Edition – drei Briefgruppen

Brief HK3 – 2.6.1876
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HK3 2.6.1876
Zürich, den 2. Juni 1876
Mein l[ieber] l[ieber] Vater!

Soeben vom Spaziergang zurückgekehrt, will ich der Rechnung noch einige Zeilen beilegen. Dieselbe wird hoffentlich recht sein, u. wenn nicht, so werde ich mich bemühen, das nächste Mal eine bessere zu liefern.

Mein Portemonnaie ist wie ein Taubenhaus, kaum hatte ich etwas darin gefangen, so war im Hui alles wieder davongeflogen. Ich muß Dir l[ieber] Vater schon wieder solche Angelegenheiten mitteilen. Von dem Gelde, das Du mir geschickt hast habe ich noch ein Paar Schuhe kaufen müssen u. andere Kleinigkeiten, [2] wie Du auf der Rechnung sehen wirst, so daß, wenn ich an der Musikschule75Hedwig Kappeler besuchte die damals auf Initiative von Friedrich Hegar neugegründete Musikschule Zürich.schliessen bezahlen muß, von dem zwar bis jetzt noch nichts angezeigt worden ist, und deren Betrag nach meiner Rechnung 39 Fr. macht, so werde ich nicht genug Geld haben. Ach! Wenn Du nur hier wärest und mit mir das schöne Wetter u. die geruhvollen Abendspaziergänge am See genießen könntest! Es wäre so allerliebst! Und dann noch alle Abend die Musik in der Tonhalle!76Die alte Tonhalle in Zürich stand auf dem heutigen Sechseläutenplatz schräg gegenüber dem alten Stadthaus am anderen Seeufer und war 1839 als Kornhaus erbaut worden, wurde aber von 1860 an als Synagoge, Fechtboden, Holzlager u. ä. benutzt. Anlässlich des Eidgenössischen Musikfestes 1867 wurde das Kornhaus umgebaut und diente bis zur Eröffnung der neuen Tonhalle im Oktober 1895 als Konzertsaal. 1896 wurde das ehemalige Kornhaus abgerissen; Samuel Zurlinden, Hundert Jahre Stadt Zürich, Bd. 2, 100f.; ausserdem Walter Baumann et al., Zürich zurückgeblättert, 176 zu Abb. 38 und 179 zu Abb. 57; Jürg Fierz, Zürich - wer kennt sich da noch aus?, 99.schliessen Ich muß manchmal mitten vom Briefschreiben ans Fenster springen, um sie recht zu hören. Überhaupt liebe ich die Musik immer mehr, und so auch meine Geige u. meinen Lehrer, Herrn Kahl77Joseph Oskar Kahl (geb. 1843), Konzertmeister und Lehrer an der damals neugegründeten Musikschule Zürich. Kahl ist Hedwigs Geigenlehrer in Zürich. Er ist verheiratet mit Ida Kempin, einer Schwester von Walter Kempin-Spyri und somit Schwägerin von Dr. Emilie Kempin-Spyri, der ersten Juristin der Schweiz, Nichte von Johann Bernhard Spyri. Wohnhaft Zeltweg 27; BB 1879, 219; Zürcher Adressbuch 1877.schliessen der wirklich herrlich ist. Ich übe jetzt regel[3]mäßig jeden Tag eine Stunde meine Etüden u. sind diese vorbei, so spiele ich dann noch irgendeines der Stücke die ich bei mir habe. Bitte, sei so gut und sage der l[ieben] Mutter,78Aline Kappeler-Wüest (1829-1923), Hedwigs Mutter; vgl. Stammbäume Wüest und Kappeler, Materialien.schliessen daß wenn sie den Koffer mit der Wäsche noch nicht abgeschickt habe, so möchte sie so gut sein u. mir die Hefte von Jul. Weiß mit den Volksmelodien,79Wahrscheinlich meint Hedwig hier eine von Julius Weiss' "Blumenlesen": Julius Weiss, Blumenlese für angehende Violinisten. Sammlung beliebter Melodien, op. 38, erschien ab April 1855 in mehreren Heften, Julius Weiss, Zweite Blumenlese für angehende Violinspieler. Beliebte Volks- und Opernmelodien, op. 53, erschien im Dezember 1857 in mehreren Heften, oder Julius Weiss, 3te Blumenlese für angehende Violinisten. Beliebte Volks- und Opernmelodien, op. 67, erschien für eine oder zwei Violinen mit oder ohne Pianoforte ab November 1862 in mehreren Heften; Hofmeister XIX online, 28.3.2011.schliessen senden. Ich habe nämlich im Sinn einige auswendig zu lernen, da dies das beste Mittel ist um mich im Auswendiglernen zu üben. Warum lässt mich auch die l[iebe] Mutter so lange auf einen Brief warten? Ich schaute alle Tage im Briefkästchen aber immer vergebens. Was machen auch Deine englischen Studien? Wenn ich dann in die Ferien komme, werden wir dann miteinander in allen vier Sprachen reden können. Du verstehst dann das Englische, wie ich ungefähr das Italienische, [4] an dem ich große Freude habe.

Nun aber, gute Nacht mein l[ieber] Vater! Hoffe Du wirst diese Nacht einmal gut schlafen können. Alle Abend wenn ich ins Bett gehe denke ich noch einmal an Euch, was Ihr wohl treibt, ob Ihr noch auf der Altane80Balkonartiger Anbau, vom Boden aus gestützt.schliessen oder am Nachtessen seid etc. Viele Grüße an alle samt und sonders.

Es grüßt u. küßt Dich tausendmal Deine Dich herzlich liebende u. dankbare Tochter
Hedwig

Sandte Dir noch die quittierte Rechnung für die italien. Grammatik.81Adolfo Mussafia, Italienische Sprachlehre in Regeln und Beispielen, 1860; Jahresberichte der Höheren Töchterschule 1875-1880. - Sophie Heim veröffentlichte 1882 selber ein Lehrbuch für den Italienischunterricht mit dem Titel "Elementarbuch der italienischen Sprache", das zahlreiche Neuauflagen erlebte.schliessen

Ich mag es fast nicht mehr erwarten bis wieder ein Brief von Dir od. der l[ieben] Mutter kommt.

Viele Grüße von Frau Spyri an Dich sowie die l[iebe] Mutter u. die andern.