Edition – drei Briefgruppen

Brief EK72 – 9.12.1886
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EK72 9.12.1886
Zürich Zeltweg 9. Dez[ember] 1886
[An Hedwig Kappeler]

Es kommen so viele Leute, viele aus herzlicher Teilnahme, viele auch aus Neugierde, natürlich. Es war eine Schreckensnacht.1056Am frühen Morgen des 9. Dezember 1886 brach in den Escherhäusern am Zeltweg 11, also in unmittelbarer Nachbarschaft zu Johanna Spyris Wohnung, ein Brand aus; vgl. Regine Schindler, Spurensuche, 293-297. - Dazu Zeugnisse von Conrad Ferdinand Meyer und Ricarda Huch in: Regine Schindler, Spurensuche, 296.schliessen Um halb 4 Uhr schallte es an unserm Haus so, daß ich sofort erwachte. Schon kam es hell flackernd um die Fenster meiner Schlafstube. Ich zog mich schnell an. Dann kam Vreneli1057Vreneli Vogelsanger (1854-1931) aus dem Schaffhauser Dorf Beggingen besorgte 24 Jahre lang den Haushalt von Johanna Spyri.schliessen schreckensbleich u. einer Ohnmacht nahe. Der Mittelbau unmittelbar neben uns brannte. Es ging nach unserem Gefühl lange, bis die Feuerwehr kam. Endlich ging es an mit Spritzen u. Schläuchen auf das Haus hin. Schon war auch auf unserm Estrich eine Ecke im Feuer. Mein Neffe kam dann u. war mir ein rechter Trost. Wertsachen trug er nach seinem Logis, dann warteten wir ruhig ab, ob das Feuer gelöscht werden könne auf unserm Estrich oder nicht, ob wir also zu flüchten beginnen müssen. Glücklicherweise konnte mein Neffe immer nachsehen u. mir genauen Bericht geben. Um 6 Uhr war das Feuer bei uns abgewandt. Dafür hatten wir nun natürlich den Estrich so voller Wasser, daß dieses uns in die Zimmer tropfte, fast strömte, besonders hier in die Wohnstube. Doch war da auch viel zu tun u. sind noch jetzt nasse Ecken u. Flecken, so habe ich doch nur Gott zu danken, wie ich verschont geblieben bin. Bei Frau Heim1058Die Sängerin Emilie Heim, Witwe des Komponisten Ignaz Heim, wohnte am Zeltweg 15.schliessen ist der Dachfirst fast ganz abgebrannt, sie waren so bedroht u. haben jetzt noch so viel Wasser, daß sie für einige Monate ausziehen muß.1059Johanna Spyri wohnte am Zeltweg 9, in der Häuserreihe links vom Mittelhaus, Emilie Heim rechts davon. Im Mittelhaus (Nr. 11, Haupthaus, Wohnhaus der Familie Stockar-Escher) fand der eigentliche Brand statt, der sich nach rechts auf die Häuser 13 und 15 via Dachfirst, aber auch nach links auf Johanna Spyris Wohnung ausbreitete. Bei Johanna Spyri entstand ebenfalls ein beträchtlicher Wasserschaden, sie wehrte sich aber gegen eine Ausquartierung.schliessen Ich habe, Gott sei Dank, schon Alles wieder in Ordnung, Möbeln [sic!] u. Bilder u. was mein ist, blieb unbeschädigt. Es ist ein Schrecken eine solche Erfahrung, aber Gott sei Dank, sind doch auch keine Menschen gefährdet worden. Ich bin für einmal ein wenig erschrocken fortzugehen, freilich es geht alles so wie so nach Gottes Willen, nur müßte man sich eher Vorwürfe machen, wenn etwas besser getan worden wäre, wäre man auf dem Platz geblieben. Man nimmt an, der Brand sei in einem Kamin, das mit Holz umgeben war, angegangen.