Brief Nr. 98 – 7.4.1867
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98 7.4.1867
Buenos Aires 7t. April 1867
Liebe Mama!

Deinen und Metas Brief von Ende November 66 habe ich rechtzeitig, d.h. Mitte Januar bekommen, und denselben noch nicht beantwortet, weil ich auch ungefähr im November vorigen Jahres einen längeren Brief mit einer Reisebeschreibung nach der Südlichen Patagonischen Küste abgeschickt hatte, auf den ich Antwort erwartete.658Entweder ist der erwähnte Brief tatsächlich verloren, oder bezieht sich Heusser auf seinen langen Reisebericht, datiert vom 18. September 1866: vgl. Brief Nr. 95; 18. 9. 1866 aus Patagones.schliessen Nun schreibt mir Spyri unterm 9t. Februar, daß er lange Nichts von mir gehört habe, woraus ich schließe, daß entweder mein Brief verloren gegangen, oder daß Ihr Vergeltungsrecht geübt, und jenen Brief Niemandem mitgetheilt habt. Sei dem, wie ihm wolle, so will ich jetzt Euern Brief vom vorigen November beantworten.

Du klagst darüber, daß Du Nichts von mir wissest; meine interessanteren Reisen theile ich doch immer mit, und das Leben in Buenos Aires ist eben ziemlich einförmig. Trotzdem will ich es versuchen, theils durch diese Zeilen, theils durch einige Documente, die ich mit dem nächsten Schiff durch Flury nach Zürich schicken werde, und deren Erklärung mit diesem Schiff an Spyri abgehen, Dir ein ungefähres Bild meines Lebens in hier zu geben: Bloß wünsche ich dann entschieden, daß der Russische Grenz-Cordon zwischen Zürich und Hirzel gesprengt werde, und daß jene Documente auch wirklich nach dem Hirzel gelangen mögen.

