Brief Nr. 99 – 8.8.1868
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99 8.8.1868
Buenos Aires 8t. August 1868
Liebe Mama und Schwestern!

Es haben sich wieder einmal Briefe von uns gekreuzt, derjenige von Euch vom 28t. Februar und 11t. März mit einem von mir von Anfang März; und so wird es wohl wieder mit diesem Brief und einem ungefähr gleichzeitig von Euch abgehenden ergehen. Aber da ich im Begriff bin, für längere Zeit zu verreisen, und da außerdem die Büchersendung vorliegt und zu besprechen ist, so will ich zur Feder greifen.

Bestimmt weiß ich es wahrhaftig nicht, aber mir scheint die Bücher waren ein Geschenk; da sagt man allerdings "dem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul", aber da es sich hier darum handelt, Euch für zukünftige Auswahl von Büchern auf den rechten Weg zu leiten (— ich spreche nicht von weiteren Geschenken, sondern von Büchern, die Ihr mir auf meine Rechnung schicken könnt, da doch ein vernünftiges Buch zu lesen ziemlich der beste Genuß ist, der einem in diesem Lande gewährt ist —) so kann ich bei der Beurtheilung der mir zugeschickten Bücher kein Blatt vor das Maul nehmen.

1) Andrée668Karl Andrée, Buenos Aires und die argentinischen Provinzen, N.A. Leipzig 1876. Das Buch, mit handschriftlichen Anmerkungen von Claraz, befindet sich heute in der ZB Zürich.schliessen über die Argentinische Republik kam mir sehr erwünscht; es giebt zwar durchaus kein wahres Bild von dem hiesigen Land; aber von einem Europäer, der dies Land nicht gesehen hat, kann man nichts Besseres erwarten.

2) Die beiden poetischen Werke waren mir auch ganz willkommen, oder besser gesagt eigentlich doch nur das erste aus nahe liegenden Gründen, als Andenken und zur Erinnerung an manche Jugend-Eindrücke, oder Erlebnisse; die Poesien von Meyer6691867 waren die "Balladen von einem Schweizer" unter C. F. Meyers Namen neu aufgelegt worden.schliessen mögen schön sein, aber ich bin, offen gestanden, nicht im Stande, dieselben recht zu würdigen. Man verliert in diesem Lande den Sinn für Geistesprodukte aller Art, höchstens etwa Witz und Satyre ausgenommen; daher lese ich immer mit größtem Vergnügen den Berliner "Kladeradatsch",670Das politisch-satirische Wochenblatt "Kladderadatsch" erschien in Berlin von 1848-1944.schliessen und hatte ein wahres Wohlbehagen an den Locherschen671Friedrich Locher (1820-1911) veröffentlichte seit 1866 seine scharfen Pamphlete gegen die liberale Regierung: "In hämischem Ton zeichnete Locher das Bild einer 'selbstsüchtigen Clique' von skrupellosen und profitgierigen Männern, wobei er nicht mit pikanten Details aus deren Privatleben geizte." B. Fritzsche/ M. Lemmenmeier, Die revolutionäre Umgestaltung, S. 147.schliessen Pamphleten, die mir freilich nicht direkt, sondern von andern Schweizern hier in B. A. zugekommen sind.

3) Lincolns Leben,672Wahrscheinlich die Biographie von Félix Bungener, Abraham Lincoln, Lausanne 1865. Die dt. Übersetzung war 1866 in Bern erschienen.schliessen ein sehr schöner und interessanter Gegenstand; auch ich bin ein großer Verehrer von Lincoln; aber die Art der Behandlung in diesem Buch ist nicht nach meinem Sinn.

