Jakob Christian Heusser – Briefe an die Familie

Brief Nr. 3 – 30.1.1848
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3 30.1.1848
[Berlin, 30. Januar 1848]
Liebe Eltern!

Wenn ich schon kein Freund vom Politisiren bin, so kann ich doch nicht anders als gleich zu Anfang dieses Briefes einige Worte über diese traurigen Ereignisse in unserem Vaterland sprechen. Da ich in eurem Briefe auch zum ersten Mal klaren Wein eingeschenkt erhielt über dies Verfahren der grössten Aristokraten, die man sich denken kann, die sich liberale nennen. Wenn auch die verübten Grausamkeiten mich schon gegen die siegreiche Parthei einnahmen, so trat dies nur in den Hintergrund gegen die Gemeinheit, mit welcher dies Alles vertuscht, und die Sieger als unvergleichlich humane Krieger den andern Ländern und wahrscheinlich auch der Nachwelt überliefert werden sollen; dies verglichen mit jenen Nachrichten, durch welche die Grausamkeiten des Luzernerlandsturms ausgebeutet wurden, machen mir die ganze sog. liberale Parthei in der Schweiz so verächtlich, daß ich lieber ein getödteter Schwyzer als der Hr. Obergeneral Dufour32Guillaume Henri Dufour (1787-1875) wurde 1847 zum General der eidgenössischen Armee gewählt mit der Aufgabe, den Sonderbund aufzulösen.schliessen oder Bundespräsident Ochsenbein33Ulrich Ochsenbein (1811-1890) führte als entschiedener Radikaler 1847 die Berner Reservetruppen gegen den Sonderbund. Er war 1847 Präsident der Tagsatzung, damals schon mit dem Titel Bundespräsident, wurde 1848 in den Nationalrat und in den Bundesrsat gewählt. HLS 9, S. 370f., und E. Bucher, Die Geschichte des Sonderbundskrieges, Zürich 1966, passim.schliessen wäre; froh bin ich, daß [ich ...]34Siegelausriss.schliessen bin, denn schweigen könnte ich nicht; daß ich so aufgebracht bin, kommt daher, daß eben im Auslande diese elenden Lügen geglaubt werden, indem man hier von Nichts zu sprechen wußte, als von dieser lobenswerthen und beispiellosen Menschlichkeit, mit der dieser Bürgerkrieg geführt wurde.35Die Briefstelle weist direkt auf die Polemik zwischen den Parteien nach Kriegsende hin: Trotz Dufours bewegendem Tagesbefehl vom 6. November 1847 waren in Freiburg und Luzern Plünderungen vorgekommen und auch politisch fühlten sich die katholischen Orte nun völlig majorisiert von den Siegern. Vgl. E. Bucher, Die Geschichte des Sonderbundskrieges, Zürich 1966, S. 431-528; H. Borner, Zwischen Sonderbund und Kulturkampf. Zur Lage der Besiegten im Bundesstaat von 1848, Luzern/Stuttgart 1981.schliessen Doch genug davon!

Die Ferientage von Weihnacht bis Neujahr brachte ich in Berlin zu; ich war zwar für diese ganze Zeit mit beispielloser Gastfreundschaft nach Magdeburg eingeladen von einem gewissen Wolff,36Wolffs Vorname ist leider nirgends erwähnt, obwohl er in Heussers Berliner Zeit eine wichtige Rolle spielt. Er wohnte mit Heusser und Olivier Zschokke zusammen und lud Christian mehrmals über die Weihnachtstage nach Magdeburg zu seiner Familie ein.schliessen einem Vetter von Zsc[h]okke, der mit uns zusammen wohnt; allein theils wollte ich nicht so lange Zeit in dem mir sonst fremden Hause zubringen, theils konnte ich nicht die ganze Zeit so verlieren und blieb daher in Berlin. Es kamen nun auch einige Zürcher-Theologen (Fäsi37Sigmund Wilhelm Fäsi (1824-1898) studierte Theologie in Halle, wurde nach seiner Rückkehr nach Zürich Pfarrer in Richterswil und Greifensee, dann von 1850 an in Wila: Zürcher Pfarrerbuch S. 267.schliessen und Deck,38Johannes Deck (1821-1890) war Vikar in Langnau und wurde 1849 Pfarrer in Turbenthal. Zürcher Pfarrerbuch S. 242.schliessen der in Steinmaur war) für einige Tage auf Besuch nach Berlin, mit diesen zog ich nun an den Nachmittagen herum und lernte so die Stadt ziemlich nach allen Seiten kennen. Ich war einmal mit ihnen im neuen Opernhause, das nun freilich durch Pracht und Größe alle meine Erwartungen übertraf; es läßt sich auch da weiter nicht viel darüber schreiben; vorstellen kann man sich dies nicht;39Siegelausriss.schliessen und die Musik, über die ich freilich kein Urteil fällen kann, wird gewiß auch des prachtvollen Theaters würdig sein. — Ferner waren über diese Weihnachtstage eine Masse sogenannter Weihnachtsausstellungen zu sehen, wo theils eine Unmasse der kostbarsten Sachen aller Art zu Weihnachtsgeschenken angeboten, theils verschiedene Ansichten von Städten und Gegenden (wie Ähnliches bei uns, nur viel schlechter, auf die Märkte kommt) ausgestellt waren. Eine von diesen Buden [S.2] interessirte besonders uns Schweizer und wurde von Allen besucht, weil darin Freiburg und Luzern zu sehen waren beim Einzuge der eidgenössischen Truppen. Luzern, das ich also kenne, war ganz famos dargestellt in seiner wunderschönen Lage. Freiburg soll nach dem Urtheil anderer Schweizer ebenso gut getroffen gewesen sein; hier sah man auf der Drahtbrücke das eidgenössische Militär einziehen, und tief unten auf der zweiten Brücke die Jesuiten ausziehen.40Die Lehrtätigkeit der Jesuiten in Luzern und Freiburg war mit ein Auslöser des Konflikts innerhalb der Eidgenossenschaft gewesen. Sie mussten nach der Niederlage des Sonderbunds die beiden Städte verlassen.schliessen Wie diese Menge kleiner Figürchen in Bewegung gesetzt wurden, weiß ich nicht; aber es war Alles sehr genau und niedlich, die eidgenössischen Uniformen, die Kleidung und Hüte der Jesuiten kurz Alles wie in der Wirklichkeit. — Am Sylvesterabend waren wir Schweizer alle beisammen und gingen fröhlich, ohne uns durch Politik zu trennen, ins neue Jahr über.

