Jakob Christian Heusser – Briefe an die Familie

Brief Nr. 1 – 24.10.1847
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1 24.10.1847
Berlin den 24t. October 1847.
Liebe Eltern!

Da sitze ich nun seit bald 14 Tagen in Berlin, und bin schon so ziemlich eingehaust, und habe die Stadt einigermaßen kennen gelernt. Sie bietet zwar viel Großes und Schönes, aber etwas Langweiligeres läßt sich doch nicht denken, als diese Gegend, doch will ich darüber nicht weiter Worte verlieren, da Ihr ja von Theodor1Christian Heussers älterer Bruder Theodor Diethelm (1822-1893) hatte von 1843 an während drei Semestern in Berlin Medizin studiert. Er wurde Arzt und half zunächst seinem Vater in der Praxis. Während des Sonderbundskriegs 1847 leistete er Dienst als Militärarzt und führte ab 1848 eine eigene Praxis in Richterswil. 1851 heiratete er die Bündnerin Regina von Flugi. Vgl. Meta Heusser-Schweizer, Hauschronik, hg. von K. Fehr, Kilchberg 1980, S. 96-98, und R. Schindler, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer (1797-1876), Zürich 2007, S. 114-116.schliessen her schon wißt, daß die Stadt mitten in einer unfruchtbaren todten Sandebene liegt, durchflossen von der Spree, die immer so eckelhaftes Wasser führt, als die Sihl niemals, wenn sie noch trübe ist. — Auf mein Leben in Berlin werde ich zurückkommen, wenn ich Euch erst Einiges von meiner Reise mitgetheilt haben werde.