4) Osenbrüggen673Der Jurist Eduard Osenbrüggen (1809-1879) war seit 1851 Professor für Strafrecht an der Universität Zürich und wirkte am Strafgesetzbuch für den Kt. Zürich mit. Heussers Kritik bezieht sich wohl auf seine zwei Bände "Kulturhistorische Bilder aus der Schweiz", (1863/1864), sowie "Land und Leute der Schweiz" (1866).schliessen (Schweizerische Schmieralien in drei verschieden betitelten Büchern, von denen aber eines wesentlich dasselbe sagt, wie das andere) und das Helgenbuch über den Preußisch-Östreichischen Krieg gehören auf dieselbe Stufe. — Gegen Osenbrüggen habe ich allerdings einen persönlichen Haß;674Heussers Hass muss auf ein Ereignis in der Zeit zurückgehen, als beide an der Universität Zürich lehrten.schliessen aber spiegelt sich denn seine schmeichleri[S.2]sche, kriecherische Natur nicht klar genug in seinen Büchern ab? Und wird irgend etwas darum interessant und werth zwei oder drei mal gelesen zu werden, weil es von einem Professor in Zürich geschrieben ist? In der That findet sich aber, was dieser im Anfang des einen Buches sagt, auch in der Mitte des zweiten, und was zu Ende des zweiten, auch zu Anfang des dritten u.s.w. — Vollends erschrocken bin ich vor dem Kriegs-Helgenbuch;675Mundartausdruck für "Bilderbuch".schliessen warum braucht man denn noch durch Zeichnung sich zu veranschaulichen, wie die armen Östreichischen Soldaten die Jahrhunderte alten Sünden der Östreichischen Regierung büßen mußten? Auch der ganze Text ist bloß für preußische Junker geschrieben, und auf dem Standpunkt bin ich denn doch nicht angelangt. — Leider aber nehmen Osenbrüggen und Helgenbuch zusammen mindestens 90% der gesammten mir übersandten Litteratur ein.

Von anderer Seite ist mir ein Buch von einem Prof. Escher (eine ungefähre Geschichte des Kantons Zürich seit Ende des vorigen Jahrhunderts) zu Gesichte gekommen. Ich bin mit dem Verfasser vielleicht auch nicht in einem einzigen Punkt einverstanden; wo er aristokratisch ist, bin ich radical und umgekehrt; aber es gefällt mir darin die freie, rücksichtslose Sprache, die so vortheilhaft gegen Osenbrüggen absticht. — Ferner ist mir ein Buch "über das wahre Christenthum" von derselben Seite wie Escher zugekommen, das darum einiges Interesse für mich hatte, weil es von Pfr. Vögeli,676Friedrich Salomon Vögelin (1837-1888) war Pfarrer in Uster und Vertreter der Reformtheologie. In seinem Buch "Die Geschichte Jesu und der Ursprung der christlichen Kirche" betont er, dass Jesus ein Mensch war. HBLS VII, S. 283.schliessen Sohn von Salomon Vögeli,677Anton Salomon Vögelin (1804-1880) war Professor für Griechisch am Gymnasium und Prof. für Altphilologie an der Universität Zürich. HBLS VII, S. 283.schliessen geschrieben ist. Ich glaube zwar nicht, daß dieser Pfr. Vögeli dazu berufen ist, die Anhänger des positiven Glaubens auf's Haupt zu schlagen, sondern glaube vielmehr, daß dessen ganzes System auf thönernen Füßen steht: denn gleich auf den ersten Seiten seines Buches tritt ohne weitere Einführung, als ein wahrer deus ex machina der jüdische Herrgott auf, von dem man, wenn man sich auf Vögelis eignen Standpunkt stellen will, billigerweise fragen muß: aus wessen Herren Länder kommt dieser Mann, und was für Ausweisschriften bringt er mit sich? Vögeli aber verlangt von diesem, als dem wahren Souverän des Landes, gar keinen Paß, und nimmt so das größte aller Wunder als etwas Selbstverständliches an, um damit einige untergeordnete Wunder auf natürlichem Wege zu erklären. Indeß liest sich das Buch ganz gut, und hatte für mich besonderes Interesse, weil dessen Verfasser und ich mit Beziehung auf elterliche Verhältnisse in ähnlicher Lage uns befinden, und der Professor Salomon Vögeli immer ein streng gläubiger Mann war. Dieses Buches [S.3] von Vögeli habe ich übrigens nicht bloß erwähnt, um auf ähnliche litterarische Erscheinungen aufmerksam zu machen, sondern um damit meine persönliche Stellung zu den sogenannten Strenggläubigen zu bezeichnen. Aus einem früheren Briefe von Hanni und aus dem letzten von Euch selbst geht hervor, daß bei Euch im Hirzel gegenwärtig ungemein viel Deutsche-Fromme verkehren. Nun weiß ich nicht, ist es Zufall oder nicht, aber unter allen Deutschen-Frommen, die ich in meinem Leben getroffen, habe ich keinen einzigen gefunden (Lange ausgenommen), der nicht von einem unausstehlichen Dünkel behaftet gewesen wäre, der alle Nicht-Frommen schonungslos verdammt. Mit solchen Leuten kann ich absolut nicht verkehren, und sie würden mir einen Aufenthalt im Vaterhause selbst nach 12 oder 20 jähriger Entfernung unmöglich machen. Mit den Schweizerischen Frommen ist es aber nicht so: ich bin mit Hr. Pfr. Wild und vielen andern, so gerade mit dem Pfr. Prof. Salomon Vögelin, dem Pfr. Rudolf Zimmermann678Hans Rudolf Zimmermann (1792-1867) war ab 1848 Vikar am Grossmünster und seit 1855 Pfarrer am Waisenhaus, später Rektor an der Töchterschule. HBLS VII, S. 664.schliessen und vielen anderen immer gut ausgekommen, und sehe nicht ein, warum denn dergleichen Leute nicht eher vom Hirzel angezogen werden?

