Brief Nr. HK23 – 21.5.1877
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HK23 21.5.1877
Zürich den 21 Mai, 1877
Mein l[ieber] Vater!

Empfange meinen besten Dank für Deinen lieben Brief u. die Einlage. Denjenigen an Herrn Kappeler533Wohl Johann Jakob Kappeler, alt Müller (1808-1882), Cousin von Oberst Hermann Kappelers erster Frau Henriette. Wohnhaft Tiefenhöfe 8/Thalgasse 29, in der Nähe des Stadthauses; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien.schliessen brachte ich sofort in den Tiefenhof, dessen Besitzer aber eben auf der Reise war, nach Rorschach, Münsterlingen u. schliesslich Ragatz534Bad Ragaz, bis 1937 offiziell Ragaz genannt. Kurort im Kanton St. Gallen.schliessen wo er einige Tage zu bleiben gedachte. Nächster Tage werde ich hingehen um zu sehen ob er zurückgekehrt ist. Die 100 Franken brauche ich um meine 12 Violinstunden Saldo 60 fr [Franken] Herrn Kahl535Joseph Oskar Kahl (geb. 1843), Konzertmeister und Lehrer an der damals neugegründeten Musikschule Zürich. Kahl ist Hedwigs Geigenlehrer in Zürich. Er ist verheiratet mit Ida Kempin, einer Schwester von Walter Kempin-Spyri und somit Schwägerin von Dr. Emilie Kempin-Spyri, der ersten Juristin der Schweiz, Nichte von Johann Bernhard Spyri. Wohnhaft Zeltweg 27; BB 1879, 219; Zürcher Adressbuch 1877.schliessen zu bezahlen u. dann fr [Franken] 30 od. 40, ich weiss es nicht recht, für die Schule. Die l[iebe] Mutter536Aline Kappeler-Wüest (1829-1923), Hedwigs Mutter; vgl. Stammbäume Wüest und Kappeler, Materialien.schliessen wird hoffentlich meine Wäsche erhalten haben? Sei doch so gut u. sage ihr, sie möchte mir dieselbe im Koffer mit meinem weissen Piquékleid537"Piqué": ein meist baumwollenes Gewebe mit abwechselnd erhöhten und vertieften Stellen.schliessen senden u. Dich bitte ich im Namen von Frau Spyri mir die italienischen Lebensbilder vom Plutarco538Die bekannteste Schrift Plutarchs, die Parallelbiographien, liest Johanna Spyri offensichtlich in italienischer Übersetzung.schliessen zu schicken, da die welche ich mitgebracht, ihr sehr gut gefielen. Wenn ich Zeit habe, werde auch [2] ich mich dahinter wagen. Morgen fangen nun die italien. Stunden mit Fräulein Heim,539Sophie Heim (1847-1931), erste weibliche Lehrkraft an der Höheren Töchterschule. Sie unterrichtete Italienisch und galt als "pädagogische Pionierin". Sie hatte in Italien studiert und war eine hervorragende Italien-Kennerin. Ihre Italien-Begeisterung verband sie mit Johanna Spyri. Sophie Heim publizierte mehrere Lehrbücher, die viele Auflagen erlebten, das wichtigste war ihr "Elementarbuch der italienischen Sprache". Aus gesundheitlichen Gründen trat sie als Lehrerin um die Jahrhundertwende zurück; Einer pädagogischen Pionierin, in: Schweizer Frauenblatt, 4. September 1931. - Schwester von Prof. Albert Heim, Schwägerin von Dr. Marie Heim-Vögtlin. Ihre Mutter war Sophie Heim-Fries, eine Schwester der Malerin Anna (Netti) Fries; vgl. Stammbaum Wirz, Fries, Heim, in: Regine Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer, Beilage. - Der Grossvater, Landschreiber Fries, war 1826 von Dr. Heusser auf dem Hirzel geheilt worden; vgl. Meta Heusser-Schweizer, Hauschronik, 94f. - Wohnhaft Zeltweg 16, später Klosbachstr. 