Bekanntlich theilt sich mein Leben hier in Messungen und Reisen auf dem Camp und in den Aufenthalt in der Stadt. Der letztere dreht sich wesentlich um vier Punkte: 1) die Geschäfte, 2) der Fremdenclub, 3) die Familie Malcolm und 4) das Hotel Europa nebst einigen demselben verwandten Anstalten. Was die Geschäfte betrifft so gehören sie mit zu den unerfreulichsten, die es geben kann, in denen man so recht den Geiz und die Gemeinheiten der Hiesigen kennen lernt. Diese Geschäfte haben mir schon manchmal das ganze Leben in hier gründlich verleidet, mich für den Augenblick Alles verwünschen lassen; aber bei kälterem Blute denke ich immer wieder, daß jedes Geschäft mehr oder weniger dieselben Unannehmlichkeiten hat, und daß meine Stellung wenigstens den Vorzug der Abwechslung, der manigfachen Reisen bietet. — Des Fremdenclubs erwähne ich hier speciell, weil Du glaubst, daß nach B. A. keine anderen Zeitungen kommen als der Bürkli; das ist denn doch nicht der Fall; zwar sind auf dem Fremdenclubb die Deutschen wohl am stiefmütterlichsten behandelt, aber wir haben doch Allg. Augsburger und Köllner Zeitung. Daher habe ich auch die Östreich.-Preußischen Ereignisse659Der Österreichisch-Preussische Krieg hatte 1866 mit dem Sieg Preussens die Auflösung des Deutschen Bundes und die Bildung des Norddeutschen Bundes unter Preussischer Führung bewirkt.schliessen des vorigen Jahres aus andrer Quelle als aus dem Bürkli geschöpft. Immerhin wäre mir etwas weiteres, Gründliches und Unpartheiisches darüber nur erwünscht, und in dem Sinne habe ich auch an Spyri geschrieben. Mich hat der Erfolg der Preußen sehr gefreut; ich sehe darin nur den Sieg der wahren Civilisation und Bildung über das Gegentheil, und bin der Ansicht, daß ganz Süd-Deutschland sich an [S.2] Preußen anschließen muß, wenn Deutschland einmal gegen das Vordringen des durch die Franzosen repräsentierten romanischen Schwindels sicher sein will. Wer für den Eindruck deutscher Cultur empfänglich ist, den muß es doch im Innersten kränken und demüthigen, wenn er in Goethes Wahrheit und Dichtung die Schilderung von Elsass findet, welches Land, kurz vorher unter Frankreich gekommen, doch dazumal seinem innern Wesen nach noch ganz deutsch war; und was ist heutzutage aus demselben geworden, und dazu noch zu um so größerem Schimpf für die Deutschen in dem Jahrhundert, in welchem Frankreich für Herstellung der Nationalitäten zu fechten vorgiebt? Verlust weiterer echt deutscher Landestheile wäre unter Östreich nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich gewesen; unter Preußen aber wird er unmöglich werden. — Übrigens nicht bloß etwas Gründliches über den Preuß.-Östreichischen Krieg, sondern noch viele andere gründliche Litteratur wäre mir erwünscht. Spyri hat mir einige Broschüren geschickt, die aber nur theilweise mich interessirt haben; es ist schwer, was ich wünsche, in wenigen Worten auszudrücken. Da Du übrigens ja schon früher einmal geschrieben, was für Geschenke man mir machen könne, so magst Du es einmal mit etwas deutscher Litteratur versuchen; daran, ob die Bücher mir gefallen oder nicht, mag sich bewähren, ob die Mutter den Sohn kennt. — Von der Familie Malcolm läßt sich wenig sagen; sie ist so einfach, daß Alles was ich sagen könnte, Euch nur gewöhnlich erscheinen würde. Oder interessirt Euch etwa, daß ich zur höchsten Ehre, die in diesem Lande von Seite einer Familie zu Theil werden kann, zu der eines compadre oder Gevatter gelangt bin? Meine Pathin ist ein 1½ Jahr altes blondes Mädchen,660Elisa Malcolm, *1865, war Christian Heussers Patenkind.schliessen das aber bis zur Stunde noch zu keinen zur Nachricht nach Europa werthen Ereignissen Veranlassung gegeben hat. — Und was endlich das Hotel Europa und verwandte Anstalten betrifft, so habe ich bei diesen trocknen Winden immer noch von Zeit zu Zeit eine trockne und durstige Kehle, und bin im Besuch der Löschanstalten, wie in Allem, conservativ; in dieser Beziehung um so mehr, als in dem Hotel Europa seit Jahren befreundete Besitzer waren: auf jenen alten Schweizer von Zürich folgte Flury, der nun nach 4 Jahren als reicher Mann zurückgeht, und auf Flury folgte hinwieder ein Bruder661Antoine Claraz, *1838 ging zuerst als Eisenbahningenieur nach Argentinien, führte dann während einiger Jahre das Hotel Europa in Buenos Aires und wurde schliesslich Verwalter der Güter seines Bruders Georges, als dieser nach Europa zurückkehrte.schliessen meines Freundes und Reisegefährten Claraz.

Dieser Flury nun ist der ältere Bruder jenes Flury, der Euch vor 5 Jahren besucht hat. Ich habe damals schon geschrieben, daß der ältere, wenn schon ein schlichter Arbeiter, mir besser gefiel als der jüngere, Kaufmann. Der ältere ist nicht bloß praktischer, sondern hat auch mehr Verstand; zudem ist er ehrlich, was bei den hiesigen Europäern, und speciell Schweizern auch nicht zu unterschätzen, und so kommt es daß ich trotz dem Unterschied in unserer ursprünglichen Bildung und Bestimmung, mit ihm jahrelange Freundschaft gepflegt und nächst Claraz wohl keinem Schweizer hier näher gestanden bin. Er wird Euch im Hirzel besuchen, und kann weitere Nachfragen nach meinem Lebenswandel mündlich beantworten.

