Jakob Christian Heusser – Briefe an die Familie

Brief Nr. 12 – 3.3.1849
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12 3.3.1849
[Berlin, 3. März 1849]
Liebe Eltern!

Seit meinem letzten Brief ist in meinem Berliner-Leben nicht gerade viel von Bedeutung vorgefallen; indeß werde ich doch Einiges aus den politischen Ereignissen und von der Familie Roose Euch mitzutheilen haben, will aber diese Nachrichten auf nachher versparen und zunächst auf den Hauptpunkt Eures letzten Briefes eintreten. Du hast, lieber Papa, noch immer den Wunsch und die Hoffnung, daß ich wieder zum Studium der Medizin zurückkehre, und es kommt mir dieser Wunsch um so begreiflicher vor, da du gewiß noch immer ohne Hülfe deiner Praxis vorstehst und mit unermüdlichem Fleiß bei Tag und Nacht arbeitest, ohne die Hoffnung deines ganzen Lebens, von einem Sohn unterstützt und abgelöst zu werden in Erfüllung gehen zu sehen; daß Du durch meinen Abfall vom Studium der Medizin in dieser Hoffnung getäuscht bist, gebe ich zu, und weiß, daß die Wunde, die Dir dadurch geschlagen wurde, einzig durch meinen Rücktritt zum Studium der Medizin wieder könnte geheilt werden. Viel schwerer als die Täuschung selbst über die Wahl des Berufs deines jüngern Sohnes, wird dir aber die dadurch veranlaßte Vereinzelung in der Ausübung Deines Berufs sein, die Beschwerden, die derselbe natürlich für den ältern Mann hat, welche der jüngere leicht trägt. Diesem Übelstand könnte aber auch ohne meinen Rücktritt zur Medizin abgeholfen werden, da Du ja in deiner Jugend so gearbeitet hast, daß Du jetzt sorgenlos leben kannst, und glaube nur, daß es mein Wunsch ist, und so viel ich weiß auch Theodors, daß Du Dich zur Ruhe setzest; denn ich gedenke nicht etwa aus väterlichem Vermögen zu leben, sondern will mir selbst eine Existenz schaffen. — Meine Neigung ist es noch immer bei den Naturwissenschaften zu bleiben, die nun einmal mein ganzes Interesse in Anspruch genommen haben; und so fragt sich also bloß, ob ich meine Neigung Deiner getäuschten Hoffnung opfern [S.2] soll; wenn diese Hoffnung so groß gewesen, daß die Nichterfüllung derselben, Dir Dein ganzes Alter verbittert, so bin ich jetzt noch bereit wieder umzusatteln, indem ich immer bereit war Deinen Willen zu erfüllen und Niemals sagte: Medicin studire ich nicht! Daß ich bei der Medicin eine ökonomisch gesicherte Stellung haben werde, weiß ich wohl; allerdings sind bei der andern Laufbahn die Aussichten nicht so sicher und günstig, besonders wenn ich daran denke in der Schweiz zu leben; indeß hat, so lieb mir mein Vaterland ist, dennoch die Rückkehr in die Schweiz für mich nichts so sehr Lockendes; wenn mich schon das entschiedene Unterliegen und Erdrückt-Werden der Sonderbundskantone mehr ergriffen hat, als ich es jemals ausgesprochen habe, so hat mich die Hintansetzung139Wie Heusser waren viele Zürcher empört, dass Bern 1848 zur Hauptstadt des neuen Bundesstaates gewählt wurde.schliessen Zürichs von der Ernennung Berns zum Vorort so empört, daß mir in Gottes Namen ein Aufenthalt in der Schweiz unter dem Regiment des Berner Volks-Vereins total verleidet ist; damit ist nicht gesagt, daß ich nicht mehr in die Schweiz zurückkehren möchte, im Gegentheil ist meine Sehnsucht, das schöne Land wieder zu sehen, noch nie so groß gewesen, wie gerade diesen Winter, da ich mit Hr. Rooses mich darüber unterhalten kann; aber ich hoffe, daß die Zeit meine reaktionäre Wuth etwas mildern und mich später wieder versöhnt ins Vaterland zurückführen werde! Ich habe hier eine kleine Abschweifung gemacht: wahr ist es, daß die gegenwärtigen politischen Zustände im Vaterland mich in meinem Planen und Wünschen einer Carrière im Auslande nur bestärken; indeß soll dieser Grund nicht etwa entscheidend sein; aber hervorheben wollte ich ihn doch besonders auch darum, weil, auch wenn ich Medizin wieder studiren würde, und irgend einmal Gelegenheit hätte im Ausland eine günstige Anstellung zu bekommen, ich möglicherweise diese der unfreien Stellung eines Sonderbündlers in der freien Schweiz vorziehen würde; denn bald kann es der Hr. Alfred Escher140Alfred Escher (1819-1882), 1848 Präsident des Regierungsrats und 1849 Präsident des Nationalrats. Er war in diesen Jahren der führende Politiker Zürichs und Hauptgegner der konservativen Familien, zu denen die Heusser gehörten. Vgl. J. Jung, Alfred Escher 1819-1882. 4 Bde., Zürich 2006.schliessen in Zürich so weit bringen, wie es in Luzern, Freiburg und Waadt gekommen ist.141Anspielung darauf, dass in Luzern, Freiburg und in der Waadt nach dem Sonderbundskrieg die liberale Partei politisch dominierte.schliessen — Schließlich muß ich noch einen Grund hervorheben: wenn ich auch jetzt wieder zur Medizin zurückkehren würde, so würde ich doch wahrscheinlich oder sicher früher [S.3] oder später mich wieder ganz den Naturwissenschaften hingeben; nur würde dann eben eine Halbheit eintreten, von der ich kein Freund bin; ich würde weder im Einen noch im Andern etwas Tüchtiges leisten können. — So habe ich nun meine Ansichten entwickelt, will aber nun noch keine entscheidende Antwort geben, sondern erst Euere Antwort abwarten. Es geht damit durchaus nicht noch mehr Zeit verloren, denn die Ferien werde ich im einen wie im andern Fall hauptsächlich zu chemischen Arbeiten verwenden. — Damit habe ich nun freilich schon im voraus den Wunsch ausgesprochen auch wenn ich nicht zur Medizin zurückkehre noch länger in Berlin zu bleiben, und da muß ich Euch natürlich erst um Erlaubnis fragen; wenn ich jetzt nach Hause käme, könnte ich, offen gestanden, noch in keinem Gebiete der Wissenschaft mich auszeichnen; ich glaube zwar sicher, daß ich mit Stundengeben mich ganz gut durchbringen könnte; indeß ist das Schulmeistern nicht mein letztes Ziel, und wenn ich noch weiter studiren kann, so hoffe ich es noch weiter zu bringen; Dr. will ich allerdings werden und zwar wenn möglich in Berlin; in Zürich würde es mir allerdings um so leichter fallen. Der Dr.Titel ist zwar nur eine Ehre und damit hat man nicht gelebt; prakt. Arzt daneben zu sein könnte unter Umständen ganz bequem sein; indeß ist mir für mein Auskommen nicht bange, und wenn ich den Dr.-Titel einmal habe, so kann man damit die Leute zufrieden stellen, die sich um mich bekümmern, aber nicht zu erfassen vermögen, was das Studium der Naturwissenschaften eigentlich ist. —