119.schliessen die von Florenz zurückgekehrt ist, wieder an, jedenfalls werden dann die Aufgaben in Strömen daherkommen. Unsere Pfingstpartie wurde natürlich nicht ausgeführt. Vor allem waren die verschiedenen Mitglieder der theilnehmenden Gesellschaft über das Reiseziel nicht einig u. dann kam letzten Samstag ein Telegramm, daß Fräulein Spyri,540Anna Maria Magdalena (Mädeli) Spyri (1833-1877), "Fräulein Spyri", Halbschwester von Johann Bernhard Spyri. Hatte nie einen eigenen Wohnsitz, sondern lebte bei verschiedenen Verwandten in Zürich, auf dem Hirzel, in Richterswil, am Schluss in Teufen; vgl. Regine Schindler, Spurensuche, 176ff.schliessen die Schwester von Herrn Spyri,541Johann Bernhard Spyri (1821-1884), Stadtschreiber von Zürich und Ehemann von Johanna Spyri; vgl. Regine Schindler, Spurensuche, 349 und Stammbaum, 341; HBLS VI, 484.schliessen die sich in Teufen542Ort im Kanton Appenzell-Ausserrhoden. Mädeli Spyri befindet sich als Gesellschafterin bei Frau Landammann Oertle in Teufen, als sie am 25. Mai 1877 stirbt.schliessen befand, sehr krank sei, am ähnlichen Übel, weshalb sie schon einmal eine fürchterliche Operation durchmachen mußte,543Vgl. zu Anna Maria Magdalena (Mädeli) Spyri (1833-1877) und ihrer Krankheit Regine Schindler, Spurensuche, 176 ff.schliessen wie die l[iebe] Mutter jedenfalls weiß. Nun ging gestern morgen H[err] Sp[yri] mit Prof. Frankenhäuser544Ferdinand Frankenhäuser (1832-94), Professor für Gynäkologie und Direktor der kantonalen Frauenklinik in Zürich von 1872 bis 1888.; HBLS III, 216.schliessen hinauf, dieser wollte die Kranke hieherkommen lassen, um sie zu operieren. Natürlich war diese gar nicht im Zustand, so von Schmerzen gepeinigt, eine solche Reise zu ertragen, da sie auch nicht wollte u. durchaus droben sehr gern war u. zum Sterben bereit war, ließ man sie natürlich. Herr Sp[yri] kam erst heute Mittag zurück [3] u. hat eine erschütternde Beschreibung vom Zustande seiner Schwester545Anna Maria Magdalena (Mädeli) Spyri (1833-1877), "Fräulein Spyri", Halbschwester von Johann Bernhard Spyri. Hatte nie einen eigenen Wohnsitz, sondern lebte bei verschiedenen Verwandten in Zürich, auf dem Hirzel, in Richterswil, am Schluss in Teufen; vgl. Regine Schindler, Spurensuche, 176ff.schliessen gemacht. Sie müsse die furchtbarsten Schmerzen erdulden u. sei dabei immer beim klarsten Bewusstsein u. ganz bereit zu sterben, sie sehne sich sogar danach. Ihr Zustand sei eher schlimmer, so daß man nur wünschen kann der l[iebe] Gott möge sie doch bald von solchen Leiden erlösen.546Vgl. zu Anna Maria Magdalena (Mädeli) Spyri (1833-1877) und ihrer Krankheit Regine Schindler, Spurensuche, 176 ff.schliessen Es ist wirklich traurig, wie viel Elend in dieser Welt ist u. wie viel manche Menschen dulden u. leiden müssen, bis sie endlich von diesem elenden, schwachen Körper befreit sind. Dem jungen H[errn] Spyri547Diethelm Bernhard Spyri (1855-1884), einziger Sohn von