Edition – drei Briefgruppen

Brief HK33 – 3.12.1877
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HK33 3.12.1877
Zürich, den 3 Dez[ember] 1877.
Mein liebster Vater!

Es tut mir schrecklich leid, daß ich vergessen hatte Dir den Empfang jener fr [Franken] 20 zu melden. Als ich nämlich Deinen l[ieben] Brief empfing u. denselben gelesen hatte, machte ich mich sofort auf den Weg zuerst das Geld zu holen u. dann den Brief an H[errn] Kappeler786Wohl Johann Jakob Kappeler, alt Müller (1808-1882), Cousin von Oberst Hermann Kappelers erster Frau Henriette. Wohnhaft Tiefenhöfe 8/Thalgasse 29, in der Nähe des Stadthauses; vgl. Stammbaum Henriette Kappeler, Materialien.schliessen abzugeben, der noch immer nicht ganz besser ist u. das Zimmer hüten muß. Er lud mich dann auf Sonntag zum Mittagessen ein, was ich natürlich annahm. Dann gings sofort zu Jelmoli,787Warenhaus in Zürich (gegr. 1833).schliessen der jedoch keinen Sconto geben wollte u. so kehrte ich schon mit bedeutend verminderter Baarschaft nach Haus, daß mir der Gedanke an ein Anmelden des Empfangs gar nicht mehr aufstieg.

Daß Du die Sache mit dem Geigenbogen gleich so furchtbar ernst auffassen würdest, hätte ich nicht gedacht, ich bemerkte es nur gelegentlich. Für kurze Zeit kann ich schon noch mit dem alten Bogen spielen, der eben einen Fehler [hat] [2] den man nicht reparieren kann, da die Stange keine Spannung mehr hervorbringen kann, wahrscheinlich hat Maggiachini788Sicher meint Hedwig den italienischen Geigenbauer Giovanni Paolo Maggini (1580-1632). Möglicherweise hat sie eine Geige aus seiner Werkstatt.schliessen das gemacht mit allen seinen Künsten die er auf seiner Geige ausführt. Ich werde nun gar nicht pressieren, es ist viel besser man mache alles mit aller Ruhe, ich werde mich gelegentlich bei Kahl789Joseph Oskar Kahl (geb. 1843), Konzertmeister und Lehrer an der damals neugegründeten Musikschule Zürich. Kahl ist Hedwigs Geigenlehrer in Zürich. Er ist verheiratet mit Ida Kempin, einer Schwester von Walter Kempin-Spyri und somit Schwägerin von Dr. Emilie Kempin-Spyri, der ersten Juristin der Schweiz, Nichte von Johann Bernhard Spyri. Wohnhaft Zeltweg 27; BB 1879, 219; Zürcher Adressbuch 1877.schliessen nach den verschiedenen Bogen erkundigen, worüber er mir natürlich Auskunft geben kann, u. dann frage ich was ungefähr ein guter Bogen kosten mag; denn wenn man einmal Geld ausgibt ist es gewiss besser man nehme etwas Gutes ich will sehr gern den Zins meines Sparkassengeldes dazu brauchen. Wenn ich nun das von Kahl alles weiß werde ich Dir schreiben u. fragen für welchen Preis ich einen Bogen kaufen kann u. dann erst gehe ich zu Hug790Zürcher Musikaliengeschäft (gegr. 1807).schliessen u. hole mir welche zur Auswahl um sie Kahl zu zeigen. Bist Du nicht einverstanden mit meinem Plan?

Ich kann gar nicht begreifen daß Du mein Lateinlernen nicht für gut ansiehst. Ich habe es nicht nur angefangen so in den Tag hinein ohne zu überlegen. [3] Daß ich die Sprache selbst nicht mehr recht lernen kann weiß ich schon, aber das war nicht mein Hauptgedanke dabei, sondern es ist eben dabei vergleichende Sprachkunde u. viele Sachen aus der deutschen Grammatik werden einem dabei klar. Und immerhin bekomme ich doch eine famose Grundlage im Latein; denn Prof. Schweizer791Johann Heinrich Schweizer-Sidler (1815-1894), seit 1849 ao., ab 1864 o. Professor der Sprachwissenschaft an der Zürcher Hochschule und Mitleiter des Philologischen Seminars, seit 1875 Lehrer für Latein an der Höheren Töchterschule in Zürich; ADB LIV, 282-285; Salomon Stadler, Rückblick auf die Geschichte der höheren Töchterschule, 42.schliessen ist ein ausgezeichneter Lehrer. Deine Besorgnisse in Betreff zu starker Anstrengung [sind] nicht ganz richtig da ich jetzt wo ich mit allen andern Fächern tüchtig nach bin u. sie mir nicht mehr so viel Mühe machen wie am Anfange meines hiesigen Aufenthaltes, so kommt es mir viel leichter an, das Lateinische mit in den Kauf zu nehmen; denn das wenige wird mir jedenfalls immer recht gute Dienste leisten. Nun habe ich diese beiden Kapitel lange genug behandelt, auch ist jetzt Zeit ins Bett zu gehen, Du kannst es gewiss auch der Schrift ansehen.792Hedwigs Schrift ist besonders eng in diesem Brief.schliessen Ich bitte Dich der l[ieben] Mutter793Aline Kappeler-Wüest (1829-1923), Hedwigs Mutter; vgl. Stammbäume Wüest und Kappeler, Materialien.schliessen zu sagen, sie möchte doch nicht vergessen mir die reparierten Schuhe der Wäsche beizulegen, da ich dieselben sehr nöthig habe. Viele Grüße von Frau Spyri an Euch Alle, sowie auch besonders von mir.

[4] Ich erwartete immer vergebens einen Brief von Ernestine794Ernestine Kappeler (1857-1897), ältere Schwester Hedwigs. Ab 1883 verheiratet mit Friedrich Benedikt Brügger, Bürger von Churwalden. Sie starb am 14. Oktober 1897 an einer Bronchitis mit Lungenentzündung; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen sie scheint nicht sehr zum Briefschreiben aufgelegt zu sein.

Empfange einen herzlichen Kuß von Deiner l[ieben] u. dankbaren
Tochter Hedwig.

Bitte schreibt mir doch bald wieder, wer gerade Zeit hat. Morgen hoffe ich in dem Konzert von Pablo de Sarasate,795Pablo de Sarasate (1844-1908), spanischer Geiger und Komponist; MGG XI, Sp. 1399-1401.schliessen dem berühmten Violinspieler einige Frauenfelder zu sehen.