Donnerstags den 30t. Sept. verreiste ich also von Zürich nach Basel, wo ich die Nacht zubrachte; den Abend war ich mit einigen bekannten Basler-Studenten zusammen. Am Morgen betrachtete ich nur die Stadt ein wenig, da ich eben zum ersten Mal in Basel war, und setzte mich dann zum ersten Mal auf eine Eisenbahn, die mich glücklich nach Straßburg brachte. Schon bald unter Basel fängt die Gegend an langweilig zu werden; in Mühlhausen und Colmar war nur kurzer Halt, und sonst auf dem ganzen Wege, da es eben rasch geht, Nichts zu sehen. Das Fahren auf der Eisenbahn interessirte mich anfangs; ich gewöhnte mich aber bald daran und war froh, als wir in Straßburg ankamen — Straßburg war nun ein neuer Anblick für mich, die erste größere Stadt, die ich je gesehen, mit dem famosen Münster, das ich bestieg, und mich an der Fernsicht freute; weit sieht man allerdings, aber über eine farblose Fläche, ohne bedeutende Berge. Ob man bei hellem Wetter die Alpen wirklich sehen kann, weiß ich nicht; ich sah sie wenigstens nicht. Am folgenden Tage (Samstag) brachte mich die Eisenbahn weiter nach Heidelberg, wo ich Zsc[h]okke2Olivier Zschokke (1826-1898). Heusser kannte den gleichaltrigen Aargauer von Zürich her und blieb mit ihm befreundet. Als Ingenieur war Zschokke später im Bau von Bergbahnen, besonders der Rigibahn, tätig. Er war 1877-1886 Aargauer Ständerat, 1886-1897 Nationalrat. HBLS VII, S. 686.schliessen von Aarau treffen sollte und traf. Vigier3Wilhelm Vigier (1823-1886) studierte 1847 an der Universität Zürich und ging dann nach Berlin. Als einflussreicher Politiker in Solothurn, förderte er das Schulwesen und den Ausbau des Eisenbahnnetzes. SL 6, S. 478.schliessen von Solothurn, der auch so halb und halb versprochen hatte auf diese Zeit in Heidelberg einzutreffen, war nicht da; er reiste erst später ab und traf uns bereits in Berlin. Den Sonntag brachten wir dann in Heidelberg zu und besahen uns da alles Sehenswerthe, wozu vor Allem aus die Gegend gehört, die etwas Ähnlichkeit hat mit den ebeneren Gegenden der Schweiz, vielleicht mit einigen Parthien des Cantons Aargau. Der Neckar macht sich sehr nett, wie er zwischen zwei ziemlich steilen und ziemlich hohen Bergen hinaus fließt in die große Ebene. Die Stadt, sowie die ganze Gegend, übersieht man am besten vom Schloß, das romantisch auf einem Felsen ziemlich hoch über der Stadt erbaut ist. Neben dem Schloße selbst tritt unter dem Sehenswerthen bedeutend in den Hintergrund das darin befindliche vielbekannte Faß, das wir uns auch zeigen ließen, um es gesehen zu haben; groß ist es allerdings, sonst ist aber nichts Merkwürdiges daran zu sehen. Am Abend führten uns die in Heidelberg von uns aufgesuchten Schweizer (Bündtner, Waadtländer, Basler etc.) einen sehr angenehmen Spaziergang nach Neckarsteinach und unterhielten uns Abends auf ihrer Kneipe mit fidelen Gesprächen und Gesängen. Von Heidelberg nun war es zwar sehr lockend, nach Mannheim und von da mit Dampfschiff den Rhein hinunter zu fahren über Mainz bis Coblenz oder Kölln und so die schönste Partie der Rheingegend zu sehen. Allein die Zeit drängte und da es ein bedeutender Umweg war, und von Koblenz, Bonn oder Kölln keine Eisenbahnen, die uns schnell weiter befördern könnten, wählten wir den geradesten Weg über Frankfurt und Eisenach zu machen. [S.2] Wir setzten uns also Montag Nachmittags in Heidelberg auf die Eisenbahn nach Frankfurt, wo wir Abends ankamen. Die Gegend zwischen Heidelberg und Frankfurt wieder eben und langweilig; ungeheure Kartoffeläcker, auf denen manchmal 30 und noch mehr Personen zusammen die Kartoffeln einsammelten. — Frankfurt nun, das ist mir schon viel großartiger vorgekommen, als Straßburg; Zürich schien mir damit verglichen, ein kleines Städtchen. Nicht nur einzelne Paläste, wie z. B. der von Rothschild sind ausgezeichnet, sondern die breiten Hauptstraßen sind in ihrer ganzen Länge zu beiden Seiten mit großartigen Gebäuden geziert. Dagegen sticht dann freilich das sogenannte Judenquartier sehr ab, das aus lauter alten, ganz braunen und schwarzen hölzernen Häusern besteht; eines davon, so unansehnlich und schmutzig, wie die andern, soll noch jetzt von der Mutter Rothschilds,4Chef des Frankfurter Zweigs der Bankiersfamilie Rothschild war damals Amschel Mayer (1773-1855); seine Mutter muss 1847 über 90jährig gewesen sein. Vgl. Stammbaum der Familie Rothschild in Biograph. Wörterbuch zur dt. Geschichte II, Sp. 2375f.schliessen welcher selbst in jenem geboren wurde, bewohnt sein. Wir brachten den Mittwoch5Verschrieb für "Dienstag".schliessen in Frankfurt zu, betrachteten uns noch die schöne Bildergallerie, mit Werken von allen großen Meistern, und den sogenannten Römer, d. h. den Wahl- und Krönungssaal der deutschen Kaiser, der mit den Bildern derselben geziert ist, und die ältere deutsche Geschichte dem Beobachter lebendig vor die Augen führt. — Mittwoch Morgens setzten wir uns dann in die Post nach Eisenach, und da ich in einen Beiwagen kam, setzte ich mich oben hin zum Postillon, von wo ich an dem wunderschönen Tage mir die Gegend betrachtete, die gegen den Thüringerwald hin anfängt etwas freundlicher zu werden. Schöne Eichenwälder, grüne Wiesen und Hügel zieren die Gegend. Den schönsten Theil aber sahen wir nicht, da wir diesen in der Nacht passierten. Schon von Fulda sah ich Nichts mehr, da wir um 8 Uhr dort ankamen. Der Morgen war in der Post sehr kalt, aber wiederum schön Wetter, als wir vom Thüringer Wald gegen Eisenach hinunter fuhren. Diese Gegend ist wirklich romantisch, aber elend ärmlich; wenn man keine Häuser sieht, fühlt man sich wohl, aber so wie man durch die erbärmlichen Dörfer kommt, von deren Schmutz und Armseligkeit man ohne sie zu sehen sich keinen Begriff machen kann, da tauchen verschiedene Gefühle auf des Mitleidens mit diesem Volke und der Sehnsucht nach der Schweiz. Das Volk soll, wie ich mir vom Postillon habe erzählen lassen, beispiellos arm sein, und ausgesogen werden hauptsächlich von Förstern, denen die Leute umsonst arbeiten müssen, um nicht von ihnen verklagt zu werden, wenn sie beim Holzsammeln in verbotenen Wäldern ertappt werden. Kurz mir wurde klar, wie communistische Ideen auftauchen können, beim Anblick solcher Armuth in der Nähe von solchem Reichthum und Luxus wie in Frankfurt.

