Edition – drei Briefgruppen
Meine Reise509Hedwig ist auf dem Weg von Frauenfeld, wo sie die Ferien verbrachte, zurück nach Zürich. Anfang Mai 1877 beginnt für sie das zweite Schuljahr an der Höheren Töchterschule.schliessen ging ganz glücklich von Statten besonders der erste Theil bis Winterthur, als ich mit den Steiner Verwandten510Vermutlich handelt es sich um Verwandte der Frau Pfarrer Johanna Hafner-Vetter (geb. 1807) von Stein, wohnhaft in Greifensee (vgl. K. Vetter in HK9).schliessen fuhr. Auf einmal redete mich ein Herr, der auch in Frauenfeld eingestiegen [ist] an, u. fragte ob ich eine Violinvirtuosin sei, natürlich vertauschte ich sogleich diesen Ausdruck mit einem niedrigeren. Es stellte sich indes bald heraus, daß es Herr Lüti511Jakob Heinrich Lüti (geb. 1848), Kaufmann; BB 1879, 267.schliessen von hier war, der seine Schwester512Anna Gertrud Bachmann (geb. 1857), Schwester von Jakob Heinrich Lüti, heiratete zwischen 1875 und 1879 Dr. Bachmann, Bezirksgerichtspräsident in Frauenfeld. Vermutlich wohnhaft im Schloss Frauenfeld; vgl. BB 1879, 267.schliessen besuchen wollte in Frauenfeld. Ich habe mir diesen H[errn] L[üti]513Jakob Heinrich Lüti (geb. 1848), Kaufmann; BB 1879, 267.schliessen viel feiner vorgestellt, es wäre mir nicht von weitem eingefallen, daß das der Bruder der Schlossdame sein sollte.514Im Schloss Frauenfeld wurden Ende des 19. Jahrhunderts Wohnungen vermietet. Vermutlich wohnte der Bezirksgerichtspräsident Bachmann mit seiner Frau dort, weshalb sie von Hedwig "Schlossdame" genannt wird.schliessen In Winterthur mußte ich Wagenwechseln, u. saß dann einem jungen Fräulein gegenüber. Nachdem wir einander so verborgen betrachtet, fragte mich diese plötzlich ob ich nicht eine Fräulein Borel von Morge515Unsichere Lesung, gemeint ist möglicherweise Morges, Ort am Genfersee.schliessen kenne, die in Winterthur in Pension [2] sein sollte. Dadurch war die Konversation angefangen, die dann bis Zürich ziemlich eifrig fortgeführt wurde. Da könnt ihr sehen, daß ich gar nicht so schrecklich zurückhaltend bin.
Den 9ten Mai. Da ich letzten Dienstag durch des l[ieben] Vaters516Hermann Kappeler (1808-1884), Oberst, Kaufmann und Verwaltungsratspräsident der Thurgauischen Hypothekenbank, Hedwigs Vater; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen Besuch überrascht wurde, will ich erst heute meinen Brief beenden, da ich schon ein wenig mehr erlebt habe. Die Schuleröffnung fand erst gestern um 7 Uhr morgens statt, um 8 Uhr hatten wir die erste Stunde bei dem neuen franz. Lehrer517Prof. Camillo Kantorowicz wird 1877 Französischlehrer an der Höheren Töchterschule in Zürich; Salomon Stadler, Rückblick auf die Geschichte der höheren Töchterschule, 43; Jahresberichte der Höheren Töchterschule 1875-1880.schliessen, er sieht viel feiner aus als Bornand,518Der Waadtländer Theophil Bornand (geb. 1848) ist von 1875 bis 1877 Lehrer für Französisch an der Höheren Töchterschule; Salomon Stadler, Rückblick auf die Geschichte der höheren Töchterschule, 42; BB 1875, Niedergelassene, 45.schliessen hingegen spricht er nicht so hübsch. Aber er gefiel mir viel besser, jedenfalls ist der Unterricht besser bei ihm. Denkt heute hatte ich gar keine Stunde, weshalb wir diesen schönen Nachmittag benutzten u. schnurstracks nach dem