Brief Nr. 73 – 30.7.-5.8.1858
Zurück zum Register
1 Vorkommen in diesem Brief
Eintrag drucken
73 30.7.-5.8.1858
[Serra da Caraça, 30. Juli - Monlevade, 5. August 1858]
Liebe Eltern!

Serra da Caraça den 30t. Juli 1858. Es ist einer der höchsten bewohnten Punkte Brasiliens, vielleicht der allerhöchste, von wo aus ich schreibe; zugleich so schön und romantisch gelegen, daß ich fast in Versuchung bin, mit einer Schilderung der Gegend zu beginnen. Da indeß das Wiederholen langweilig ist, und ich jedenfalls darüber ausführlich nach Berlin schreiben werde, so will ich mich hier begnügen, zu sagen, daß die Lage von Caraça eine Grimsel im Kleinen ist. Und obgleich diese kahlen Felsen, die wenig andere Vegetation als Parasiten zeigen, sich mitten in einer reichen und fruchtbaren Gegend erheben, so kamen sie mir doch umgekehrt vor wie eine Oase in der Wüste, nicht bloß deswegen, weil jene Parasiten (Orchideen etc) uns eine ziemlich reiche Ausbeute versprechen, sondern ganz besonders, weil wir hier wieder einmal Menschen trafen, mit denen man ein vernünftiges Wort sprechen kann, und in deren Umgang man nicht "unter Larven die einzige fühlende Brust"498Zitat aus dem Gedicht "Der Taucher" von Schiller.schliessen ist, wie dies im Umgang mit Brasilianern der Fall ist. Es ist ein Kloster,499Das Colégio do Caraça wurde 1821 von Lazaristen gegründet und wurde eine bedeutende Schule mit einer umfangreichen Bibliothek. Es existierte bis 1968.schliessen in dem wir uns befinden, aber vorherrschend von französischen und italienischen Geistlichen bewohnt. So ist der Prior, dem wir besonders zu Dank verpflichtet sind, ein Neapolitaner; und es ist merkwürdig, wie die Grenze, die in Europa den Schweizer oder Deutschen von dem Franzosen oder Italiäner trennt, wie dieser Unterschied der Nationalität hier verschwindet, wie man sich Europäer fühlt gegenüber dem Brasilianer, und sehr stolz ist, ein Europäer zu sein, selbst neben dem Mäusefallen verkaufenden Slaven und Slovaken gegenüber einer Nation wie die der Brasilianer, von deren Hohlheit und Eitelkeit man sich keine Vorstellung machen kann.500Dieses äusserst negative Urteil fällt Heusser wohl in Erinnerung an die Angriffe, denen er in den vergangenen Monaten ausgesetzt war.schliessen Um übrigens nicht den Schein der Leidenschaft und Partheilichkeit gegen Brasilien auf mich zu laden, will ich gar nicht erzählen, was wir bei und von Brasilianern gesehen und erfahren haben, sondern lieber mit obigem Kloster und dessen Prior beginnen, selbst auf die Gefahr, daß wir es mit Jesuiten501Die hier angetönte schweizerisch-protestantische Angst vor den Jesuiten ist wohl nicht ernst zu nehmen.schliessen zu thun haben. Dies glaube ich in der That, und zwar ganz besonders wegen der feinen Bildung und des feinen Benehmens des Priors. Während andere Orden ihre größte Freude in der Völlerei finden, haben bekanntlich die Jesuiten selbst in der Wissenschaft große Autoritäten geliefert; daß die Erziehung der Jugend Hauptaufgabe der Jesuiten, ist hinlänglich bekannt, und in der That findet sich auch hier in Caraça ein Seminar, das von etwa 70 Zöglingen besucht ist. Ich könnte für meine Vermuthung noch einige Wahrscheinlichkeits-Gründe anführen, will dies aber nicht thun, da es am Ende ziemlich gleichgültig ist, bei welchem geistlichen Orden wir uns gegenwärtig befinden. Hauptsache ist, daß wir in Caraça freundlich aufgenommen worden sind und von heftigen Regen überfallen, zwei angenehme Tage hier zugebracht haben. Wie gesagt war es besonders der Prior, der sich mit uns abgab, und der eine sehr allgemeine Bildung, zugleich aber in der Botanik ganz specielle und gründliche Kenntnisse hat. Billigerweise hätte ich übrigens meinen Brief mit dem Mann beginnen sollen, der uns bei