In Eisenach trafen wir dann Nachmittags 12 Uhr an6Verschrieb für "ein".schliessen und bestiegen dann Nachmittags die Wartburg, die außer jenen historisch merkwürdigen Erinnerungen an Luther, auch eine ordentliche Aussicht darbietet, südlich auf den Thüringerwald und nördlich auf die sich wieder ausbreitende Ebene. Freitag Morgens setzten wir uns auf die Eisenbahn nach Weimar, wo ich sogleich meinen alten lieben Lehrer Sauppe,7Friedrich Hermann Sauppe (1809-1893) war bis 1845 Prof. für klassische Philologie an der Universität Zürich und gleichzeitig sehr beliebter Lehrer für Alte Sprachen an der Kantonsschule, wo Heusser sein Schüler war. 1845-1858 war er Gymnasialdirektor in Weimar, 1858-1893 Prof. für klassische Philologie an der Universität Göttingen. HBLS VI, S. 91, und E. Gagliardi, Die Universität Zürich 1833-1933, S. 365.schliessen der seit 2 Jahren dort Professor ist, aufsuchte und sehr freundlich aufgenommen wurde. Er führte mich den ganzen Nachmittag selbst in der Stadt und deren Umgebung herum, zeigte mir deren Merkwürdigkeiten: Göthes, Schillers und Wielands Haus und lud mich zum Thee ein; ich nahm die Einladung gern an, und war sehr vergnügt bei ihm, indem er sich um Zürich und Alles, was in Zürich vorgeht noch sehr interessiert. — Die Briefe von der Familie Hagenbuch an Frau Prof. Sauppe habe ich zu ihrer Freude abgegeben, was ich zu Handen von Frau Pfr. Wild8Fanny Wild-Hagenbuch (1813-1865) war die Frau von Pfarrer Heinrich Wild. Vgl. R. Schindler, Memorabilien, S. 283f.schliessen u.s.w. hier bemerke. Samstag Morgens dann setzte ich mich zum letzten Mal auf die Eisenbahn, um ohne weitern Aufenthalt ans Ziel meiner Reise zu gelangen. Die nächste Gegend von Weimar durch die sächsischen Herzogthümer ist sehr nett; schöne Gewässer fließen durch grüne Wiesen; viele, wenn auch kleine Hügel, an deren Hängen Wein wächst, durchziehen die Gegend; famose Obstbäume, die meist noch ganz bela[S.3]den da standen, umgeben rings die Dörfer, und viele alte zerfallene und noch erhaltene Burgen liegen zerstreut auf den Anhöhen. Viele reinliche und elegante Häuser liegen einzeln herum, das Eigenthum reicher Berliner, die dort ihren Sommeraufenthalt zu machen pflegen. — Von dieser freundlichen Gegend geht es dann bald wieder in die eintönige über; man kommt nach Halle und Wittenberg und da beginnt schon der Sand, über welchen hin die Eisenbahn in kurzer Zeit nach Berlin führt.

Also Samstag Abends den 9t. October kam ich nach Berlin, und fand gleich Sonntags Meier9Ein stud. jur. Johannes Meier (1822-1880), ehemaliger Gymnasiast der Kantonsschule Zürich, immatrikulierte sich im SS 1845 an der Universität Zürich. Vgl. Matrikeled. der Universität Zürich 1833-1924.schliessen stud. jur. von Zürich, mit dem ich das Gymnasium durchgemacht und 2 Semester an der Universität zugebracht hatte. Er machte dann Zschokke und mich bald bekannt mit den übrigen Schweizern in Berlin, die sich aus fast allen Cantonen da vorfinden. Natürlich besah ich mir Sonntags die Stadt, vor Allem aus die Linden, die von dem Brandenburgerthor etwa 10 Minuten lang gegen den königlichen Palast hinführen. Die Pracht, die hier in allen Beziehungen (Privatwohnungen, Hotels, Equipagen, Pferden, kurz in allem Möglichen) die Schönheit der Straße oder Promenade, oder wie man es nennen will, selbst läßt sich nicht beschreiben, man bekommt doch keinen Begriff davon. Von den Linden weg durchwanderten wir einmal die ganze Friedrichstraße, durch welche wir gut eine halbe Stunde zu gehen hatten. Weiter ist dabei nichts Besonderes zu sehen, als viele schöne Gebäude. Abends gingen wir dann noch in den Thiergarten, wo die ganze Bevölkerung von Berlin an schönen Sonntagen zu sehen ist, da dies eben der einzige Spaziergang ist. Er ist ein großer Wald von Linden, Eichen und Buchen, durch den verschiedene Wege nach dem 1 Stunde entfernten Charlottenburg hinführen. — Montags zogen wir dann aus, um Logis zu suchen in der Dorotheen- und Mittelstraße, den bekannten Studentenquartieren. Allein hier waren sie sehr theuer, für ein Zimmer monatlich 7 und 8 Thlr., so daß wir erst am folgenden Tage, als wir in die entfernteren Quartiere gingen, ein Logis mietheten und zwar Zschokke und ich zusammen ein Zimmer mit Nebenzimmer für 11 Thlr. an der Marienstraße. Es ist zwar ziemlich weit entfernt von der Hochschule, allein es wohnen noch viele [Studenten]10Siegelausriss.schliessen da, und unser Zimmer hat uns besonders gefallen, da es Aussicht hat über einige Gärten gegen die Spree [...].11Siegelausriss.schliessen In dem Logis, wo Theodor war, bei Voigt an der Dorotheenstraße, war kein Zimmer mehr frei, sondern alle 7 oder 8 sämtlich von Schweizern, Baslern, Solothurnern, Schaffhausern und Zürchern besetzt.

