Edition – drei Briefgruppen
Gestern empfing ich endlich den längst ersehnten Brief von der l[ieben] Mutter,799Aline Kappeler-Wüest (1829-1923), Hedwigs Mutter; vgl. Stammbäume Wüest und Kappeler, Materialien.schliessen sage ihr meinen besten Dank dafür. Leider konnte sie mir nicht viel Erfreuliches berichten. Du kannst Dir denken wie ich bestürzt war als ich las, daß Du seit Sonntag das Bett hüten müssest u. zwar wegen Gichtschmerzen. Wie ist denn das auf einmal gekommen, von Erkältung. Es thut mir schrecklich leid, Dich im Bette zu wissen, bei dem prachtvollen Wetter; denn hier war es diese Tage unübertrefflich schön, besonders am Abend, der klare Himmel, die Sterne u. aus dem dunklen Grün des englischen Gartens800Der englische Garten in Genf wurde ab 1854 erstellt und befindet sich am Quai du Général-Guisan.schliessen trug ein leiser Wind die Töne einer Blechmusik an unser Ohr. Während ich so genieße, so mußt Du auf Deinem Lager die langweiligen Gichtschmerzen ausstehen. Doch will ich hoffen, daß das bald vorüber geht u. Du vielleicht [2] jetzt schon wieder aufstehen kannst. Und die arme Lisbeth,801Lisbeth, im Brief HK1 "Lisabeth", wird in zehn Briefen von Hedwig gegrüsst. Sie ist offensichtlich die Hausangestellte bei Familie Kappeler-Wüest in Frauenfeld, die aber sehr familiär behandelt wird u. z.B. auch ein Foto von Hedwig bekommt (vgl. HK12 und 13). Gemäss HK35 wohnt sie im Dachstock von Hedwigs Elternhaus.schliessen wie geht es ihr? Ich lasse sie vielmals grüßen u. hoffe daß sie bald wieder hergestellt sei. Die l[iebe] Mutter ist jetzt wirklich sehr geplagt, zu oberst u. zu unterst im Hause 2 Patienten u. in der Mitte dann noch den Besuch. Frl. Bitzel802Gast bei der Familie Kappeler-Wüest in Frauenfeld.schliessen geniert Euch zwar gewiss nicht, sie ist ja gar nicht so anspruchsvoll. Heute habe ich einen Brief von Frau Sp[yri] erhalten, sie ist sehr vergnügt gewesen bei Euch. Hat sie jetzt ein kleines Geschäftchen mit Dir gemacht? Sie fragte mich nämlich, ob Du ihr eine gewisse Summe nicht irgendwo in Frauenfeld anlegen könntest?803Evtl. handelt es sich hier um das Erbe Johanna Spyris von ihrer Mutter Meta Heusser-Schweizer, welche am 2. Januar 1876 verstorben ist.schliessen Ich bejahte natürlich u. sagte, daß Du auch selbst Geld aufnehmest, od. dann jedenfalls die Bank.
Jetzt will ich Dir aber noch ein wenig erzählen was ich hier treibe. Vor Allem besuche ich die Violinstunden von Mad[ame] Malignon, die immer außerordentlich liebenswürdig ist, u. sich sehr für mich interessiert, was mir auch viel Eifer für die [3] Sache einflösst. Jetzt übe ich täglich 1½ - 2 Stunden, ich muß es in diesem halben Jahr noch zu etwas bringen; denn man kann nicht sein Leben lang Stunden nehmen, obschon man für das Violinspiel ein halbes Jahrhundert studieren könnte. Letzten Samstag war ich bei Mad[ame] Bouvier-Monod804Louise Bouvier-Monod, verheiratet mit Auguste Bouvier, Pfarrer und von 1861 bis 1893 Professor für Apologetik und Dogmatik an der Universität Genf; HLS II, 629.schliessen eingeladen, der Tochter von dem berühmten Adolf Monod805Adolphe Monod (1802-1856), Theologe, Mitglied des Réveil, Pfarrer in Neapel und Lyon, ab 1836 Professor an der Universität Montauban, ab 1847 Pfarrer in Paris.schliessen von Paris. Sie ist eine sehr fein gebildete Dame, im Anfang etwas kühl u. imponierend. Sie hat 5 Kinder 2 erwachsene Söhne, von denen einer in Alexandrien ist, u. 3 Mädchen, das älteste in meinem Alter ist jetzt zur weitern Ausbildung in Paris. Bei Frau Bouvier806Louise Bouvier-Monod, verheiratet mit Auguste Bouvier, Pfarrer und von 1861 bis 1893 Prof. für Apologetik und Dogmatik an der Universität Genf; HLS II, 629.schliessen habe ich 2 deutsche Schweizerinnen getroffen, Klara Geilinger, die vor einigen Tagen abgereist ist, u. Emma Ott,807Mathilde Emma Ott (geb. 1861), Tochter des Kunstmalers Gustav