Johann Bernhard Spyri und Johanna Spyri-Heusser. Studium der Rechte in Zürich, Leipzig (1875/76) und Göttingen (1877/78), während kurzer Zeit Tätigkeit als Sekretär der kaufmännischen Gesellschaft Zürich. Studium und Arbeit werden immer wieder durch Krankheit und Kuraufenthalte unterbrochen. Bernhard stirbt knapp 29jährig an Tuberkulose.schliessen in Göttingen548Diethelm Bernhard Spyri studierte damals in Göttingen.schliessen geht es ganz ordentlich, er war noch ganz entzückt von seinem Aufenthalt in Frauenfeld549Diethelm Bernhard Spyri war im April 1877 in Frauenfeld zu Besuch bei der Familie Kappeler; EK10; Brief Diethelm Bernhard Spyri an Aline Kappeler-Wüest, 9. April 1877.schliessen u. erbost550Unsichere Lesung.schliessen, daß er wegen der Davoserdamen einen Tag früher abreisen mußte.551Diethelm Bernhard Spyri musste seinen Besuch bei der Familie Kappeler früher als geplant abbrechen, da sich offenbar in Zürich telegrafisch Damenbesuch ankündigte. Es handelte sich wohl um Damen, die er während seines Kuraufenthalts in Davos kennengelernt hatte. Er habe seine "Cavaliersobliegenheiten" erfüllen müssen, was ihm diesmal "nicht so leicht u. amüsant" vorgekommen sei, schreibt er später an Aline Kappeler-Wüest; Brief Diethelm Bernhard Spyri an Aline Kappeler-Wüest, 9. April 1877; EK10.schliessen Jedoch will er sich entschädigen u. sobald er Zürich wieder betreten sogleich nach Frauenfeld "spritzen". Ich danke Dir noch tausend Mal, daß Du mir erlaubtest, noch das ganze Jahr hier zu bleiben, ich habe dann wirklich Etwas Vollständiges,552Die Ausbildung an der Höheren Töchterschule dauerte damals zwei Jahre, welche Hedwig Kappeler von 1876 bis 1878 vollumfänglich absolvierte.schliessen womit [4] ich was anfangen kann. Auch habe ich nun noch angefangen die Pädagogik in der ersten Klasse zu besuchen ohne, daß ich zu viel bekomme, ich kann's ganz gut noch mitnehmen u. es ist ein sehr interessantes Fach vom Herr Rector553Ferdinand Zehender (1829-1885), Theologe, Gründer und Leiter des Vereins für schweizerisches Mädchenschulwesen. 1865-1875 Prorektor der Mädchenschule in Winterthur, seit 1875 Rektor der Höheren Töchterschule Zürich, unterrichtet Deutsch, Geschichte, Religion u. Pädagogik; Salomon Stadler, Rückblick auf die Geschichte der höheren Töchterschule, 15-16; 100 Jahre Töchterschule, 107; HBLS VII, 631.schliessen gegeben. Es wird nämlich die Erziehung von allen Völkern besprochen, die verschiedenen Systeme. So haben wir jetzt die Erziehung der Chinesen, Inder u. Perser durchgenommen. Es reut mich nur so, daß ich diesen [sic!] Fächer nicht schon letztes Jahr nahm; denn in der zweiten Klasse haben sie Physiognomie u. praktische Übungen eine Stunde, wo die Schülerinnen sich üben müssen im Unterrichten, u. das an einigen kleinen Mädchen die zu diesem Zwecke kommen. Ich war wirklich sehr betroffen, daß Du wieder so niedergeschlagen bist, hoffentlich geht es Dir wieder besser; was ich wenigstens von ganzem Herzen wünsche. Ach, wenn nur das Wetter einmal schön würde, damit die Gemüther sich mit dem Himmel wieder aufheitern würden.