In der politischen Welt ist hier alles so ziemlich ruhig, die Kammern sind eröffnet worden ohne große Feierlichkeiten, und alles scheint je länger je mehr ins alte ruhige Geleise zu kommen. Das einzige, was uns Schweizer interessirt ist daß Keller, der nun auch in die zweite Kammer gewählt ist, mit der scharfen Waffe seines Geistes für die monarchischen Principien kämpft, und überall der demokratischen Partei entgegentritt. Er wurde deshalb auch in einer Berliner Zeitung von einem Deutschen, der längere Zeit in Zürich war und die dortigen Verhältnisse und Kellers Leben genau kennen muß, heftig angegriffen: Keller, schlau genug, [S.4] antwortete zwar, aber nur mit wenigen ausweichenden Worten, um den Kampf nicht in die Länge zu ziehen. Auf den Vorwurf der politischen Sinnesänderung antwortete er kurz, er sei von jeher Freund der Ruhe und Ordnung und zugleich für den Fortschritt gewesen; und dies Alles habe er in der Schweiz bei der liberalen Parthei gefunden, gegenwärtig in Preußen aber finde er bei der demokratischen Parthei Nichts als Unordnung und Unsinn; auf den Vorwurf der Habsucht und eines ausgelassenen Lebens ging er gar nicht ein. — Daß aber Keller zu jeder Zeit da Ordnung und Fortschritt zu erblicken glauben wird, wo er am meisten Aussicht hat, eine Rolle zu spielen, davon sind alle Schweizer in Berlin überzeugt. Übrigens gilt er jetzt bei seiner ganzen Parthei sehr viel, wie ich aus der Familie Roose weiß, wo ich nicht über ihn schimpfen darf. —

