Edition – drei Briefgruppen

Brief EK5 – 17.7.1877?
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EK5 17.7.1877?
Zürich 17. Juli 1877839Die Datierung des Briefes ist problematisch: In der Abschrift ist er unter die Briefe aus dem Jahr 1876 eingeordnet, wo er eigentlich thematisch besser hinpasst - Hedwig lebt damals erst seit kurzem bei Familie Spyri. Am 17. Juli 1876 war Johanna Spyri aber bereits in Leipzig.schliessen
[An Oberst Hermann Kappeler?]

Mit großem Bedauern habe ich vernommen, daß Ihr Unwohlsein sich noch gar nicht verloren hat, was mir um so leider für Sie tut, da die Zeiten nicht so sind, die Gemüter zu erheben u. lebensfreudig zu stimmen. Glücklich wer im eigenen Hause u. in seiner Familie ein wohltuendes Gegengewicht gegen alle Unfreundlichkeiten findet.840Nach dem Aufschwung unmittelbar nach dem deutsch-französischen Krieg geriet die Schweizer Wirtschaft 1876 in eine massive Krise, von welcher Hermann Kappeler als Verwaltungsratspräsident der Thurgauischen Hypothekenbank, aber auch als Kaufmann und privater Anleger in besonderem Masse betroffen war, vgl. auch HK2 und HK20; HLS VII, 367, Konjunktur.schliessen

Es ist noch ein Punkt, den ich Ihnen besonders gern vorlegen möchte, der Punkt des Vergnügens. Gar viele u. aufregende Vergnügungen wie Bälle, große Gesellschaften u. dergleichen, dazu führe ich meine Töchter841Neben Hedwig Kappeler hatte im Wintersemester 1876/77 noch eine zweite Pflegetochter bei Johanna Spyri gewohnt: Luise Fetscherin (1859-1951). Hier meint Johanna Spyri wohl ihre Pflegetöchter im Allgemeinen.schliessen nicht. Hingegen hie u. da eine gute Oper oder ein ausgewähltes Drama, auch ein gutes Conzert zu besuchen, auch etwa eine kleine gute Gesellschaft, dafür bin ich sehr u. sehe auch wirklich nur gute Folgen davon. Eine Tochter erwacht da mehr u. mehr zu allerlei geistigen Interessen, die ihr nachher das Leben schmücken u. bereichern können, ohne daß sie dazu von außen her der vielen Mittel bedarf, welche für viele junge Leute die unglückliche Complicierung aller Freuden u. Genüsse ausmachen. Das ist gerade der Zweck, den ich im Auge habe, sie auf diejenigen Genüsse aufmerksam zu machen, die in der Einsamkeit, in den manigfachsten Verhältnissen, in allen Lebenslagen uns unbenommen bleiben, da sie unabhängig sind von äußeren Mitteln. Ich suche sie in diesen meinen Sinn nicht nur durch Worte hinzuführen, sondern mit meinem eigenen Leben zu zeigen, daß dieser Genuß wirklich ein realer nicht ein eingebildeter ist. Läßt man mir meine Geschichtsbücher, Karten u. Grammatiken, so bin ich glücklich u. bedarf keiner andern Genüsse. Dazu braucht es nebst einem angeborenen offenen Sinn allerdings einige Kenntnisse.

Ich habe bei dieser Weise, den Genuß an allen Kenntnissen zu wecken noch einen Zweck im Auge. Wenn in dieser Zeit, da alle Verhältnisse unsicher sind,842Nach dem Aufschwung unmittelbar nach dem deutsch-französischen Krieg geriet die Schweizer Wirtschaft 1876 in eine massive Krise, von welcher Hermann Kappeler als Verwaltungsratspräsident der Thurgauischen Hypothekenbank, aber auch als Kaufmann und privater Anleger in besonderem Masse betroffen war; HLS VII, 367, Konjunktur.schliessen ein Mädchen mit einem Mal auf sich selbst gestellt ist, dann kommt es ihm wohl, wenn es nicht unglücklich u. mutlos da steht, sondern freudigen Sinns auf demselben Gebiete fortschreiten kann, wo es bisher seinen Genuß gefunden: denn das Anwenden seiner Kenntnisse ist ihm dann kein Unglück. So macht mir mein Pflegetöchterchen843Hedwig Kappeler (1860-1932), Tochter von Oberst Hermann Kappeler und Aline Kappeler-Wüest. In den Jahren 1876 bis 1878 Schülerin an der Höheren Töchterschule in Zürich und Pflegetochter bei der Familie Spyri. Anschliessend verbrachte Hedwig Kappeler ein Jahr in Genf, dann ging sie als Lehrerin nach England. Später engagierte sich Hedwig Kappeler in der bürgerlichen Frauenbewegung. Johanna Spyri blieb sie bis zu deren Tod 1901 eng verbunden und unternahm mit ihr Reisen nach Deutschland und Italien.schliessen die große Freude, mit lebendigem Interesse in meine Anschauungen einzugehen u. auch meine einfachen Genüsse recht mit mir zu teilen. Sie strebt nicht nach Besuchen, weder viele zu machen noch zu empfangen, was im Grunde doch ein großes Zeitversäumnis ist, bei der [sic!] nichts herauskommt. So kommt sie zu mir, wenn sie freie Zeit hat u. wir studieren mit einander die alten Perserkriege mit einem Interesse, als wären wir zwei alte gewiegte Generäle.844Zu Johanna Spyris pädagogischer Einstellung und Beeinflussung Hedwigs vgl. auch EK1 und EK8.schliessen