Was mein Leben im Camp betrifft, so dreht sich dies hauptsächlich um drei Punkte: 1) wirkliche Vermessungs[S.3]arbeiten (langweilig und darum Nichts weiter darüber mitzutheilen), Reisen (schön und interessant, aber ich habe im einzelnen Fall immer darüber berichtet) und Aufenthalt auf meinen Besitzungen in Bahia Blanca und Patagones. Das letztere gehört mit zum Angenehmsten meines hiesigen Lebens: es ist an sich ein beruhigendes Gefühl auf eignem Grund und Boden aus und einzugehen, und außerdem bin ich dort mit Claraz zusammen, mit dem ich allein in dieser Argentinischen Republik ein vernünftiges Wort sprechen kann. Durch Flury schicke ich an Spyri die Kataster-Karte hiesiger Provinz, auf der die Ländereien um Bahia Blanca herum, die Claraz und ich theils schon wirklich besitzen, theils beanspruchen, roth angestrichen sind. Außerdem folgt ein ziemlich gut ausgeführter Plan unseres Etablissement in Patagones, so wie es nach einigen Jahren aussehen soll.

Die Rückreise Flury's nach Europa hat nebst dem in Deinem Brief ausgesprochenen Wunsch, mich noch einmal zu sehen, allerdings diese Frage lebhafter bei mir angeregt, als irgendein Umstand vorher. Ökonomisch könnte ich wohl für das folgende Jahr einen Besuch möglich machen, obgleich ich durch den Paraguay-Krieg, der für meine, wie Ihr aus der Karte sehen werdet, ziemlich groß angelegten Pläne, im allerungünstigsten Moment kam, in ziemliche Verlegenheit gebracht worden bin; allein es stehen andere Hindernisse entgegen. Was sollte ich in Europa anfangen, wenn mich, wie viele behaupten, jene Sehnsucht ankommen sollte, dort zu bleiben? Auch im günstigsten Fall, daß ich hier günstig verkaufen (wozu ich mich übrigens nicht leicht verstehen könnte, namentlich nicht zum Verkauf des Landes in Patagones) und sorgenfrei drüben leben könnte, was für ein Leben wäre das? ich kann mir vor der Hand keinerlei Thätigkeit denken, und wie ein pensionirter Beamteter oder Oficir herumzuspaziren ist mir einstweilen noch nicht möglich; noch viel weniger, bei dem Regiment, dessen Sturz ich mit Schadenfreude und Spannung entgegensehe,662Auf der Zürcher Landschaft nahm im Jahr 1867 die demokratische Opposition gegen das liberale Regime stark zu: vgl. B. Fritzsche und M. Lemmenmeier, Die demokratische Bewegung (1860-1869) in: Geschichte des Kanons Zürich III, S. 145-152.schliessen um irgend eine Anstellung nachzusuchen. Noch mehr: ich wäre gegenwärtig, sogar wenn diese Herren663"Diese Herren" umfasst in Heussers Sprachgebrauch Alfred Escher mit seinem Anhang, die an der Universität und am Polytechnicum das Sagen hatten.schliessen mir etwas anbieten oder mir irgendwie entgegen kommen würden, nicht fähig anders als mit Ingrimm und Malice zu antworten. Ich muß noch einige Zeit hier bleiben, und vor Allem mit Claraz den dritten Theil unserer Arbeit vollenden, und denselben nebst geologischer Karte veröffentlichen. Es wird derselbe den Abschluß eines Ganzen bilden, von dem die beiden ersten Theile in den Denkschriften der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft erschienen sind,664Chr. Heusser und G. Claraz, Beiträge zur geognostischen und physikalischen Kenntnis der Provinz Buenos-Aires, 2 Teile, in: Neue Denkschriften der Schweiz. Ges. für die gesamten Naturwissenschaften XXI (1865), S. 1-139.schliessen wovon Du freilich bei dem schon erwähnten Grenzcordon zwischen Zürich und Hirzel niemals etwas vernommen haben wirst. Der dritte Theil über Patagones ist jedenfalls der bedeutendste, und nach Allem was ich über die beiden ersten gehört, glaube ich wohl, daß ich mich nachher mit dem Ganzen anständigerweise bei jedem deutschen Gelehrten einführen kann, und damit ungefähr habe, was ich in Europa haben will. Die Arbeit ist allerdings noch nicht ganz reif; ich kann dafür keinen Termin stellen, da ich eben die Hauptzeit meinem Geschäft widmen muß; vielleicht geht es bis dann auch mit dem [S.4] gegenwärtigen Regiment zu Ende, und wenn nicht so kommt es mir vor daß ich, im Falle ich meine Arbeit ganz so wie ich will vollende, jenen Herren nicht mehr ingrimmig entgegen treten würde, sondern mit den versöhnenden Worten: "Ich danke Euch dafür, daß Ihr mich zu keinem Dank gegen Euch verpflichtet habt."