dem Kloster Caraça eingeführt hat, und bei welchem wir vorher schon und zwar zuerst auf unserer Reise reine und volle Gastfreundschaft genossen haben. Es ist natürlich wieder ein Europäer, und zwar ein Franzose von ziemlich vorgerücktem Alter. Seine Lebensweise und sein Haushalt sind so eigenthümlich, daß ich et[S.2]was länger bei dem Manne verweilen muß. In Ouro preto hörten wir zufällig, daß in einer Entfernung von etwa 1½ Meilen ein Franzose wohne, der die Mineralien der Gegend gesammelt hätte. Wir waren darüber um so mehr erfreut, als von Seite der Brasilianer in Ouro preto auch nicht die mindeste Auskunft über Mineralien zu erhalten war. Ich gieng daher alsbald ohne Empfehlung zu diesem Franzosen, Herrn Buzelin, hin und wurde von ihm über die Maaßen freundlich aufgenommen. Ich weiß nicht, ob es bei ihm angeborene Gutmüthigkeit war, oder jenes Band, das mehr oder weniger die Naturforscher verbindet (Buzelin ist auch nicht bloß Sammler, sondern hat ziemlich gründliche Kenntnisse) und das man schon mit der Freimaurerei verglichen hat. Kurz Mons. Buzelin schenkte mir nicht bloß viele seiner schönen Mineralien, sondern lud mich ein, nebst meinen zwei Reisegefährten unser Lager bei ihm aufzuschlagen, und von seiner Fazenda aus unsere Ausflüge in die Umgegend zu machen. Dies ließen wir uns nicht zwei Mal sagen, siedelten zu Mons. Buzelin über, und blieben nahe an zwei Wochen bei ihm. Nach seinen Rathschlägen machten wir die Ausflüge, und beuteten so die Gegend um Ouro preto so gut, als es heutzutage noch möglich ist, aus. Früher, als der Bergbau auf Gold in viel größerem Maaße betrieben worden, wäre jedenfalls auch unsere Ausbeute ungleich größer gewesen. Indeß haben wir doch auch manches Schöne gefunden, und dabei jene Freuden und Entschädigung für erlittene Mühsale empfunden, die nur der Naturforscher, ein gewöhnlicher Reisender aber nicht kennt. — Dieser Buzelin nun ist ein eigenthümlicher alter Kauz, ein echter Franzose von Charakter und Sitten. Er hat eine ziemlich große Fazenda, auf der er bloß von Schwarzen, und zwar Sklaven, umgeben lebt. Er besitzt eine große Anzahl sogenannter Creolen, d.h. in Brasilien geborene Schwarze, von 6-12 Jahren, und diese behandelt er ganz, wie seine eignen Kinder, singt und tanzt des Abends mit ihnen und lehrt sie französische Lieder singen. Mit 4 dieser Creolen zusammen hat er sich in Einer Gruppe daguerotypiren lassen, und will dieselbe seinem Sohn schicken, der gegenwärtig in Paris seine Studien macht. Daß seine Schwarzen sich gegenwärtig nicht unglücklich fühlen, ist begreiflich; weniger begreiflich dagegen ist, daß Mons. Buzelin ein Vertheidiger der Sklaverei ist, sich über die "Philanthropen" lustig macht, und meint die Schwarzen könnten auf keine Weise glücklicher sein. Wenn er aber einmal todt, und seine Schwarzen verkauft werden, so sind sie damit viel unglücklicher, als wenn sie nie bei ihm gewesen. —

Von diesem Mons. Buzelin sind wir seither über jenes Kloster Caraça 18 Meilen weiter gereist in die Richtung gegen Diamantina und haben nach etwa 10 Tagen ein großes und weit bekanntes Eisenwerk erreicht, wiederum einem Franzosen angehörend, von dem wir gastfreundlich aufgenommen worden, und von wo aus ich diesen Brief fortsetze. Land und Sitten von Ouro preto bis hieher bieten wenig Neues; das Land ist von Goldsuchern durchwühlt, deswegen aber doch arm und im Verfall. Die Sklaven vermindern sich täglich, und da keine neuen eingeführt werden, fehlen die Arbeitskräfte. Die Brasilianer selbst arbeiten nicht, der Bergbau auf Gold geht ein, die Bevölkerung fängt an allmälig sich an die Küste zu ziehen, und so scheint eine der schönsten Provinzen Brasiliens ihrem Untergang entgegenzugehen. Die drei oder vier Ortschaften, die wir seit Ouro