Vor ungefähr einem Monat habe ich Euch von hier aus einen Abdruck einer kleinen Arbeit über die Patagonische Küste,679J. Ch. Heusser und G. Claraz, Ueber den patagonischen Küstenstrich zwischen dem Rio Colorado und Rio Chubut, mit Beziehung auf die Aussichten, die derselbe einer Europäischen Einwanderung bietet, SA aus: Zs. für Erdkunde II, Berlin 1867, S. 324-341.schliessen die in der Zeitschrift der Berliner geogr. Gesellschaft erschienen ist, zugeschickt. Es kommen in derselben mehrere Druckfehler vor, die corrigirt sind, außerdem aber auch ein gewaltiger Verstoß gegen die Grammatik und den Geist der Deutschen Sprache, welcher nicht corrigirt werden konnte, da er sich nicht auf Ein Wort, sondern auf einen ganzen Satz bezieht. In den Zeitungen kommt dergleichen allerdings alle Tage vor, aber mich ärgerte doch beim Durchlesen dieser Schnitzer sehr; ich kann ihn nur der allgemeinen Zerstreutheit und Verlotterung, der man allmälig in diesem Lande sich hingiebt, zuschreiben. — Ich habe nie viel gehalten auf dem Studium alter Sprachen, deren Kenntniß doch allein nur ein richtiges Verständniß aller neueren möglich macht, durch Frauen, daher offen gestanden auch nicht auf den Studien der Schwester Ega.680Vgl. dazu die abfällige Äusserung Heussers über die Studien der Schwester in Brief Nr. 83; 26. 7. 1861.schliessen Nun will ich mein Unrecht eingestehen, wenn sie mir den Sprachschnitzer in jenem Aufsatz nachweist. — Bei der Gelegenheit gesagt, freue ich mich, daß sie den Ruf nach America nicht angenommen hat; da keine Nahrungssorgen vorhanden sind, kann sie ganz gewiß nirgends besser bleiben, als in Hirzel oder Zürich.

Vor mehreren Jahren schrieb mir einmal Netti und bat mich um Briefmarken; ich antwortete, daß ich mich mit dergleichen Dummheiten, oder Lumpereien nicht abgeben könne; nun bekommen wir (Claraz) von Genf aus und zwar von einem berühmten Professor Nachfrage und Bitte um solche Briefmarken, und es scheinen die Briefmarken-Sammlungen in Europa Mo[S.4]de oder sogar Leidenschaft geworden zu sein; nun habe ich zwar meine Meinung über die Sache selbst durchaus nicht geändert, und würde auch dem Professor in Genf keine schicken; aber da einmal Claraz sich der Sache annehmen wird, und sogar durch eine Verbindung, die wir in Chile haben, Briefmarken aus Asien (China und Japan) bestellt hat, so will ich die Hälfte davon ebenfalls für Nettis Jugend in Aussicht stellen; die Marken dieses Landes und der nächst angrenzenden sollen entweder schon mit diesem Brief oder mit nächster Gelegenheit abgehen.

Über den Kabis681Wohl der Studentenname eines Freundes, der sich nicht aufschlüsseln lässt.schliessen habe ich glaube ich schon an Hanni geschrieben, daß er hier durchreiste, während ich in Bahia Blanca war, daß ich somit Nichts für ihn thun konnte.

