Edition – drei Briefgruppen

Brief EK18 – 2.2.1878
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EK18 2.2.1878
Göttingen 2. Februar 1878
[An Aline Kappeler]

Ihr habt immer so herzlichen Anteil an Bernhards886Diethelm Bernhard Spyri (1855-1884), einziger Sohn von Johann Bernhard Spyri und Johanna Spyri-Heusser. Studium der Rechte in Zürich, Leipzig (1875/76) und Göttingen (1877/78), während kurzer Zeit Tätigkeit als Sekretär der kaufmännischen Gesellschaft Zürich. Studium und Arbeit werden immer wieder durch Krankheit und Kuraufenthalte unterbrochen. Bernhard stirbt knapp 29jährig an Tuberkulose.schliessen Befinden genommen, daß es mich drängt, Dir von hier aus einige Worte zu schreiben. Bernhard ist Gott sei Dank nun ganz außer Gefahr.887Johanna Spyris Sohn Diethelm Bernhard Spyri studierte damals in Göttingen, wo er einen schweren gesundheitlichen Rückfall erlitt. Johanna Spyri reiste sofort nach Göttingen an sein Krankenbett.schliessen Doch durfte er das Bett noch nie verlassen, so werde ich hier bleiben, um zu sehen, wie er sich fühlt, wenn er einmal wieder außer dem Bett ist u. so die ersten Tage noch mit ihm zuzubringen. Er wurde gleich bei dem ersten Anfall nach dem Hospital transportiert, worüber wir beide recht froh sind, da er hier täglich zweimal den Besuch der Professoren hat u. daneben einer außerordentlich guten Pflege genießt. Mit jedem Tag geht es ein wenig besser, die Aerzte sind sehr zufrieden mit dem Verlauf. Ein wahres Wunder ist mit einem medicinischen Mittel vor meinen Augen geschehen. Da komme ich vorgestern zu Bernhard u. mit schrecklichem Gesicht sagt er: weißt Du, was nun kommt? Schon habe ich in Achsel, Knie u. Fußknöchel die alten Schmerzen.888Diethelm Bernhard Spyri litt anfänglich an einer Gelenkkrankheit, "welche dann das Herz angriff". Wahrscheinlich hing diese bereits mit einer Tuberkuloseinfektion zusammen; Rudolf Zimmermann, Worte bei der Beerdigung des seligen Diethelm Bernhard Spyri von Zürich, den 6. Mai 1884, von Dekan R. Zimmermann, Pfarrer am Fraumünster in Zürich; Jürg Winkler, "Ich möcht Dir meine Heimat einmal zeigen", 167; Brief Johanna Spyri an Bertha von Orelli, 10. September 1876; vgl. auch EK4.schliessen Ich hatte einen furchtbaren Schrecken, wenn ich an die Tage von Leipzig dachte.889Vgl. EK4.schliessen Sogleich sagten wir alles dem Professor u. er gab sofort ein neu gefundenes Mittel, Salicyl,890Die aus dem Weidenrindenextrakt Salicin (lat. salix für Weide) hergestellte Salicylsäure ist der Ausgangsstoff für das heutige Aspirin. Salicylsäure konnte seit 1859 vollsynthetisch hergestellt und seit 1874 in grossen Mengen industriell produziert werden. Das krampflösende Mittel wurde zur Bekämpfung von Gelenkrheumatismus eingesetzt. Erst in den 1890er Jahren gelang es durch die Entwicklung der Acetylsalicylsäure (des heutigen Aspirins), die negativen Nebenwirkungen der Salicylsäure, wie beispielsweise die starke Reizung der Magenschleimhaut, zu umgehen.schliessen gestern wieder u. heute sind alle Schmerzen rein weg. Wenn ich doch damals in Leipzig das Mittel gehabt hätte, da wäre die ganze Herzgeschichte nicht gekommen. Ich kann die meiste Zeit bei ihm zubringen, die übrige Zeit verbringe ich in der liebenswürdigen u. fein gebildeten Familie des Herrn Professor S[auppe],891Friedrich Hermann Sauppe (1809-1893), deutscher klassischer Philologe, Pädagoge. Professor für klassische Philologie an der Universität Zürich von 1839 bis 1845, daneben Lehrer an der Kantonsschule (s. auch HK10); Sauppe beschäftigte sich u. a. mit dem Rechtsleben des Altertums. Gymnasialdirektor in Weimar von 1845 bis 1858, Professor in Göttingen von 1858 bis 1893. Er galt als Persönlichkeit mit grosser Ausstrahlung. Bürger von Schottikon (1838), verheiratet mit Emilie Sauppe-Nüscheler (geb. 1820), ursprünglich aus Zürich, Tochter des ehemaligen Stadtschreibers Johannes Nüscheler (geb. 1776). Häufiger Kurgast in Tarasp (s. auch EK44 und EK64); Ernst Gagliardi et al., Die Universität Zürich 1833-1933, 365; HBLS VI, 91; ADB LV, 146-158; BB 1842, 166.schliessen der früher in Zürich lebte. Diese liebenswürdigen Leute holten mich sofort im Hotel u. hatten mir schon ein Zimmer bereit. Durch den Aufenthalt in diesem Hause ist mir natürlich mein ganzes Hiersein unsäglich erleichtert u. angenehm gemacht, denn die Abende im Hotel zu verbringen, wäre mir ja schrecklich schwer geworden. Hier ist mir nun ganz wohl u. ich fühle mich wirklich ganz zu Hause in der Familie. Mit den Töchtern892Hedwig (geb. 1842), Bertha (geb. 1844) und Gertrud (geb. 1860). Ausserdem ein Sohn Heinrich (geb. 1841); ADB LV, 146-158.schliessen unterhalte ich mich oft oder wir gehn zusammen aus, sie machen mir viel Freude durch ihr Klavierspiel u. ihr fröhliches Wesen.