Heinrich Ott-Däniker (geb. 1828), Sohn von Kaspar Ott-Trümpler, wohnhaft in Riesbach an der Kreuzbühlstrasse; BB 1875, 245; BB 1879, 329.schliessen die Enkelin von Herr Ott-Trümpler,808Kaspar Ott (geb. 1801), Kaufmann, verheiratet mit Franziska Karoline Trümpler (geb. 1803). Wohnhaft in Riesbach, Kreuzbühlstrasse: BB 1875, 244; BB 1879, 328.schliessen ein nettes Mädchen, das aber leider auch bald abreisen wird. Sonntags war ich mit Frau Jaquemet809Während ihres Aufenthalts in Genf 1878 wohnte Hedwig bei einer Familie Jaquemet; Nachruf Hedwig Kappeler.schliessen in der église aux vives,810Der Temple des Eaux Vives im Quartier Eaux Vives in Genf. "Temple" ist die Bezeichnung für eine protestantische Kirche.schliessen wo wir einen ziemlich mittelmäßigen Prediger hörten, den Nachmittag brachte ich mit Lesen u. Spazieren zu. [4] Montag machte ich einen Besuch bei Frau Krafft, die sehr liebenswürdig war u. mich fragte, ich müsse einmal mit meiner Geige zu ihr kommen für einen Abend. (Ich erwarte mit Spannung eine Einladung ...). Montag Abend war ich in einer Vorlesung für Rousseau als Pädagoge in der Aula der Universität u. heute Abend gehen wir wieder in eine über Rousseau u. seine religiösen Ansichten, gehalten eben von Herrn Bouvier-Monod811Auguste Bouvier (1826-1893), Pfarrer und von 1861 bis 1893 Prof. für Apologetik und Dogmatik an der Universität Genf; HLS II, 629.schliessen Prof. der Theologie. Ich glaube nicht, daß ich sehr viel verstehen werde, da der Vortrag wahrscheinlich sehr hoch gehalten sein wird. Aber probieren geht über studieren. Morgen werden die beiden Mädchen Jaquemet beendigt haben, da wird es dann wohl ein wenig lustiger sein, aber bis jetzt hört man immer nur von allen von Examen Récitation etc. sprechen, was recht langweilig ist. Samstag Nachmittag ist die Vertheilung der Preise im Conservatoire wo ich hingehen kann mit Marghérite, was mir viel Vergnügen macht. Nächsten Sonntag, Montag u. Dienstag wird die hundertjährige Feier Rousseau's stattfinden, jetzt schon [4 am Rd.] sieht man überall Flaggen aufgesteckt, u. Gerüste für Triumpfbogen. Auf dem großen Platze von Plaine-Palais812Plainpalais ist eine ehemalige Vorstadtgemeinde von Genf, eingemeindet 1930.schliessen ist eine Kolossalstatue813Kolossalstatue des französischen Bildhauers Jean-Jules Salmson (1823-1902), Direktor der Kunstgewerbeschule in Genf; ALBK XXIX, 353.schliessen errichtet worden, von dem allem werde ich dann die nächste Woche eine Beschreibung schicken.
[2 am Rd.] Empfange nebst der l[ieben] Mutter u. den Geschwistern herzliche Grüße u. einen innigen Kuß von Deiner dankbarenViele Grüße an Fräulein Bitzel, Herr Ehrenspergers,814Karl Ehrensperger (1835-1898), Sohn von Carl Ehrensperger (1803-1865) und Maria Kappeler (1809-1861), und seine Frau Johanna De Courcy geb. Lightbody (1844-1900), Verwandter von Oberst Hermann Kappelers erster Frau Henriette Kappeler, von 1875 bis 1898 Honorarkonsul in Liverpool; www.dodis.ch/P20115, 25.1.2011; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien. - Während ihres Englandaufenthaltes in den folgenden Jahren 1879/80 wohnte Hedwig einige Zeit bei der Familie Ehrensperger (vgl. EK33 und EK34).schliessen es thut mir sehr leid sie nicht zu sehen.
Natürlich für alle Verwandten im Bernerhaus815Spätbarockes Herrschaftshaus in Frauenfeld, im 18. Jahrhundert Quartier der Tagsatzungsgesandten aus Bern, heute Bankplatz 5; Beat Gnädinger/Georg Spuhler, Frauenfeld, 267-270. - Wohnsitz der Grosseltern mütterlicherseits, Johann Jakob Wüest (1792-1885) und Maria Wüest-Merkle (1795-1887) sowie von Hedwigs unverheiratetem Onkel Jakob Hermann Wüest (1822-1919) und der ledig gebliebenen Tante Anna Friederike Wüest (1821-1920).schliessen etc. meine herzlichen Grüße.
[1 am Rd.] Ich wünsche Dir von Herzen gute Besserung für Deinen Fuß. Bitte schreibe mir doch bald wie es Dir geht.