Jakob Christian Heusser – Briefe an die Familie

Brief Nr. 2 – 10.12.1847
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2 10.12.1847
Berlin den 10t. December 1847
Liebe Eltern!

Schon rückt die Weihnachten, das Fest, das ich eine Reihe von Jahren so freudig in eurer Mitte gefeiert habe und dies Jahr zum ersten Mal außer eurem Kreise zubringe. Aber nicht nur ich im fernen Berlin, sondern auch Ihr in der lieben alten Heimath werdet dies Fest nicht mehr so froh feiern können, wie bisher; denn wahrscheinlich wird Theodor durch die Kriegsgeschichten14Im Herbst 1847 verschärfte sich in der Schweiz die Auseinandersetzung zwischen den katholischen Kantonen, die einen Sonderbund mit Österreich geschlossen hatten, und den mehrheitlich liberal regierten Kantonen. Im November besiegten die eidgenössischen Truppen unter der Führung von General Dufour die schlecht ausgerüsteten Truppen der Sonderbunds-Kantone. Bei Ausbruch des Sonderbundskrieges im Herbst 1847 musste Theodor Heusser als Militärarzt bei den Zürcher Truppen Dienst leisten. Vgl. M. Heusser, Hauschronik, S. 97, und allgemein zur damaligen politischen Lage E. Bucher, Die Geschichte des Sonderbundskrieges, Zürich 1966.schliessen noch in einen andern Canton gebannt sein, vielleicht seid Ihr, die Ihr zu Hause seid, durch unangenehme Einquartirung an der friedlichen Feier verhindert; aber wenn auch alles dies nicht wäre, und Gattiker15Heinrich Gattiker (gest. 1852) war Bauer im Schönenberg. In der Hauschronik, S. 80 nennt ihn Meta Heusser den "liebsten und einzigen Jugendfreund" von Johann Jakob Heusser.schliessen aus dem Schönenberg und Theodor in eurer Mitte weilten, so wäre doch der alte Kreis nicht vollständig; die Erinnerung an den alten vollständigen Kreis wird wohl auch bei euch über diese Zeit manchmal lebhaft die Erinnerung wecken an unser in diesem Jahre geschiedenes Familienglied, die liebe Elise,16Elise Morf (1811-1847), die Tochter von Meta Heussers Schwester Anna Morf-Schweizer, lebte während Jahren im Doktorhaus auf dem Hirzel. Sie erkrankte an einer ererbten psychischen Krankheit und starb im Frühjahr 1847. Vgl. M. Heusser, Hauschronik, S. 74f. und R. Schindler, Memorabilien, S. 102f.schliessen und an den alten Hausfreund Pfister!17Der Sohn eines entfernt verwandten "Vetter Pfister" hatte seit der Eröffnung der Praxis im Hirzel dem Arzt als Helfer gedient. Vgl. M. Heusser, Hauschronik, S. 23 und den Eintrag in Meta Heussers Memorabilien der Zeit am 6. 3. 1818.schliessen Wer ahnte vor einem Jahr, daß sie dies Jahr uns mangeln werden, und wer weiß, wie es übers Jahr mit uns steht? Man wird wohl dabei ernst gestimmt, indeß, — ich will davon abbrechen. — Mein Leben in Berlin hat natürlich schon mehrere Wochen seinen geregelten Gang angenommen; von meinen Collegien, von denen ich das letzte Mal noch nicht viel schreiben konnte, will ich zunächst das, was euch irgendwie interessiren kann, mittheilen.