[5] Was macht auch Otto's554Otto Kappeler (1869-1935), Hedwigs jüngster Bruder. Ab 1901 verheiratet mit Marie Pauline Stierlin (1877-1954); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen Zahn, ist er wirklich wieder angewachsen? Du hast mir gar nichts geschrieben davon. Die neue Einrichtung mit den Schlafzimmern leuchtet mir sehr ein, sie ist jedenfalls viel besser. Was machen denn die beiden schreibfaulen Schwestern,555Henriette (1856-1916) und Ernestine Kappeler (1857-1897); vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen hoffentlich werde ich noch zu meinem Geburtstag556Hedwig Kappeler wurde am 22. Mai 1860 geboren.schliessen morgen einige Zeilen von ihnen empfangen. Auch Tante Natalie557Natalie Labhardt-Wüest (1823-1904), Hedwig Kappelers Tante mütterlicherseits, Schwester von Aline Kappeler-Wüest und Witwe von Philipp Gottlieb Labhardt; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen könnte einmal ihre Federn in Bewegung setzen u. mich mit dem schon seit einem halben Jahr versprochenen Brief beglücken. Sage doch allen Verwandten u. Bekannten viele Grüße von mir, auch besonders an Marie Kappeler558Marie Luise Kappeler (geb. 1856), Hedwigs Cousine väterlicherseits, Tochter von Johann Rudolf Kappeler und Maria Katharina (Marie) Kappeler-Kessler. Heiratet am 3. Oktober 1877 Heinrich Adolf Bremi; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen u. die Tante.559Maria Katharina (Marie) Kappeler-Kessler (1835-1900), Ehefrau von Johann Rudolf Kappeler und somit Hedwigs Tante väterlicherseits. Wohnhaft in Frauenfeld, nach dem Tod ihres Mannes (1888) in Zürich, Bahnhofstrasse 106, bei ihrem Sohn, dem Arzt Rudolf Kappeler, und ganz in der Nähe ihrer Tochter Marie Luise Bremi-Kappeler; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen Ich habe mich nach einem Logie für Rudolph560Rudolf Kappeler (1858-1899), Hedwigs Cousin väterlicherseits, Sohn von Johann Rudolf Kappeler und Maria Katharina Kappeler-Kessler. Studierte ab dem Wintersemester 1876 Medizin in Zürich; Matrikeledition UZH online, Nr. 5124; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen erkundigt, da haben mir Schrödter's,561Luise Schröter-Hauer (geb. 1823), Witwe von Moritz Schröter (1813-1867), Professor für Maschinenbau und Maschinenkonstruktion am Eidgenössischen Polytechnikum von 1865 bis 1867. Nach dem frühen Tod ihres Mannes, vermietete sie Pensionszimmer, um die Familie zu versorgen. 1868 wurde ihr und den fünf Kindern (geb. 1851-1861) - darunter der später bekannte Botaniker Carl Schröter (1855-1939) - von der Stadt Zürich das Bürgerrecht geschenkt. Wohnhaft Neue Plattenstrasse, Fluntern (eingemeindet 1893); HBLS VI, 245; www.ethbib.ethz.ch/aktuell/galerie/schroeter, 20.1.2011; Zürcher Adressbücher 1875/77.schliessen die selbst keinen Platz haben, eine Frau Wächter, ganz nahe beim Politechnikum sehr empfohlen. Rudolf wäre bei ihr ausgezeichnet aufgehoben; denn Frau Prof. Schrödter562Luise Schröter-Hauer (geb. 1823), Witwe von Moritz Schröter (1813-1867), Professor für Maschinenbau und Maschinenkonstruktion am Eidgenössischen Polytechnikum von 1865 bis 1867. Nach dem frühen Tod ihres Mannes, vermietete sie Pensionszimmer, um die Familie zu versorgen. 1868 wurde ihr und den fünf Kindern (geb. 1851-1861) - darunter der später bekannte Botaniker Carl Schröter (1855-1939) - von der Stadt Zürich das Bürgerrecht geschenkt. Wohnhaft Neue Plattenstrasse, Fluntern (eingemeindet 1893); HBLS VI, 245; www.ethbib.ethz.ch/aktuell/galerie/schroeter, 20.1.2011; Zürcher Adressbücher 1875/77.schliessen kennt sie sehr gut, u. auf ihr Urtheil kann man gewiss getrost [6] gehen. Nun muß ich aber wirklich schließen; denn morgen geht es um 7 in die Schule.

Grüße mir alle aufs herzlichste u. empfange nebst der l[ieben] Mutter, einen herzlichsten Kuß von Deiner
dankbaren Tochter Hedwig.

Viele Grüße auch von Frau Spyri.

Auch wollte ich Dich noch fragen, ob ich nicht die Romanze von Beethoven kaufen dürfte, es ist ein hübsches Stück, was ich eigentlich erst später so recht spielen kann, mit voller Fertigkeit, eine so groß[e] Ausgabe ist's nicht.



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