Edition – drei Briefgruppen

Brief HK14 – 10.12.1876
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HK14 10.12.1876
Zürich, den 10. Dez[ember] 1876
Mein l[ieber] Vater!

Es drängt heute noch, Deinen l[ieben] Brief, für den ich Dir vielmal danke, zu beantworten. In der That bin ich in letzter Zeit gar nicht schreibselig gewesen, was ich mir eigentlich gar nicht recht erklären kann, aber es war wirklich ziemlich viel los u. dann nachdem ich meine Aufgaben beendet, war ich auch nicht sehr zum Briefschreiben aufgelegt.

Letzten Freitag habe ich abends schon zwei Seiten an die l[iebe] Mutter358Aline Kappeler-Wüest (1829-1923), Hedwigs Mutter; vgl. Stammbäume Wüest und Kappeler, Materialien.schliessen geschrieben, da ich dann aber zu Lotte ging mußte ich die Fortsetzung auf gestern versparen, leider sind dieselben nun ganz verloren, da im Anfang eine ganze Entrüstung ausgesprochen ist, über das Nichtzurückerhalten meiner Wäsche. Gestern ging ich nach Empfang des Koffers sogleich mit jenem Paket zu H[errn] Kappeler.359Vermutlich Johann Jakob Kappeler, alt Müller (1808-1882), Cousin von Oberst Hermann Kappelers erster Frau Henriette. Wohnhaft Tiefenhöfe 8/Thalgasse 29, in der Nähe des Stadthauses; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien.schliessen Nach seinem Brief ist Dein Kommen viel bestimmter, als in meinem. Oh ich freue mich so sehr darauf, u. [2] besonders, wenn Du einmal mehr als 1 Tag bleibst, daß wir einander mehr genießen können; denn die frühern Besuche waren eigentlich nur Hetzjagden. Vielleicht kannst Du dann die Oper auch noch genießen, es ist jetzt wieder eine neue Sängerin, die sehr hübsch singt, aber ein wenig zu korpulent ist. Letzten Mittwoch war ich im "Don Juan",360Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni, Uraufführung 1787.schliessen wo sie zum ersten Mal auftrat. Diese Musik ist wirklich sehr hübsch, so lieblich u. nicht so lärmend wie die Wagner Stücke, solche furchtbare Posaunenstöße etc. kommen selten vor, vielmehr die sanften Streichinstrumente od. Flöte, Oboe u. Glarinette. Gestern Abend waren die 3 Töchter361Maria Helena (geb. 1851), Bertha (geb. 1854) und Anna Mathilde von Orelli (geb. 1856). Ihre Mutter, Bertha von Orelli-Ziegler (1819-1891), wurde nach dem Tode von Betsy Meyer-Ulrich für mehrere Jahre eine wichtige Gesprächspartnerin für Johanna Spyri. Sie besuchte sie regelmässig in ihrem Haus am Talgarten und schrieb ihr oft; vgl. das Kapitel zu Bertha von Orelli-Ziegler in: Regine Schindler, Johanna Spyri. Neue Entdeckungen und unbekannte Briefe.schliessen von Herrn von Orelli-Ziegler,362Hans Konrad von Orelli (1812-1891), Bankier, holländischer Konsul, verheiratet mit Bertha von Orelli-Ziegler (1819-1891).schliessen mit dem Du in Geschäftsverbindung stehst, hier. Es sind sehr nette, feine Mädchen, so nach Frau Spyris Geschmack. Es war ein ganz vergnügter Abend. Ich finde es eigentlich schrecklich wie immer Einladung Theater u. Konzert auf einander folgen. Denn heute morgen war schon wieder eine Aufführung der Kammermusik, die mir aber wirklich weniger [3] gefiel als die Letzte, das heisst das erste Stück, ein Quintett von Mozart in G-moll war sehr schön, dagegen hat Herrn Gloggner363Carl Gloggner, Sänger, Pianist und Stimmbildner, Klavier- und Gesanglehrer an der Zürcher Musikschule; Verzeichnis der Lehrer der Musikschule in: Zürcher Adressbuch 1877, 24.schliessen einiges begleitet was weniger hübsch war. Sein Spiel ist lange nicht so schön wie das von Freund,364Robert Freund (1852-1936). Der in Budapest geborene Pianist und Komponist kam 1875 nach Zürich und war der erste Klavierlehrer an der 1876 