Goldbach gingen, um Frau Billeter519Anna Billeter (geb. 1827), Musiklehrerin; BB 1875, 21.schliessen zu besuchen. Sie war sehr nett, sie [kennt] auch Frau Sp[yri] gut. Sei so gut u. sage Herminen520Hermine Labhardt (geb. 1853), Hedwig Kappelers Cousine mütterlicherseits, Tochter von Philipp Gottlieb Labhardt und Natalie Labhardt-Wüest. Am 10. Juli 1878 Heirat mit Konrad Gottlieb Wilhelm Jänike; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen viele Grüße von ihr u. H[ermine] solle doch einmal kommen um ihr Gut im Sommer zu genießen.521Hermine wohnte im Winter (Februar/März) 1877 bei Anna Billeter (vgl. HK19).schliessen Es ist wirklich allerliebst droben, der Garten ist sehr [3] hübsch, dann ist hinter dem Haus ein wundernetter Fussweg bergauf, dem sog. Goldbach entlang, zwischen Gebüsch u. oben eine schöne Aussicht. Wir tranken den Kaffee bei ihr u. nachher spazierten wir eben, auf oben genanntem Fussweg u. dann im Garten, wo uns Frau Billeter ein allerliebstes Bouquetchen pflückte. Gestern Abend waren die 3 Fräulein Orelli522Maria Helena (geb. 1851), Bertha (geb. 1854) und Anna Mathilde (geb. 1856) von Orelli. Ihre Mutter, Berta von Orelli-Ziegler (1819-1891), wurde nach dem Tode von Betsy Meyer-Ulrich für mehrere Jahre eine wichtige Gesprächspartnerin für Johanna Spyri. Sie besuchte sie regelmässig in ihrem Haus am Talgarten und schrieb ihr oft; vgl. das Kapitel zu Bertha von Orelli-Ziegler in: Regine Schindler, Johanna Spyri. Neue Entdeckungen und unbekannte Briefe.schliessen hier mit Fräulein Vittor523Schwester von Helene Viëtor, Tochter von Cornelius Rudolf Viëtor (1814-1897), Pastor in Bremen. Pastor Viëtor hatte 13 Kinder und brachte seine vier Töchter aus erster Ehe je für ein Jahr zur Ausbildung nach Zürich zu seinem Freund, dem Juristen Hans Heinrich Spöndlin. Johanna Spyri kümmerte sich während dieser Zeit intensiv um die Mädchen und betreute sie im Sprachunterricht; Cornelius Rudolf Viëtor, Lebenserinnerungen, 322; Regine Schindler, Spurensuche, 159-175.schliessen [sic!] aus Bremen zum Thee, der Schwester jener Helene Vittor,524Helene Viëtor (1846-1933), älteste Tochter von Cornelius Rudolf Viëtor (1814-1897), Pastor in Bremen, auf dessen Aufforderung hin Johanna Spyri ihr erstes Buch schrieb: Ein Blatt auf Vrony's Grab (1871). Helene Viëtor lebte als Zwanzigjährige eine Zeitlang in Zürich und schloss - trotz des grossen Altersunterschiedes - rasch Freundschaft mit Johanna Spyri; vgl. Regine Schindler, Spurensuche, 159-175.schliessen vor welcher Ernestine525Ernestine Kappeler (1857-1897), ältere Schwester Hedwigs. Ab 1883 verheiratet mit Friedrich Benedikt Brügger, Bürger von Churwalden. Sie starb am 14. Oktober 1897 an einer Bronchitis mit Lungenentzündung; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen letztes Frühjahr so die Flucht ergriffen hat. Der Abend war sehr526Hier fehlt ein Wort.schliessen, namentlich Fräulein Vittor [sic!] gefiel mir gut, obschon sie eigentlich wüst ist äußerlich so hat sie doch etwas sehr angenehmes in ihrem Wesen. Denkt Euch, auf einmal als sie eben von einer katholischen Predigt über Maria, die sie gehört hatte, erzählte, wurde die ganze Gesellschaft 20 Minuten vor 9 Uhr ganz erschüttert. Natürlich trat sofort eine allgemeine Stille ein, dafür flüsterten alle "ein Erdbeben". Es war wirklich ein sehr unheimlicher Moment. Habt Ihr denn gar nichts davon gespürt, es [hat] uns doch ziemlich erschüttert. Wie hast Du l[iebe] Mutter, denn eigentlich gedacht mit der Eintheilung der Musikstunden, jedenfalls hat H[err] Kahl527Joseph Oskar Kahl (geb. 1843), Konzertmeister und Lehrer an der damals neugegründeten Musikschule Zürich. Kahl ist Hedwigs Geigenlehrer in Zürich. Er ist verheiratet mit Ida Kempin, einer Schwester von Walter Kempin-Spyri und somit Schwägerin von Dr. Emilie Kempin-Spyri, der ersten Juristin der Schweiz, Nichte von Johann Bernhard Spyri. Wohnhaft Zeltweg 27; BB 1879, 219; Zürcher Adressbuch 1877.schliessen das nicht vor[4]geschlagen, denn er sagte mir, er habe solche ungewisse Stunden nicht gern, so daß ich bei einer in der Woche blieb wie vorher. Die Etüde ging sehr gut gestern in der Stunde, er sagte das geht ja ganz famos, hingegen an der Romanze habe ich noch einige Stellen zu üben. Jetzt muß ich auch eine Etüde mit nichts als Doppelgriffen spielen. Ihr könnt wirklich froh sein, daß Ihr das nicht anhören müsst. Sei doch so gut u. schreibe mir ob ich in's Benefiz-Konzert von Hegar528Eduard Ernst Friedrich Hegar (1841-1927), Geiger und Komponist. In Zürich ab 1863 Leiter des Tonhalle-Orchesters, Theaterkapellmeister, Dirigent verschiedener Chöre, 1876-1915 Mitbegründer und erster Direktor der Zürcher Musikschule. Hegar prägte das Zürcher Musikleben nachhaltig und brachte hervorragende Interpreten und Komponisten wie seinen Freund Johannes Brahms, aber auch Clara Schumann und Pablo de Sarasate nach Zürich. Wohnhaft an der Plattenstrasse 28; Schweizer Musikbuch, Bd. 2, 88-90; HLS VI, 186f.schliessen gehen darf, das Sonntag stattfindet, II Platz zu 2½ Franken das Billet, natürlich gehe [ich] nur wenn schlechtes Wetter ist, wenn es schön ist, so werde ich wahrscheinlich zu Frau Wydemann529Johanna Luise Widemann-Hol (geb. 1824), Frau von Wilhelm Widemann, Kaufmann, wohnhaft in Küsnacht (vgl. HK5); BB 1875, 375.schliessen gehen. Tante Natalie530Natalie Labhardt-Wüest (1823-1904), Hedwig Kappelers Tante mütterlicherseits, Schwester von Aline Kappeler-Wüest und Witwe von Philipp Gottlieb Labhardt; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen kannst Du viele Grüße von Emil531Emil Labhardt (geb. 1856), Hedwig Kappelers Cousin mütterlicherseits, Sohn von Gottlieb Labhardt und Natalie Labhardt-Wüest; vgl. Stammbaum Wüest, Materialien.schliessen u. von mir ausrichten, er werde also auf Pfingsten erscheinen, nur hätte er gerne mehr Geld gehabt, um ein Paar Hosen zu kaufen, doch war es ihm schließlich gleichgültig. Nun muß ich aber schliessen, ich muß bald zu Bette, da ich morgen früh aufstehe. Frau Sp[yri] schläft jetzt schon neben mir, auf ihrem Stuhl vor einem angefangenen Brief.
Empfanget alle herzliche Grüße u. Kuß von Eurer[4 am Rd.] Beiliegende Quittung für den l[ieben] Vater hat mir Frau Sp[yri] gegeben nebst vielen Grüßen an Alle. [2 am Rd.] Natürlich viele Grüße an die Bewohner des Bernerhauses u. Marie Kappeler.532Marie Luise Kappeler (geb. 1856), Hedwigs Cousine väterlicherseits, Tochter von Johann Rudolf Kappeler und Maria Katharina (Marie) Kappeler-Kessler. Heiratet am 3. Oktober 1877 Heinrich Adolf Bremi; vgl. Stammbaum Kappeler, Materialien.schliessen