Jakob Christian Heusser – Briefe an die Familie
Du rufst mich noch einmal zum Studium der Medizin zurück; es ist nun gewiß das letzte Mal, daß wir über dieses Thema sprechen, daher will ich mich nun noch einmal etwas weitläufig darüber auslassen; ich sage das letzte Mal, weil wenn ich nicht wieder zurückgehe, ich Dir auch nicht länger zur Last fallen, sondern mich von nun an auf eigene Faust durch das Leben schlagen will und werde. — In deinem Briefe sprichst du dich offen aus, es sei unrecht, daß du mich nicht zur Medizin oder Theologie gezwungen habest; ich aber muß gestehen, daß es sehr weise von dir war, denn ich habe deine natürlichen Anlagen, deine Willenskraft und deine Leidenschaften und nicht die dumme Geduld der Mutter, d.h. ich hätte mich niemals zwingen lassen sondern hätte Kriegsdienste genommen oder einen noch verzweifelteren Schritt gethan. Ersteres hatte ich offen gestanden, im Sommer 47 bereits einmal im Sinn, als mir dann Bobrik rieth, erst noch den andern Versuch bei dir zu machen. — So stand es damals, und dies wäre die Frucht des Zwingens damals gewesen. — Ob du jetzt noch daran denkst, mich zu zwingen, darüber kann ich aus deinem Briefe nicht recht klug werden. Jedenfalls hätte ein solches Zwingen jetzt nicht mehr die traurigen Folgen wie vor zwei Jahren: ich werde nicht mehr Kriegsdienste nehmen, sondern da ich meine Zeit in Berlin benutzt habe, einfach nach Zürich zurückkommen, Stunden geben und mich vielleicht nach einiger Zeit als Privatdocent niederlassen; ökonomisch würde ich sicher besser stehen, als ein Theologe. Übrigens ist es allerdings nicht mein Wunsch nach Zürich zu kommen, aber, wenn ich mich einschränken werde, wie im ersten Winter, so könnte ich mit meinen 200 Fr. in Wädenschweil, 20 Fr. von Lisabethli sel. und noch etwa 25-30 Thlr. von Bremen auch noch 1 Semester in Berlin bleiben, und dann vielleicht eine Stellung im Ausland bekommen, womit alle meine Wünsche befriedigt wären. Von dem [S.2] Vorurtheil mußt du nun einmal abgehen, daß bei meinen Studien Nichts herauskommt, denn wie bereits gesagt, ich kann von heute an mich in eine Stellung versetzen, die ökonomisch günstiger ist, als meinetwegen eine Pfarrstelle, ich könnte, wenn ich einige Zeit meine Studien noch fortsetzte, Stellungen erhalten, die allen meinen Wünschen entsprechen und zudem mich ökonomisch so gut oder besser stellen als die Arztstelle im Hirzel; denn ich habe, seit ich in Berlin bin, nicht bloß Mathematik getrieben, sondern auch Chemie, und Chemie ist einmal diejenige Wissenschaft, bei der man sich nicht nur einen Namen sondern auch Geld erwerben kann und da dies doch die Hauptsache ist, so will ich bloß anführen, daß einfache Chemiker in Fabriken in Frankreich mit 10000 Franken bezahlt werden; ich kann nun nicht sagen, daß ich schnell in 1 Jahr eine solche Stelle erwischen könnte, hingegen sind doch alle Gründe vorhanden, daß ich nicht eine hoffnungslose Zukunft vor mir habe, denn arbeiten thue ich fleißig und mit Freuden. Die Unterstützung und Empfehlungen könnte ich vielleicht auch durch Prof. Heinrich Rose erhalten, bei dem ich diesen Sommer ein Colleg gehört habe, einmal zu ihm eingeladen war, und womöglich im Winter in sein Privatlaboratorium zu kommen suchen werde, was mir vielleicht durch seinen Bruder Wilh. Rose möglich werden könnte. — Damit sind nun jene Vorwürfe, als treibe ich mich als hoffnungsloser Abentheurer in Berlin herum ein für alle Mal beseitigt und nun komme ich auf deinen Wunsch, wieder zur Medizin zurückzukehren. Unmöglich ist es nicht, daß ich demselben entspreche, aber die Schwierigkeiten haben sich so gehäuft, daß ich kaum glaube, daß du auf meine Bedingungen eingehen kannst, denn so wie ich nun stehe, kann ich nicht leicht meine Stellung wieder aufgeben, und gegen eine mir unangenehme vertauschen. An sich kann ich jetzt im Bewußtsein meiner Unabhängigkeit zum ersten Mal offen mit dir über alle Verhältnisse sprechen.
