 verheiratet mit Marie Pauline Stierlin (1877-1954); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen noch einmal kommen könnte weil es noch so schön ist, es würde mich unaussprechlich freuen den kleinen Kerl hier herum zu führen.

Viele tausend Grüße u. Küsse an Euch alle, besonders an Dich von Deinem dankbaren
Kinde Hedwig

Viele Grüße von Frau Spyri. Du mußt diese Zeilen nicht als Brief, sondern nur als ein Lebenszeichen von mir betrachten; denn ich bin jetzt so in Angst wegen den Repetitorien, daß ich keinen ordentlichen Brief schreiben kann.