Im Laufe dieses, oder des nächsten Jahres, wird wahrscheinlich ein gewisser Herr Pelegrino Strobel,665Pellegrino Strobel (1821-1895) war Prof. für Mineralogie, Geologie und Zoologie an der Universität Parma und reiste 1864 nach Argentinien, wo er auf Einladung der Universität Buenos Aires während zwei Jahren beim Aufbau der Naturwissenschaftlichen Fächer mithalf. 1866 kehrte er nach Italien zurück.schliessen Professor in Parma, ein älterer Herr, der Deutsch spricht, Sohn eines Vorarlbergers, nach dem Hirzel kommen: Er war zwei Jahre hier in Buenos Aires, lehrte an der hiesigen Universität, ohne daß ich ihn kannte, und gieng zum Schluß vor seiner Abreise nach Europa nach Patagones, wo er Claraz kennen lernte. Nachher sah auch ich ihn einen Augenblick vor seiner Abreise. Er fand, was Claraz und ich schon im Jahr 1861 gefunden haben, nämlich Indianische Alterthümer, von großem wissenschaftlichem Interesse und schrieb darüber gleich nach Europa. Das Wenige, was wir hier haben, sah er mit Interesse an, und wenn er nach dem Hirzel kommt, wünsche ich, daß ihm alle jene Kisten und Kistchen, die ich vor Jahren schon dort gut zu verwahren Auftrag gab, geöffnet werden, ohne allen Rückhalt. Zwar wird es immerhin gut sein, wenn er nie allein gelassen wird: denn näher kenne ich den Mann nicht, und Gelehrte haben oft den unwiderstehlichen Drang zu stehlen, und glauben sogar damit noch ein gutes Werk zu thun.

Die Nachrichten aus Metas Brief verdanke ich, namentlich die, daß ich einen Neffen Heinrich Heusser666Heinrich Alfons Heusser (1862-1902) war der 2. Sohn von Theodor und Regina Heusser-Flugi. Vgl. R. Schindler, Memorabilien, Stammbaum der Nachkommen von Pfarrer Kaspar Gessner.schliessen habe, von dessen Existenz ich wahrhaftig bis jetzt nichts gewußt habe. Dagegen bezeuge ich hiemit durch Mamas Brief von dem ins Lebentreten einer Nichte Anna Ulrich667Anna Ulrich (1866-1920) war das jüngste Kind und die einzige Tochter von Anna (Netti) und Friedrich Salomon Ulrich-Heusser. Vgl. R. Schindler, Memorabilien, Stammbaum der Nachkommen von Pfarrer Kaspar Gessner.schliessen in Kenntniß gesetzt worden zu sein; von Netti selbst oder Ulrich weiß ich Nichts, habe mich übrigens schon früher zur Gevatterschaft angeboten. Durch Flury will ich eine Photographie schicken, aber nicht mehr als Eine, für den Hirzel; wenn ich sämtlichen Geschwistern keine schicke, so können sich Frau Meier und Aeberle, die ich übrigens beide zu grüßen bitte, nicht beklagen. — Ich hoffe, daß Tante Regeli den Winter glücklich überstanden habe, und sich in der gegenwärtigen Frühlingsluft von Europa stärke —

Mit Grüßen an Alle
Chr.


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