In der Familie Roose41Heusser schreibt statt Rose oft Roose, wie er überhaupt in der orthographischen Wiedergabe von Namen ziemlich nachlässig ist.schliessen bin ich bereits ziemlich bekannt, und freundlich aufgenommen; ich gehe ungefähr alle 14 Tage einmal hin und trinke dort den Caffe; über dies war ich einmal zum Mittagessen eingeladen, was ich natürlich annahm und mich sehr gut unterhielt. - Ebenso war ich nun bei Gelzer, der mich zwar auch freundlich aufnahm und sogleich einlud an einem Kränzchen der Schweizer bei ihm Theil zu nehmen. Wir gehen nun jeden Montag Abend zum Thee hin, unterhalten uns zuerst beliebig mit ihm und unter einander und nachher liest und erklärt er einige Gesänge aus Dantes Divina comoedia. Diese Lektüre beginnt, nachdem Gelzer bei jedem herumgegangen und zu jedem einige Worte gesprochen hat; dies geht ganz wohl bei den andern, weil jeder Empfehlungen von Professoren oder Freunden von ihm an ihn hatte, nach denen er sich dann erkundigt; wenn aber die Reihe an mich kommt, so ist er verlegen und weiß Nichts zu sagen; ich natürlich noch mehr; es wäre mir daher lieb, wenn Theodor, an den er sich sehr freundlich erinnert, einige Worte an Gelzer schreiben würde, was er anfangs im Sinne hatte, und was Gelzer gewiß freuen würde.

Gestern hatten wir seit Anfangs December zum ersten Mal wieder einen schönen warmen Tag; bis dahin hatten wir also ungefähr 8 Wochen mit Unterbruch von einigen wenigen Tagen eine Kälte von 12-16 Grad minus. Nun war ich zwar nie verzärtelt und weiß die Kälte draußen wohl zu ertragen; aber im Zimmer, wo man schreiben sollte, da war es erbärmlich; man konnte unser Zimmer, (und so ist es mit allen diesen Mieth-Zimmern) beinahe nicht erwärmen, da keine Vorfenster angebracht, und ferner die Häuser in dieser Residenz so schlecht gebaut42Siegelausriss.schliessen sind, daß der Wind durch alle Fugen hereinpfeift.

Schweizer sind im Ganzen gegen 50 in Berlin, von denen die französischen eng zusammenhalten und sich von den deutschen absondern; ich suchte zwar anfangs mit einigen von ihnen Umgang der französischen Sprache wegen; aber sie sind eben da um deutsch zu lernen; daher kann ich im Umgang mit ihnen Nichts gewinnen und mag mich überdies ihnen nicht aufdrängen. Ich halte [S.3] daher jetzt auch zu den deutschen Schweizern und setze das Französische privatim fort, und gedenke nach einiger Zeit, wenn es noch etwas besser geht, von Zeit zu Zeit ins französische Theater zu gehen, was eine ausgezeichnete Übung sein soll.

Gleich im Anfang des Januar ist Schnee gefallen und bei der Kälte trat daher bald Schlittbahn ein, welche die vornehme Berlinerwelt auch reichlich benutzt. Alle Straßen sind immer voll von Schlitten; besonders schön ist es diese unter "den Linden" zu betrachten, wo die Reichen mit ihren eleganten, mit Pelzwerk aufs schönste verzierten Schlitten mit famosen Pferden davor sich sehen lassen.