Mit dem Paraguay-Krieg verhält es sich ungefähr folgendermaaßen: Der unter dem Namen Republik von einem Alleinherrscher (Lopez)682Francesco Solano Lopez war seinem Vater 1852 in der Herrschaft über Paraguay gefolgt. Zu den Kriegsereignissen vgl. D. Rock, Argentina 1516-1982, Los Angeles 1985, S. 127-129, und HLS 9, S. 539f.schliessen regierte Staat Paraguay führt seit mehr als drei Jahren Krieg gegen die Trippel-Allianz: 1) Kaiserthum Brasilien, 2) Argentinische Republik und 3) Republik Banda Oriental oder Uruguay. Dem Flächenraum nach verhält sich Paraguay zu seinen drei Feinden ungefähr so, wie die Schweiz zum ganzen Continent von Europa, annähernd ebenso der Einwohnerzahl nach. Trotzdem hat sich Paraguay durch heldenmüthigen Widerstand mehr als drei Jahre gehalten, und sich dadurch die Sympathien aller hiesigen Europäischen Nationen erworben; am Ende muß es freilich der Übermacht weichen, wenn nicht Nordamerica einschreitet, oder der bevorstehende Präsidentenwechsel in der Argentinischen Republik eine günstige Wendung für Paraguay herbeiführt. Was die Regierungsform von Paraguay betrifft, so ist sie übrigens nicht sehr verschieden von der aller spanischen Republiken; alle diese spanischen Rebublik-Präsidenten geriren sich, wie Monarchen, machen was sie wollen. Die Bevölkerung Paraguay's hat sich übrigens durch die fast hermetische Abschließung bis jetzt fast unvermischt indianisch erhalten, wie fast in keinem andern Land; dagegen ist dieselbe durchweg christlich, indem die Jesuiten in Südamerica zuerst in Paraguay ihre Missionen errichteten und Jahrhunderte lang erhielten. Jedenfalls ist der ganze Paraguay-Krieg für mich nur ein Beleg meiner längst ausgesprochenen Ansicht, daß die reinen Indianer mehr werth sind, als die spanische Race, und daß die Indianer da am schlimmsten sind, wo sie mit der christlich-spanischen Bevölkerung in Berührung gekommen, und von derselben corrumpirt sind. Buenos Aires ist allerdings, und zwar wesentlich, mit in den Krieg verwickelt, als Hauptstadt nicht nur der gleichnamigen Provinz, sondern der ganzen Argentinischen Republik. — Ich kann mir nicht denken, für wen diese [S.5] Nachfrage nach dem Paraguay-Krieg berechnet war, hoffe aber, es werde für keinen Zeitungsschreiber sein. Begeisterung für große Thaten (— die eben so selten sind —) verliert man in diesem Land, gerade so wie den Sinn für Poesie, allmälig ganz; aber für dies Heldenvolk der Paraguayer habe ich mich doch noch einmal warm interessirt: in der That kenne ich weder in der Schweizer- noch in der ganzen Weltgeschichte einen ähnlichen dauernden und verzweifelten Kampf um das Dasein eines Volks. Schon früher hörte man hier unter der Hand, daß in Paraguay Knaben bis zu 12 und 10 Jahren herunter und Weiber aller Altersstufen unter Waffen stehen; man wußte aber nicht, wie viel an diesen Gerüchten wahr war: wurden sie von den Allirten ausgestreut um die eigene Parthei durch Hinweis auf die Schwäche von Lopez zu ermuthigen? Oder waren die Gerüchte nur zu wahr und wurden sie von den Allirten mehr unterdrückt als verbreitet, um die eigene Schande und Ohnmacht, die nicht Kinder und Weiber zu besiegen vermag, zu verdecken? Das letztere war der Fall; bei dem Fall der Festung Humaita kam es zu Tage; dieselbe war von 3000 bis 4000 Paraguayisch menschlichen Wesen vertheidigt; die allirte Armee vermochte dieselbe nicht mit Gewalt zu nehmen, sondern jeder Sturm wurde abgeschlagen. Endlich aber gelang es die Festung ganz zu umzingeln und derselben alle Zufuhr an Lebensmitteln abzuschneiden; da machte die Besatzung einen Ausfall und schlug sich durch, um sich mit dem übrigen Paraguay-Heer zu vereinigen; dabei fielen tausend Häupter in die Gefangenschaft des Feindes, und siehe da, darunter waren 300 bis 400 streitbare Männer, der Rest aber Weiber und Kinder!

Letzthin suchte mich ein Herr von Meyenburg auf, Sohn des Bürgermeisters von Schaffhausen,683Franz Anselm von Meyenburg (1788-1864) war Bürgermeister der Stadt Schaffhausen.schliessen und Verwandter jener Familien Mandach, Kirchhofer684Mit den Schaffhauser Familien Mandach, von Meyenburg und Kirchhofer war Meta Heussers Familie von ihrer Jugend an befreundet. Vgl. M. Heusser, Hauschronik, S. 66 und Anm. 71; R. Schindler, Memorabilien, S. 227 und Anm. 770.schliessen etc. Er muß einige Zeit in ziemlich dürftigen Verhältnissen hier gelebt haben; gegenwärtig ist er Secretär des Schweizerischen Consuls, eine zwar bescheidene Stellung, bei der er aber doch ordentlich leben kann. —

Ich schließe mit bestem Gruß an alle Verwandten und Bekannten:
Chr.


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