So bin ich also eingehaust und ziemlich gewöhnt an das Berlinerleben und an den Thee Abends, auf dem ich in Zürich nicht viel hielt. Des Morgens trinken wir den Caffè im Logis für 2 Groschen und Abends den Thee mit Semmeln und etwas Fleisch für 3½-4 Groschen. Den Zucker dazu aber müssen wir besonders anschaffen. — Das Mittagessen nehmen wir auf einer Restauration und zwar kostet ein Abonnement von 30 Marken 6 Thlr., was fürs Mal 6 Groschen trifft, während man für ein einzelnes Mal 7½ Groschen bezahlt. Die Lebensmittel sind auch hier in Berlin noch in höhern Preisen als früher; denn vor einem Jahr soll die Theurung auch hier bedeutend fühlbar gewesen sein. — Vorige Woche, da die Collegien noch nicht recht im Gange waren, machte ich einmal mit Meier, Zschokke und zwei Norddeutschen einen Ausflug auf der Eisenbahn nach Potsdam, um das Sanssouci12In der Sommerresidenz Schloss Sanssouci in Potsdam hielt sich Friedrich Wilhelm IV. mit Vorliebe auf.schliessen und die andern Paläste des Königs zu betrachten. In seinem Sanssouci befand er sich gerade, weswegen wir dies Palais im Innern nicht betrachten durften, dagegen ein anderes, das sogenannte Marmorpalais, dessen 2 Sääle, der sogenannte Marmorsaal und der Muschelsaal, so wie die übrigen Zimmer mit ihren prachtvollen Gemälden uns in Ein Erstaunen setzten. Ein Glanz und eine Pracht, vor der mir schwindelte. Ich gieng gern wieder heraus. Als wir im Rückwege wieder bei Sanssouci vorbeikamen, wollten wir doch einmal die Anhöhe besteigen, auf der es liegt und giengen daher die Treppen hinan. Auf derselben begegnete uns, wie uns schien ein in gewöhnliche Uniform gekleideter Offizier mit einem grauen schlechten Mantel und mit ihm zwei Damen und ein etwas feiner gekleideter jüngerer Herr, an denen wir ungenirt vorbeigiengen. Als wir dann oben auf die Treppe kamen, liefen eine Menge Arbeiter im Garten des Königs zusammen und blickten voll Ehrfurcht herab auf ihren König, die Königin und den Kronprinzen von Schweden, an denen wir dicht vorbeigegangen waren, ohne sie zu kennen. Der König ließ dann die Fontaine springen, die wir auch mit Vergnügen ansahen; sie springt über 100 Fuß hoch und zwar mit einer ziemlich bedeutenden Wassermasse, so daß man bei dem schönen Sonnenschein die Regenbogenfarben leicht darin erblickte. —

Meine Collegien sind nun schon ziemlich im Gange, wenigstens die mathematischen und physikalischen, die mir große Freude machen; Ritter13Karl Ritter (1779-1859) war seit 1825 erster ordentlicher Professor für Geographie an der Universität Berlin. Sein 21 Bände umfassendes Hauptwerk "Erdkunde" wurde Vorbild für die meisten späteren geographischen Werke. DBE 8, S. 326f.schliessen dagegen, dessen Geographie ich hören werde, ist noch nicht in Berlin angelangt von seiner Reise nach Palästina. Auch von diesem Colleg verspreche ich mir viel, wie denn überhaupt in naturwissenschaftlicher und mathematischer Beziehung hier in Berlin zu finden ist, was gewiß in Deutschland nirgends anderswo, vielleicht kaum in Paris [...] [Schluss fehlt]


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