Vor einigen Tagen hatte ich wieder Gelegenheit den König zu sehen. Es brach nämlich Feuer aus in einem der schönsten Palais unter den Linden, dem des Grafen Roeder; ich kam zufällig dazu, als ich ins Colleg gehen wollte, und konnte dann auch die schlechten Löschanstalten von Berlin bewundern; während hier am hellen Tage in der belebtesten Straße der Stadt Feuer ausbrach, dauerte es gegen eine Stunde, bis die erste Spritze zur Stelle war; kurz das Haus brannte zwar nicht nieder, weil es eben ganz von Stein war, wurde aber inwendig total ruinirt. Zu diesem Brande geruhte dann der König in höchst eigener Person zu Fuß von seinem Schloß die Linden heraufzuspaziren. — Wie übrigens allgemein hier in Berlin gesagt wird, soll er schrecklich auf die Schweizer erbost sein wegen der Collision mit Neuenburg,43Beginn des Konflikts um Neuenburg: Die Stadt Neuenburg plante, sich eine demokratische Verfassung zu geben, wobei die eidgenössische Tagsatzung es versäumt hatte, vom preussischen König die Einwilligung zum Verzicht auf seine Souveränitätsrechte über Neuenburg zu erwirken. Die royalistische Opposition in Neuenburg hoffte auf ein Eingreifen des preussischen Königs. Vgl. E. Bonjour, Der Neuenburger Konflikt 1856/57. Untersuchungen und Dokumente, Basel 1957.schliessen und wir hatten anfangs sogar Furcht, er möchte uns fortjagen von Berlin, was nun glücklicherweise nicht geschehen ist und hoffentlich nicht mehr geschehen wird.

Um Theodor noch einige Nachrichten über ihm bekannte Lokalitäten zu geben, so war ich schon mehrere Mal in seinem frühern Logis bei Voigt, wo immer noch viele Schweizer wohnen; man nennt dies Haus auch die Schweizercaserne; wahrscheinlich werde ich, wenn ein Zimmer leer wird, auch noch hinziehen; ferner ist auf dem Caffé Suisse, wo die Schweizer hingehen, noch derselbe Wirth, wie zu seinen, Sulzers44Johann Jakob Sulzer (1821-1897) wurde nach seiner Studienzeit in Zürich, Bonn und Berlin ein einflussreicher Politiker in Zürich. Seit 1858 Stadtpräsident von Winterthur, wurde er ein wichtiger Gegenspieler Alfred Eschers und Anführer der Zürcher Demokraten; befreundet mit dem Architekten Gottfried Semper, Gottfried Keller und Richard Wagner. SL 6, S. 153, und HLS (www.hls-dhs-dss.ch).schliessen und Heers45Der Glarner Jurist Joachim Heer (1825-1879) studierte in Zürich, Heidelberg und Berlin, bekleidete diverse politische Ämter und war von 1856-1878 Bundesrat. HLS 6, S. 182.schliessen Zeiten, an welche Alle er sich noch wohl erinnert. — Im Besserschen Lesecabinet,46Der Besser'schen Buchhandlung angegliedert, die ein Treffpunkt der Berliner Gelehrten war.schliessen das mir Theodor empfohlen, habe ich schon hospitirt, bin aber nicht abonnirt; da ich keine Zeitungen lese als die eidgenössische,47Die konservative Eidgenössische Zeitung erschien seit 1844 in Zürich. Sie wurde redigiert von Heinrich Schulthess (1821-1885), der die Redaktion im Januar 1848 Johann Bernhard Spyri übergab.schliessen diese aber nirgends finde als bei Spargnapani;48Eine damals beliebte Conditorei unter den Linden.schliessen bei diesem Anlaß, ist es wahr, daß Spiri49Der Jurist Johann Bernhard Spyri (1821-1884) war auf dem Hirzel aufgewachsen und ein Jugendfreund der Geschwister Heusser. Seit 1854 Bürger der Stadt Zürich, war er von 1849 bis 1859 Redaktor der konservativen "Eidgenössischen Zeitung", danach Rechtskonsulent der Stadt Zürich und von 1868 bis zu seinem Tod 1884 Stadtschreiber. 1852 heiratete er Christian Heussers Schwester Johanna.schliessen jetzt die eidgenössische Zeitung redigire? Ich weiß nicht mehr, wer diese Nachricht hier verbreitete, ich war aber geneigt es zu glauben, da die Art, in der sie seit Neujahr geschrieben ist, mich ganz an Spiri erinnerte.

Nun muß ich enden; Grüßet mir Alle Bekannten in Rümligen,50In Rümlang war Jakob Salomon von Birch Pfarrer, seine Frau Nanny von Birch-Morf war eine Nichte von Meta Heusser. Vgl. M. Heusser, Hauschronik, S. 74, und R. Schindler, Memorabilien, S. 103.schliessen Zürich und Hirzel und seid selbst herzlich gegrüßt von Eur. tr. Sohn:

J. Chr. Heusser.
Berlin den 30t. Jan. 48.

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