Edition – drei Briefgruppen
Nun sollst du aus dieser nordischen Ferne auch einen Gruß von mir erhalten.824Vgl. zu diesem Brief HK6.schliessen Die langen Erzählungen behalte ich auf unsre gemütlichen Abende am Theetisch u. unter dem Fenster im Sternenschein. Du mußt Dir keine Gedanken darüber machen, daß ich die frühere Jahreszeit zu meiner Reise gewählt habe. Es war nur zwei Tage sehr heiß in Leipzig,825Johanna Spyris Sohn Diethelm Bernhard studierte 1875/76 in Leipzig, wo er schwer erkrankte. Johanna Spyri fuhr Mitte Juli 1876 zu ihm und von da weiter nach Dänemark, wo sie ihre dänischen Freunde und Bekannten besuchte. Ende August 1876 brachte sie ihren kranken Sohn nach Zürich zurück.schliessen dann wurde es kühl u. regnerisch. Hier habe ich nun wohl wieder täglich schön u. hellen Himmel, aber da ists gar nie so heiß wie bei uns u. am Abend ists gleich so kühl, daß mir eine gute Jacke nicht zu warm ist. Von Leipzig fuhr ich direkt hieher. Natürlich stand in Kopenhagen Helga826Helga Josephine Frederikke Kjaer, später Feddersen (1852-1936) aus Kopenhagen, Freundin von Johanna Spyri, heiratete 1890 Dr. Berend Wilhelm Feddersen (1832-1918), Physiker und Privatgelehrter in Leipzig; Martin Henke, Flinke Funken, 9, 45ff.; NDB V, 40f.schliessen an der Bahn u. führte mich heim in ein äußerst nettes gemütliches Haus in einer Vorstadt, rings von Grün umgeben, überall schöne Gärten, herrliche Bäume, so daß man nicht ahnt, daß man sich so nah an der großen Seestadt befindet. Mein größtes Vergnügen ist, längs des Hafens auf einer prächtig angelegten Allee spazieren zu gehen u. über das weite blaue Meer hinaus u. auf die unzähligen großen Segel- u. Dampfschiffe zu schauen die da beständig ankommen u. auslaufen oder auch still in dem schönen ausgedehnten Hafen liegen.
Kopenhagen ist eine Prachtsstadt, so schön u. gut sieht alles aus, die öffentlichen Plätze, die Straßen, die Prachtsschlösser, deren zwei in der Stadt stehen von den herrlichsten Parkanlagen umgeben. Auch die Umgebungen der Stadt sind wundervoll, solche Eichen u. Buchen in den Wäldern, welche die nahen besuchten Badeörter umgeben, habe ich nie gesehen. Auch die Güter weiter drinnen im Lande sind prächtig. Wir kamen am letzten Samstag von Helsingör zurück, wo wir zwei Tage auf einem Gute827Klostermosegaard bei Helsingör (Dänemark), Gut des Fabrikbesitzers Georg Friedrich Dithmer.schliessen zugebracht hatten. Es ist ein herrlich gelegenes, sehr schönes Haus, mitten in Grün u. Bäumen u. von prächtigem Gehölz, weit ausgedehnten Feldern umgeben. Herr D[ithmer]828Hans Heinrich Dithmer (1856-1935), Sohn von Guts- und Fabrikbesitzer Georg Friedrich Dithmer in Klostermosegaard bei Helsingör, besuchte von 1874 bis 1878 die Ingenieurschule am Polytechnikum in Zürich und beteiligte sich anschliessend am Bau der Gotthardbahn; Dossier Hans Heinrich Dithmer, ETH Zürich; Programme der eidgen. Polytechnischen Schule; Mitteilung Telse Jensen-Gaard, Enkelin von Hans Heinrich Dithmer, Virum, Dänemark, 24.5.2009.schliessen hat keine Mutter mehr aber einen so liebenswürdigen, guten Vater,829Georg Friedrich Dithmer (1822-1894), Vater von Hans Heinrich Dithmer, Guts- und Fabrikbesitzer in Klostermosegaard bei Helsingör; Mitteilung Telse Jensen-Gaard, Enkelin von Hans Heinrich Dithmer, Virum, Dänemark, 24.5.2009.schliessen daß man sich da gleich ganz zu Hause fühlt. Der nette Papa wollte mich gleich für 8 Tage behalten u. mir wäre es auch ganz wohl gewesen. Natürlich mußte ich viel von seinem netten Sohn830Hans Heinrich Dithmer (1856-1935), Sohn von Guts- und Fabrikbesitzer Georg Friedrich Dithmer in Klostermosegaard bei Helsingör, besuchte von 1874 bis 1878 die Ingenieurschule am Polytechnikum in Zürich und beteiligte sich anschliessend am Bau der Gotthardbahn; Dossier Hans Heinrich Dithmer, ETH Zürich; Programme der eidgen. Polytechnischen Schule; Mitteilung Telse Jensen-Gaard, Enkelin von Hans Heinrich Dithmer, Virum, Dänemark, 24.5.2009.schliessen erzählen u. so wurden wir dann auch bald so bekannt, als hätten wir uns lange schon gekannt. Du weißt ja, wie gern ich den feinen jungen D[ithmer] mag. Wir mußten aber am folgenden Tag doch wieder zurückkehren, nachdem ich noch mit dem netten Papa auf seinem ganzen Gut herumgewandert war. Er will uns besuchen im folgenden Sommer, da mußt du schon noch bei uns sein, denn da wollen so viele Daenen uns besuchen, daß es wirklich amüsant sein wird.831Siehe dazu HK26.schliessen Am 4. August soll ich nach dem Gute Broholm gehn, wo die Fräulein von S[ehested]832Vermutlich handelt es sich um die zwei adligen Schwestern Sehested, Thyra (1840-1923), Historikerin und Schriftstellerin, und Hilda (1858-1936), Komponistin, Töchter des Gutsbesitzers und Archäologen Niels Frederik Bernhard Sehested (1813-1882). Dieser war der Halbbruder von Helga Feddersens Vater Erik Wilhelm Kjaer; DBL XIII, 312, 319f., 327. - Mit den Damen von Sehested war Johanna Spyri im Sommer 1875 in Italien; HK1; Brief Johanna Spyri an Bertha von Orelli, 10. September 1876.schliessen wohnen. Da soll ich 10-12 Tage bleiben, sie wollen von keiner kürzeren Zeit wissen, dann reise ich direkt nach Leipzig. Ich glaube nun fast, ich werde Bernhard833Diethelm Bernhard Spyri (1855-1884), einziger Sohn von Johann Bernhard Spyri und Johanna Spyri-Heusser. Studium der Rechte in Zürich, Leipzig (1875/76) und Göttingen (1877/78), während kurzer Zeit Tätigkeit als Sekretär der kaufmännischen Gesellschaft Zürich. Studium und Arbeit werden immer wieder durch Krankheit und Kuraufenthalte unterbrochen. Bernhard stirbt knapp 29jährig an Tuberkulose.schliessen mitbringen, ich fand ihn nämlich gar nicht recht wohl u. so mager, daß ich ganz erschrack. Er aß auch kein bisschen, er hat solche Sehnsucht nach dem häuslichen Essen u. käme er dabei auch am besten wieder zurecht. Ich hoffe, wir kommen froh u. wohl wieder zusammen.