Edition – drei Briefgruppen
Endlich sitze ich an meinem Platz am Fenster, endlich einmal eine halbe Stunde hintereinander, nachdem so u. so viel Bettlerinnen, Besuchs-Personen, Schulabwarte u. Mostverkäufer mich den ganzen Morgen lang belagert u. verhindert haben, auszuführen, was ich am liebsten gleich getan hätte, an Dich zu schreiben. Die Tage in Eurem Hause verbracht, sind mir gerade so in der Erinnerung geblieben, als sei ich daheim gewesen u. sei nun hier in ein leeres Logis gezogen,1042Johanna Spyri wohnte vom 9. April 1885 bis am 5. Oktober 1886 an der Augustinergasse 29, Ecke Augustinergasse/Bahnhofstrasse, im selben Haus wie ihre Jugendfreundin aus der Welschlandzeit, Henriette Scholder-Develay, deren Familie das Haus gehörte; Regine Schindler, Spurensuche, 291; BB 1885, 456. - Dann zog sie in die Escherhäuser an den Zeltweg 9 (s. EK69).schliessen wo ich mich erst an die Stille u. Leere gewöhnen muß. Freilich still kann ich es nicht im gewöhnlichen Sinn des Wortes nennen, es ist nur die Stille nach Innen, kein Austausch des Herzens u. Lebens mehr. Es war mir so wohl bei Euch, daß ich noch lange unter dem wohltuenden Eindruck stehen werde u. der Gedanke, daß wir wieder in der Weise zusammensein können, erfreut mich in der Stille. Wenn ich am Abend am Fenster stehe u. nach dem glühenden Abendrot schaue, meine ich, Ihr solltet alle hinter mir stehen, ich könnte nur mit Euch zu sprechen beginnen. Hier habe ich solche Haufen von Geschäften, Briefen, Aufforderungen zu Arbeiten gefunden, daß ich erst starr da stand u. nicht wußte, wo beginnen. So bin ich hier eigentlich noch gar nicht eingelebt u. noch immer am Räumen u. Abtragen.