1t.) Vor Allem aus ist keine Rede davon, daß ich in zwei Jahren das Staatsexamen machen könnte; ich würde mir auch keine bestimmte Anzahl von Jahren ausbedingen, sondern eben so lange Zeit, bis ich mich befähigt fühle die Examen in Zürich zu machen; wie viel Zeit dazu erforder[S.3]lich ist, darüber kann dir Theodor am besten Auskunft geben; ich weiß es nicht, sondern weiß nur so viel, daß ich fleißig studiren, aber nicht über Hals und Kopf zum Staatsexamen rennen, sondern es erst dann machen würde, wenn ich meiner Sache sicher wäre, damit nicht die Leute Gelegenheit hätten, sich über einen Kerl lustig zu machen, der nach so und so viel Jahren ein schlechtes Examen gemacht habe. —
2t.) muß ich auf den Kostenpunkt aufmerksam machen: ich werde mir wenig Freuden erlauben, wie ich es in Berlin gethan habe, überhaupt für meine Bedürfnisse wenig brauchen; dagegen was die Hülfsmittel zum Studium der Medizin betrifft, Bücher, Instrumente etc., so würde ich mich nie mehr mit Bibliotheken und Entlehnen von Freunden befridigen, wie ich es in Zürich gethan, sondern beim Ankauf dieser kein Geld sparen. Ob Du mich nun noch, wie in den ersten Monaten meines Aufenthaltes in Berlin für einen Verschwender hältst, was ich nie vergessen werde, oder ob Du mir Geld zur freien Disposition stellst, weiß ich nicht; letzteres ist eine Beding[un]g meines Übertritts.
3t.) würde ich keinen Tag mehr in Zürich studiren, sondern erst dann zurückkehren, wenn ich zum Examen gerufen würde. Mich in Zürich wieder als stud. med. aufzuhalten, wäre mir unerträglich, und wenn es ohne dies nicht geht, so kann ich nicht wieder Medicin studiren.
4t.) muß ich auf die Schwierigkeiten einer gemeinschaftlichen Praxis aufmerksam machen: Es ist zwar Ein Grund vorhanden, warum es mit mir eher gehen wird, als mit Theodor, es ist der Grund, daß ich Freude am Landleben habe, daß ich mich gern gleich jetzt aus Berlin auf den höchsten und einsamsten Schweizerberg versetzen würde. Es sind aber viele Gründe vorhanden, warum es mit mir noch weniger gehen wird: vor Allem aus der, daß ich in der Chirurgie wahrscheinlich nie viel leisten, die richtigen Operationen jedenfalls nie ohne Chloroform, und die niedrigen wie Zahnausreißen und Schröpfen gar nicht ausführen werde. — Zudem müßte ich eine eigene große Stube haben, wo ich ungestört fortstudiren und chemische Experimente machen könnte; von der sogenannten Küchenkammer, die Theodor hatte, wäre gar keine Rede, sondern es müßte wenigstens ein Raum sein, wie im sog. [S.4] Bäuli169Christian erwähnt in seinen Briefen mehrfach das Bäuli, einen Anbau, in dem der Vater seine Patienten behandelte, auch Operationen durchführte. Im Bäuli waren auch die psychisch Kranken untergebracht, die von Dr. Heusser manchmal über längere Zeit