Vorzüglich betreibe ich eben Mathematik, und daneben Naturwissenschaften, die ohne jene gar nicht mit Erfolg betrieben werden können. Die Professoren sind ausgezeichnet, wie sie jedenfalls auf keiner Universität Deutschlands zu finden sind, und ebenso die Anstalten, physikalischen Cabinette u.s.w., die wohl auch nur von denen in Paris übertroffen werden. — Es scheinen eben alle Kräfte besonders auf die philosophische Fakultät und speciell auf den naturwissenschaftlichen Zweig derselben verwendet zu werden; wenigstens sollen die juristische und theologische Fakultät, wie ich von den andern Schweizern, die Theologie und Jus studiren, höre nicht so ausgezeichnet besetzt sein; die mehreren wenigstens wünschen sich wieder nach den Universitäten zurück, woher sie gekommen sind, besonders nach Heidelberg. Auch die medicinische Fakultät hat in neuster Zeit einen bedeutenden Verlust erlitten, wie Ihr vielleicht aus Zeitungen vernommen habt durch den Tod des berühmten Chirurgen Dieffenbach,18Johann Friedrich Dieffenbach (1794-1847), seit 1823 in Berlin, hervorragender Chirurg, leistete Pionierarbeit in der Wiederherstellungs-Chirurgie und der Anwendung von Bluttransfusionen. NDB 3, S. 641-643.schliessen dessen Stelle auch noch [S.2] nicht wieder besetzt ist. — Bei dessen Beerdigung fanden natürlich große Feierlichkeiten statt. Es war ein Leichenzug von ungeheurer Größe; der Sarg von vier schwarzen mit Floren überdeckten Pferden gezogen; darauf folgte die Masse der Studenten geführt von 100 Marschällen mit Trauerfloren und Trauerstäben; darauf ein großes anderweitiges Publikum und am Ende die Equipagen der Berliner-Großen, welche nicht selbst erschienen, aber zum Zeichen ihrer Theilnahme ihre Kutschen schickten; zuvorderst war der Vierspänner des Königs mit famosen Pferden, einer prachtvollen, mit seinem Wappen versehenen Kutsche, die Geschirre, kurz alles waren eben von königlicher Pracht. Darauf folgten noch einige Vierspänner der Prinzen, die der königlichen wenig nachgaben, und dann die Zweispänner der Privaten, immer noch wunderschön. — Das Ganze machte zwar einen imposanten, aber keineswegs feierlichen Eindruck, wie es ein Leichenbegängniß eben soll. —

Die Empfehlung, die ich durch Hr. Pfr. Wild19Heinrich Wild (1808-1885) war seit 1840 Pfarrer auf dem Hirzel. Er und seine Frau Fanny Wild-Hagenbuch (1813-1865) waren eng befreundet mit der Familie Heusser. Er half Christian Heusser mit einem Darlehen aus, als der Vater nicht weiter für sein Studium zahlen wollte. Vgl. R. Schindler, Memorabilien, S. 277-284.schliessen von Hr. Apotheker Lavater20Johannes Lavater (1812-1888), ein Grossneffe J. C. Lavaters, war 1848-1849 Präsident des Schweiz. Apothekervereins und Mitglied des Gr. Stadtrats. HBLS IV, S. 636.schliessen erhielt an Hr. Rose,21Wilhelm Rose (1792-1876) war Apotheker und hatte die Apotheke seines Vaters in Berlin übernommen. Daneben unternahm er grosse Reisen und besuchte als begeisterter Bergsteiger regelmässig auch die Schweiz. Er nahm den jungen Schweizer Heusser sehr freundlich auf und besuchte später auch seine Familie auf dem Hirzel. Theodor Fontane gibt in seinen Autobiographischen Notizen Von Zwanzig bis Dreissig ein Porträt von Wilhelm Rose, in dessen Apotheke er zehn Jahre zuvor seine Lehre absolviert hatte.schliessen habe ich abgegeben, und wurde von diesem sehr freundlich aufgenommen und eingeladen ihn oft wieder zu besuchen; ich war auch bereits ein zweites Mal bei ihm, wo er mich um meine Wohnung befragte, so daß ich wahrscheinlich nächstens eine Einladung auf den Abend oder zu einem Mittagessen zu erwarten habe; ich war ziemlich ungenirt bei ihm, und sehr angenehm ist, daß man sich mit ihm über die Schweiz unterhalten kann, die er wirklich besser kennt, als ich selbst; er hat den Titlis und Urirothstock bestiegen und hat im Sinne nächsten Sommer den Mont-Blanc zu ersteigen. Auch um unsere politischen Ereignisse kümmert er sich sehr, ohne jedoch leidenschaftlich einer Parthei anzugehören. Er ist sehr gut bekannt mit dem Vormund von zwei jungen Preußen, die, wie Ihr vielleicht auch gehört habt, von Berlin entsprungen und nach Luzern gereist sind zu den Truppen der kleinen Cantone, wo sie von den eidgenössischen Truppen gefangen genommen wurden. Dieser Vormund nun holte die beiden jungen Leute aus der Schweiz zurück, und besuchte nachher Hrn. Rose, und bald nachdem er fort war, kam auch ich hin, und erfuhr so von Hrn. Rose die genauesten Berichte über die Schweizerereignisse. Den Zeitungen schenke ich keinen Glauben und habe darum wenig gelesen. Natürlich war ich einige Zeit in Besorgniß um Theodor, glaubte dann aber nach etwa 10 Tagen, da ich keinen Brief von euch erhielt mit Sicherheit annehmen zu dürfen, daß ihm Nichts geschehen sei. — Was den Erfolg des Krieges anbetrifft, so bedaure ich die kleinen Kantone,22Die Sympathie der ganzen Familie Heusser gehörte eindeutig den unterlegenen Sonderbundskantonen.schliessen [S.3] die wohl jetzt bis aufs Mark ausgesogen und wohl allen Einfluß in den eidgenössischen Dingen verlieren werden!