preto durchreist haben, sind todt; die Häuser stehen zur Hälfte leer; und wir begreifen dies um so eher, seit wir gehört haben, daß aus [S.3] drei oder vier kleinen Ortschaften im Umkreis von etwa 10 Stunden in den letzten 3 Wochen 150-160 Personen ausgewandert seien, um sich näher der Küste niederzulassen. Einen solchen Zug haben wir getroffen, und es giebt derselbe ein passendes Bild von der Art und Weise, wie reiche brasilianische Familien reisen. Diese Familie verließ das Städtchen Kattas altas, wo sie aus Mangel an Arbeitskräften, ihre Goldminen nicht mehr betreiben konnte, und bildete folgende Caravanne: Die Familienglieder 4 Herren und 7 Damen zu Pferd, dann zwei Maulthiere mit je zwei Körben, in denen zusammen 9 Negerkinder saßen, 19 beladene Lastthiere und 4 unbeladene, um im Fall der Noth abwechseln zu können, zwei Maulthiere mit einem großen Tragsessel für zwei ältere Personen, eine Makkama (schwarze Dienerin) zu Pferd, 6 Makkamen zu Fuß, 4 Cameraden (1 Weißer und 3 Schwarze) zu Pferd und 4 solche (alle schwarz) zu Fuß, 1 Mulatt als Jäger mit einer Büchse, und schließlich noch einige halberwachsene Neger und Mulatten-Kinder zu Fuß. Der Zug führte keineswegs sämmtliches Mobiliar, und was zur Übersiedelung, sondern nur was zur Reise selbst nöthig war, mit, d.h. Bettgestelle, Betten, Küchengeschirr, Lebensmittel, Tisch und einige Sessel etc. Auf diese Weise sind freilich die Unannehmlichkeiten nicht groß, die Nacht im Rancho zuzubringen. Was der Rancho ist, habe ich im letzten Briefe mitgetheilt, auch wir haben seit Ouro preto ziemlich regelmäßig in einem solchen geschlafen, und uns dabei auch mit unsern geringen Reise-Hülfsmitteln recht wohl befunden. Immerhin sind solche Abwechslungen, wie im Kloster Caraça und hier bei Monlevade ganz angenehm. Das Etablissement von Monlevade ist eines der größten, vielleicht das größte in Brasilien, und ist in großem Flor, weil es hinreichende Arbeitskräfte (nicht weniger als 400 Schwarze) besitzt. Eisen ist hier in solcher Menge vorhanden, daß alle Neger Afrikas in viel Jahrtausenden den Reichthum nicht erschöpfen würden, und somit das Eisenwerk eine wahre Goldgrube. Der Besitzer ist natürlich ein vornehmer Herr, somit der Aufenthalt ein ganz anderer, als bei Buzelin, d.h. wir fühlen uns hier nicht so wohl und ungenirt; doch das muß ich anerkennen, daß wir auch hier mit der größten Zuvorkommenheit aufgenommen worden sind, und volle Gastfreundschaft gefunden haben. — Bald nähern wir uns nun dem eigentlichen Diamanten-Distrikt, der Stadt Diamantina selbst. Zwar sind wir noch in einer Entfernung von 40 Meilen, indeß ist eine solche Entfernung in diesem Lande nicht bedeutend, und außerdem erinnern die vielen Truppen, die man stets auf der Straße findet, daß dieselbe einem bevölkerteren und belebten Landestheil zuführt. In der That soll der Diamanten-Distrikt noch nicht so im Verfall sein, wie der Gold-Distrikt von Ouro preto. Indeß will ich nicht vorgreifen, und Näheres von Diamantina aus schreiben. — So weit denke ich diesmal bloß zu gehen, und dann auf einem andern Weg nach Ouro preto zurückzukehren. Von Ouro preto nach Diamantina reisen wir nämlich im Wassergebiet der Küstenflüsse Rio Doce und Muccuri, zurückreisen werden wir im Wassergebiet des großen St. Francisco. Auf jeder Karte findet sich ein großer Gebirgszug, der freilich in der Natur nicht existirt verzeichnet, welcher jene beiden Küstenflüsse von dem Rio de St. Francisco trennt; östlich von diesem Gebirgszug reisen wir hinein und westlich von demselben, gedenken wir zurückzukehren. Auf dieser Westseite sind einige großartige Englische Etablissements zu treffen, sowie ein Dänischer Naturforscher,502Wohl Peter Wilhelm Lund (1801-1880), der aus gesundheitlichen Gründen nach