betreut wurden. Vgl. M. Heusser, Hauschronik S. 92f.schliessen mit Vorder und Hinter-Zimmer. Dein Wunsch ein ruhiges Alter zu führen, wäre den größten Theil des Jahres erfüllt, da ich mich keiner Anstrengung entziehen würde, mit Ausnahme von 3 Wochen im Sommer, die ich unbedingt für eine Schweizerreise haben muß. Ich habe von der Schweiz noch Nichts gesehen, als Zug, Einsiedeln, Ägeri, Schwyz, Luzern und Altorf, und habe zu meiner Schande erst in Berlin das Großartige unsrer Alpen von den Deutschen kennen lernen müssen, und jedenfalls kann ich mich nie mehr in der Schweiz aufhalten, ohne jährlich einmal in die Alpen zu reisen. Ich werde das nicht bloß zum Vergnügen, sondern aus wissenschaftlichem Interesse thun, da ich Geognosie in Berlin gehört und diese Wissenschaft fortan pflegen werde. —
Was den Antrag von 500 Fr. jährliches Gehalt betrifft, so ist es mir ganz gleichgültig, ob Du mir einen fixen Gehalt geben, oder sonst vorweg das Geld zur Befriedigung meiner Bedürfnisse geben willst, wozu ich dann besonders medizinische Zeitschriften und Bücher aus allen Wissenschaften, die mich interessiren, rechne. —
Das sind so die Bedingungen, unter denen ich mich verstehen könnte, das Opfer zu bringen und noch einmal vorn anzufangen; ich muß dich aber bitten, dir dieselben klar vorzustellen, denn ich halte wörtlich daran und glaube kaum daß du dieselben eingehen kannst. Bisher gewohnt, daß der Wille Aller sich nach dem Deinigen richtet, wirst Du kaum meinen selbstständigen Willen neben dem Deinigen dulden können; bei Theodor ging es wenigstens nicht, und das, offen gestanden, würde mir dann leid thun, wenn ich jetzt wieder Medizin studiren würde und dann doch nicht im Hirzel bleiben könnte; ich weiß wohl daß bei Theodor noch die Unlust im Hirzel zu bleiben dazu kam, aber der Hauptgrund seines Weggehens war, davon bin ich überzeugt, daß er selbstständig und unabhängig praktiziren und leben wollte. — Wenn Du aber trotz dieser Bedingungen bei deinem Wunsche beharrst, daß ich umkehre, so habe ich dann noch vorher über Einen Punkt mit Dir zu sprechen, was nicht durch Briefe geschehen kann, oder wenigstens nicht so, daß dir der Brief von Mutter oder Schwestern vorgelesen wird; entweder mußt du mich heim- [S.5] kommen lassen oder Theodor muß meine Briefe vor keinem Zeugen dir vorlesen; ob Du ahnst, worüber ich mit Dir sprechen will, weiß ich nicht, glaube aber nicht etwa daß es Kleinigkeit oder Scherz ist, denn gescherzt habe ich, seit ich in Berlin bin noch selten. Ich bitte auch diesen Punkt nicht zu übergehen; das Opfer, das ich damit noch von Dir verlange, wird Dir nicht schwer fallen; aber sonst kann Niemand etwas davon wissen, und ich werde kein medizinisches Buch berühren, als bis ich mich auch darüber noch ausgesprochen.