Um nun auf die Familie Roose zu kommen, so gehe ich ziemlich oft hin, zwei Mal war ich des Sonntags zu ihnen eingeladen, wo die ganze Familie beisammen war; es waren auch mehrere jüngere Damen und Herren, weswegen sich nachher Tanz entwickelte, woran ich aber keinen Theil nahm, indeß unterhielt ich mich sonst gut. Daneben gehe ich bisweilen hin zum Café, vor einiger Zeit war Herr Roose selbst bei mir, um mich zu einem Mittagessen einzuladen, kurz nachdem ich Euren letzten Brief erhalten habe; ich theilte ihm dann Euren Plan von dem Spaziergang in den Sihlwald mit was ihn sehr freute; er sagte mir bei diesem Anlaße, daß er dies Jahr schon Anfangs Mai nach der Schweiz kommen, und den Mai und Juni in den milderen Gegenden der Schweiz zubringen und im Juli dann den Mont-blanc besteigen werde. — Als ich dann aber das nächste Mal zu Hr. Rooses gieng sagte mir Mad. Roose, daß jetzt vielleicht die Schweizerreise gar nicht zu Stande kommen, oder daß sie wenigstens vielleicht nicht mit reisen werden, da durch den kürzlich erfolgten Tod der Mutter von Hr. Roose, sich Vieles geändert habe und Vieles in Ordnung gebracht werden müsse. Einer außerordentlichen Einladung muß ich übrigens noch erwähnen, des wissenschaftlichen Interesses wegen, das sie für mich hatte, nämlich eine Einladung in eine Sitzung der geographischen Gesellschaft, welche alle die berühmten Männer Berlins wie Ritter, Leopold von Buch142Leopold von Buch (1774-1853) war befreundet mit Alexander von Humboldt und einer der führenden Geologen seiner Zeit. Er gab die erste "geognostische Karte Deutschlands" heraus. SL 1, S. 738.schliessen etc. zu Mitgliedern zählt; auch alle 3 Brüder Roose sind darin, es wurden einige interessan[S.5]te Vorlesungen gehalten über eine Reise in Afrika, über meteorologische Erscheinungen aus Asien; aber am meisten hätten mich einzelne Mittheilungen von Wilhelm Roose über seine letztjährige Schweizerreise interessirt, die er der Gesellschaft zu machen gedachte, aber wegen vorgerückter Zeit daran verhindert wurde. — Schließlich war dann noch ein Nachtessen, wo ich Gelegenheit hatte, einzelne der gelehrten und berühmten Männer, so z.B. Heinrich Roose143Heinrich Rose (1795-1864), Professor für Chemie, war der älteste und berühmteste der drei Brüder Rose.schliessen Prof. der Chemie auch noch von der gemüthlichen Seite kennen zu lernen. Um nun mit der Familie Roose zu schließen, habe ich Euch noch die besten Grüße von ihnen auszurichten. — Nun hätte ich bald noch eine Hauptsache vergessen, nämlich daß ich Ende Februar auf Eure Erlaubniß vom letzten Briefe hin, wieder 150 Thlr. bezogen habe; wenn es mit dem letzten Gelde wieder etwas schneller gegangen ist, so mag daran die Reise der Winterferien nach Magdeburg einige Schuld tragen; ferner sind daraus die Collegiengelder von diesem Semester bestritten, und endlich habe ich diesen Winter das Theater bisweilen besucht, um so die klassischen Werke der deutschen Litteratur doch einmal auf der Bühne zu sehen, die jedenfalls von keiner andern übertroffen wird. Denn daß das eigentliche Trauerspiel, Stücke wie die von Schiller, Lessing, Goethe etc. nicht in Frankreich zu suchen sind, ist klar, und was die deutschen Bühnen betrifft, so wird in dieser Beziehung wohl selbst Wien hinter Berlin zurückstehen. Was die Grüße betrifft, die von verschiedenen Seiten an mich eingehen, so mögt Ihr alle erwiedern, so speciell die an Hüni144Vermutlich der spätere Kaufmann Johann Jakob Hüni (*1825), der ältere Bruder des Arztes Robert Hüni (*1831), der später in Horgen praktizierte und kurze Zeit verlobt war mit Maria Magdalena Spyri, der Halbschwester Johann Bernhard Spyris: vgl. R. Schindler, Memorabilien, S. 154.schliessen von Horgen, der mir immer ein lieber Kerl war.145Siegelausriss.schliessen

Lebt wohl! Grüßet mir Alle Bekannte und Verwandte.
Euer tr. Sohn J. Chr. Heusser, stud. phil.
Berlin den 3t. März 1849.

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