Brasilien emigrierte und Material für das Dänische Museum für Naturgeschichte sammelte. Seit 1840 lebte er in Minas Gerais. Vgl. www.brasilienportal.ch.schliessen der dort seit Jahren niedergelassen ist. Bei letzterem wird mich wohl die Empfehlung Humboldts einführen, [S.4] ob ich bei den Engländern bei ihrer bekannten Abgeschlossenheit Zutritt finden werde, ist noch die Frage. Nach Cantagallo denke ich etwa gegen Ende October zurückzukehren, und den November auf der Fazenda zuzubringen. Von meinen weiteren Plänen will ich noch nicht sprechen, da deren Ausführung hauptsächlich von Nachrichten aus Berlin abhängt. In Bom Valle hoffe ich aber jedenfalls Briefe von Euch zu treffen; auch könnt Ihr noch auf diesen Brief antworten. Wenn derselbe, wie ich hoffe, mit dem September-Schiff von Rio abgeht, so habt Ihr denselben Anfangs October, und ich kann Eure Antwort in den ersten Tagen des December erhalten. Bald nachher rücke ich ohne Zweifel wieder aus, nur weiß ich eben noch nicht, nach welcher Seite. — Inliegende Zeilen an Krull in Berlin bitte ich ohne Verzug in Enveloppe nach Berlin zu schicken. Seine Adresse ist D. Krull, Assistent am K. Mineraliencabinet, Universitäts-Gebäude. Ich schicke nicht gerne direkt, weil ich nicht frankiren kann. Aus den eingeschlossenen Zeilen an Crull seht Ihr, daß wir uns auch mit dem Sammeln von Pflanzen abgeben; und in der That haben mich die hiesigen Orchideen zu einem halben Blumen-Narren gemacht; da ihr kein Treibhaus habt, nützt es Nichts, Euch solche zu schicken. Vielleicht, daß ich aber nächstes Frühjahr doch einmal den Versuch mache. Wenn übrigens irgend einer meiner Freunde Freude an schönen Orchideen hat, so will ich einmal eine schöne Lieferung schicken. —

Gesund scheint jedenfalls dieses Hochland von Minas geraes zu sein; auf Caraça haben wir zwei, hier bei Monlevade einen Neger getroffen, der über 100 Jahre alt ist. Alle Europäer, die wir getroffen, versichern uns, daß sie sich wohl fühlen, und auch wir freuten uns über das angenehme, gemäßigte Clima der Monate Juni und Juli in höchstem Grad. Jetzt im August fängt es schon an etwas heißer zu werden, und außerdem scheint sich auch im zweiten Jahr die Acclimatisations-Krankheit, die in Hautausschlägen und Jucken am ganzen Körper besteht, und welche vorzüglich in den Monaten August und September auftritt, noch einmal erscheinen zu wollen.

Die ganze Provinz Minas ist, so weit wir sie bis jetzt durchreist haben, der Art abgeholzt und durchwühlt, daß wir von schönen Urwäldern, von Wilden und dergleichen, woran man in Europa schon beim bloßen Wort Brasilien zunächst denkt, noch sehr wenig gesehen haben. Allerdings sind wir der Grenze der Urwälder sehr nahe; und zwar liegen dieselben zwischen dem Minen-Distrikt und dem Meer, während gegen das Innere des Continents das Land noch ziemlich weit hinein bevölkert und bebaut ist. Einer der am wenigsten bekannten Küstenflüsse ist der Rio doce, an dessen Quellen wir seit etwa 8 Tagen reisen. Jene große bunte roth-blaue Papagei-Art (Ara), die selbst in Menagerien nicht häufig ist, ebenso Tigerfelle (natürlich von dem kleinen brasilianischen Tiger) und prächtige Holzarten als Baumaterial verschwendet haben wir in letzter Zeit auf den Fazenden häufig gesehen; ebenso haben wir häufig getroffen die als Heilmittel bekannte Hypecacuanha, und ein seltenes Metall: Wismuth. Alles kommt vom Rio doce und deutet schwach darauf hin, was für Reichthümer in seinen Wäldern noch verborgen liegen. Allerdings ist der Reiz groß, auch einmal etwas in dieses Dickicht einzudringen, hoffentlich wird sich auch bald etwa eine Gelegenheit finden.

Mit herzlichen Grüßen an Alle
J. Ch. Heußer.
Etablissement Monlevade
Provinz Minas geraes 5t. August 1858.


Zurück zum Register