Bei Professor Gelzer23Der Schweizer Johann Heinrich Gelzer (1813-1889) hatte Theologie und Geschichte studiert, war a.o. Professor für Geschichte in Basel und von 1844-1850 Prof. in Berlin. HBLS III, S. 427f. und HLS 5, S. 186.schliessen war ich bereits zwei Mal vergebens, da er beide Mal unwohl war. Es ist übrigens von mir fast eine halbe Stunde zu ihm, weswegen ich nicht mehr hingehe, bis er Collegien liest, daß ich sicher bin, daß er gesund und stark genug ist, mich zu empfangen, daß ich nicht wieder vergebens gehe.

Was meine Zukunft betrifft, kann ich natürlich aus den wenigen Wochen meiner neuen Studien noch nichts weiter schreiben. So viel ich aber hier von dem Erfolg ähnlicher wissenschaftlicher Bestrebungen Anderer sehe, bin ich der sichern Hoffnung, daß ich mir nicht nur eine befriedigendere, sondern auch äußerlich ebenso günstige Stellung verschaffen werde als beim Studium der Medizin. Natürlich aber muß ich noch tüchtig arbeiten, und alle Zeit auf das Studiren verwenden; und dies hängt eben von meiner pekuniären Lage ab. Wenn ich jetzt schon eine Stelle als Lehrer, in einem Hause annehme, so habe ich weniger Zeit für mich zu verwenden und kann da lange Jahre meine wenigen Mußestunden zum Weiterstudiren verwenden, ehe ich es zu etwas bringe, und aus diesem Schulmeisterstande, der freilich nicht mein Ziel ist, herauskomme. Etwas Beträchtliches könnte ich aber durchaus nur so verdienen, indem ich zugleich Kost und Logis bekäme, was eben sehr theuer ist; einzelne Stunden werden nur sehr schlecht bezahlt, und dies würde wirklich nicht ausreichen. — Natürlich würde ich lieber noch die nächsten Semester ausschließlich studiren, und dann mit Gelegenheit eine günstige Stellung annehmen; viel Geld brauche ich nicht; denn wenn auch die 200 Th. schnell durchgingen, so war es eben die Reise, die vielen Collegiengelder dieses ersten Semesters, das ich nach allen Seiten hin benutzen wollte, und dann das Anschaffen von Vielem, das in Berlin bei Besuchen nothwendig ist, von dem ich in Zürich rein Nichts wußte, da ich immer so gewöhnlich als möglich gekleidet war; den Mantel muß man eben bei Besuchen im Zimmer abthun, und da fehlte mir eben der ganze übrige Anzug, Hut, Frak, schwarze Weste und Hosen, und Handschuh und Stiefeln. — Die 150 Thaler nun habe ich mit vielem Dank erhalten; sie werden auch wie ihr sehen werdet, länger anhalten, da ich jetzt mit dem Nothwendigen versehen bin, und weiter Nichts brauche als Kost und Logis. Denn ich bin entschlossen, Alles fahren zu lassen, da ich durchaus nöthig habe, meine Zeit zusammenzunehmen, wenn ich etwas werden will, und da überdies alle Geschichten von Berlin mir nicht so viel Freude machen, als mein Studium. [S.4] Ich will nun eure Antwort gewärtigen; und nöthigenfalls bitte ich Dich liebe Mama, mir Briefe an Zahn24Franz Ludwig Zahn (1796-1890) war Direktor der Erziehungs- und Lehrerbildungs-Anstalt Moers, die er ausgebaut hatte und im Sinne Pestalozzis führte. Er war verheiratet mit Meta Heussers Jugendfreundin Anna Zahn-Schlatter (1800-1863). Vgl. J. Ninck, Anna Schlatter und ihre Kinder, 2. Aufl. Leipzig 1935, S. 149-155, und R. Schindler, Memorabilien, Stammbaum der Familie Schlatter-Bernet.schliessen und deine übrigen Bekannten in Norddeutschland zu schicken, die mir einen Platz suchen helfen mögen, damit ich nicht den ersten besten annehmen muß; daß ich einen erhalten und versehen kann, bin ich überzeugt.

Beim Wechsel des Jahres wünsche ich von Herzen, daß das neue die Wunden des alten vergessen mache und euch glücklich, und gesund sein Ende erleben lasse. — Allen Bekannten das Beste wünschend grüßt Euch und sie:

Euer tr. Sohn: J. Chr. Heußer.

Marienstrasse I b bei Hr. Rennert


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