gegründeten Musikschule; Riemann Musik-Lexikon I, S. 549.schliessen der spielt wirklich wundervoll, so genial. Heute Abend waren wir bei einer bekannten Dame vo[n] F[rau] Sp[yri] zum Thee eingeladen. Sicher würde Dir dieselbe außerordentlich gefallen. Es ist eine Frau Rahn-Esslinger365Maria Justine Rahn-Esslinger (1811-1893), Witwe seit 1861, wohnhaft Bahnhofstrasse 73, dann Hottingerstrasse; Conrad Ulrich, Die Lebenserinnerungen des Conrad Esslinger, 105; BB 1875, 259; BB 1879, 345.schliessen kinderlose Witwe, es ist aber noch eine sehr nette Fräulein Öchslin,366Emilie Luise Oechslin (1842-1915), von Augsburg, heiratete 1877 alt Stadtrichter Hans Konrad Esslinger, den Bruder von Maria Justine Rahn-Esslinger; BB 1879, 99; Conrad Ulrich, Die Lebenserinnerungen des Conrad Esslinger, 96.schliessen schon seit 15 Jahren bei ihr, die so zu sagen wie ihre Tochter ist. Frau Rahn ist zwar sehr corpulent, so daß sich Tante Natalie367Natalie Labhardt-Wüest (1823-1904), Hedwig Kappelers Tante mütterlicherseits, Schwester von Aline Kappeler-Wüest und Witwe von Philipp Gottlieb Labhardt; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen wohl trösten kann, sag es ihr nur, aber dafür ist sie eben herzig nett, sehr frisch u. lebhaft u. interessiert sich für alles, dazu hat sie schon sehr viele u. große Reisen gemacht, sie [war] z.B. auch einen Winter in Italien, so daß sie immer sehr viel erzählen kann. Etwas das mich sehr anspricht, denn ich höre nichts lieber als von Reisen erzählen u. dann besonders von Italien, das ist ein Gelust, der von F[rau] Sp[yri] [4] so oft befriedigt wird, da sie furchtbar Verehrerin Italiens ist. Es muß gewiss auch sehr schön sein, besonders im Süden, so daß auch meine Sehnsucht dorthin zu reisen immer reger wird. Letzten Donnerstag war ich in einer Vorlesung im Hotel Baur. Es war dieselbe von H[errn] Prof. Kinkel368Johann Gottfried Kinkel (1815-1882), Dr. phil., Theologe, Dichter, Politiker und Kunsthistoriker. Seit 1866 Professor für Archäologie und Kunstgeschichte am Polytechnikum in Zürich, unterrichtete seit 1875 auch Kunstgeschichte an der Höheren Töchterschule. Später ausserdem Vorsteher der allgemeinen philosophischen und staatswissenschaftlichen Abteilung des Polytechnikums; Salomon Stadler, Rückblick auf die Geschichte der höheren Töchterschule, 42;HLS VII, 219; HBLS IV, 492; NDB XI, 623f.schliessen über Shakespeare, was mich sehr interessierte. Auch war es sehr angenehm, er trug Alles vor, nicht wie die Andern welche ihre Sachen lesen u. dann manchmal so in den Bart brummten, daß man natürlich lange nicht so viel Genuss hat. Dann spricht H[err] Kinkel ein sehr schönes Deutsch, was auch ein großer Vorzug ist u. dazu ist er immer noch sehr lebhaft, was zwar manchmal fast ein wenig an Komödie grenzt. Vielleicht gehen wir diese Woche noch einmal zu Tante Ida369Ida Kappeler-Aepli (1813-1897), Mutter von Pfarrer Georg Alfred Kappeler (1839-1916) und Alexander Otto Kappeler (1841-1909), Dr. med., Verwandte von Oberst Hermann Kappelers erster Frau Henriette; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien.schliessen nach Schwammendingen.370Vorort von Zürich, erst 1934 in die Stadt Zürich eingemeindet. Georg Alfred Kappeler war damals Pfarrer in Schwamendingen.schliessen Sei so gut u. schreibe mir dann doch auf einer Karte wann Du im Sinne hast zu kommen, daß ich mich mit den Aufgaben ein wenig einrichten kann. Leider ist der Bogen schon voll u. da ich noch der l[ieben] Mutter einige Zeilen schreiben möchte, will ich denn mein Geplauder beenden.

[4 am Rd.] Empfange die herzlichsten Grüße u. Küsse von Deiner dankbaren Tochter
Hedwig