Ich weiß nicht, wie Du diesen Brief aufnimmst; es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich mich Dir gegenüber ganz offen ausgesprochen habe, und mündlich sollte es noch offener und weitläufiger geschehen. — Ich bin überzeugt, Du wirst zuerst in großen Zorn gerathen über die Dreistigkeit des undankbaren Sohnes etc.; wenn Du aber bei kälterem Blute ruhig darüber nachdenkst, wirst Du mir vielleicht nur noch deswegen zürnen, daß ich nicht früher schon mich offen ausgesprochen habe; aber es hat in Gottes Namen erst das Bewußtsein, daß ich mich selbst durchbringen kann, mir jene Feigheit und Furcht vor Dir benommen, und deßwegen bin ich auch auf jede Antwort gefaßt. — Geld habe ich seit dem 1t. Juli keines mehr; falls nun aus dem Umsatteln etwas werden sollte, so muß ich in Gottes Namen wieder eine Lieferung Geld haben, und gerade der Umstand, daß ich dann noch Jahre lang soll mich durchschleppen lassen ohne selbst etwas zu verdienen, hält mich am meisten vom Studium der Medizin zurück. Wird aus dem Studium der Medizin nichts mehr, und willst Du mir noch für die Beendigung dieses Semesters Geld geben, so werde ich es mit Dank annehmen, mit Anfang des künftigen Semesters aber dich nicht weiter belästigen. Wärest Du aber nicht geneigt mir noch diese 2 oder 3 Monate auszuhelfen, so schadet es weiter auch nicht, dann müssen meine Hülfstruppen170Mit den Hilfstruppen von Wädenswil und Bremen sind wohl die oft erwähnten Geldreserven gemeint, die er für den Notfall spart.schliessen von Wädenschweil und Bremen dran glauben. —
Um nun noch einige Nachrichten von Berlin zu geben, so ist vor 8 Tagen Dr. Landis171Dr. Johannes Landis (1823-1896) hatte von 1853 bis 1882 eine Arztpraxis in Richterswil, war auch Kantonsrat und Gemeindepräsident. Matrikeled. der Universität Zürich 1833-1924.schliessen von Richterschweil von einer Reise aus Schweden und Norwegen zurückgekommen; er wohnt in meinem Hause, und läßt Theodor grüßen, der es seinen Leuten mittheilen möge; sie sollen noch Nichts von seinem Aufenthalt in Berlin wissen, sondern [S.6] glauben, er sei in Ostende; er will den Winter durch in Berlin bleiben und Philosophie und Medizin studiren. —
Herr und Frau Rose halten sich noch in London auf, wie ich vor 8 Tagen von dem Bruder Heinrich Rose, Prof. der Chemie erfuhr, zu dem ich für einen Abend eingeladen war. Dieser wird in den Herbstferien auch nach der Schweiz reisen, er ist ein ebenso freundlicher Mann wie der Wilhelm Rose. —
Vor einigen Tagen kaufte ich mir die Verhandlungen der Berliner-Akademie, und fand darin, daß Professor Ehrenberg172Christian Gottfried Ehrenberg (1795-1876), berühmter Naturwissenschafter in Berlin. Er unternahm grosse Foschungsreisen, u. a. mit A. von Humboldt und Gustav Rose. Er förderte die Mikrobiologie und war Begründer der Mikropaläontologie. Vgl. M. Lenz, Geschichte der Universität Berlin II 1, S. 230ff. und DBE 3, S. 37.schliessen verschiedene Moose mikroskopisch untersucht hat, deren Fundort er folgendermaßen angiebt: eines nahe der Doktorwohnung im Hirzel, eines vom Zimmerberg und eines von Ägeri. —
Letzte Pfingstferien konnte ich nicht nach Rügen reisen wie ich vorhatte, da eine dänische Flotte in der Ostsee kreuzte. Dafür bummelte ich einige Tage auf dem Harz herum, in dem man mit erniedrigten Preisen für 2 Thlr. bis Halberstadt und zurück (etwa 40 Meilen) fahren konnte; der Harz bietet liebliche Parthien, doch nur Eine großartige, die an die Schweiz erinnert, die Rosstrappe mit 800' hohen Felsen.
Falls etwas aus der Umsattelei werden sollte, so bitte ich um schnelle Antwort, da ich dann erst noch entweder selbst heimkommen, oder wenigstens noch einmal schreiben werde, ehe ich den Schritt thue. Wenn Du übrigens so große Angst hast, daß ich durch meine bisherigen Studien zu keiner sicheren Stellung gelangen kann, so kannst Du allenfalls auch noch warten bis Prof. Rose nach der Schweiz kommt und Dich mit ihm darüber berathen.
Grüßet mir Alle vielmal,vorheriger nächster
