Brief Nr. 93 – 25.5.1865
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93 25.5.1865
Buenos Aires 25t. May 1865
Liebe Mama, Tante Regeli und Geschwister!

Es liegen mir zwei Sendungen von Briefen von Euch zur Beantwortung vor, die vom 9t. November und die von Ende Februar und Ende März. Die ersteren habe ich kurz vor meiner Reise nach dem Rio Colorado erhalten, und hatte darum damals nicht Zeit, sie zu beantworten. Ich will also jetzt Punkt für Punkt darauf eingehen. Die Photographien haben mich sehr gefreut; auch ist das Alter Eurer Bilder noch nicht so greisenhaft, wie man nach dem Briefe glauben sollte; im Gegentheil scheinen sich noch Alle ziemlicher Gesundheit zu erfreuen. — Was jene beiden Freunde Roggenbrod und Sonderegger betrifft, so war der erstere immer ein eigner Kerl, dem ich nie näher stand, der Name Sonderegger dagegen ist eine meiner liebsten Erinnerungen an die Studenten-Jahre in Zürich. Was Du mir über ihn schreibst war mir ganz neu und die freudigste Überraschung, die mich in America noch getroffen. Dies entschädigte mich für manche frühere schlimme Nachricht und benahm mir eine gewisse Gleichgültigkeit, in die ich verfallen war mit Beziehung auf Alles, was zu Hause vorfällt. Daß es auch in der Schweiz noch unabhängige Leute giebt, die nicht den Götzen des Tages opfern, erinnert mich daran, daß man, um trivial zu sprechen, nicht das Kind mit dem Bade ausschütten muß. Wenn ein Gewisser638Mit dem "Gewissen" dürfte Alfred Escher gemeint sein.schliessen nicht wäre, und wenn überhaupt die großen Herren an der Eidgenössischen Anstalt sich aus ihrer Engherzigkeit herausdenken könnten, und nicht glauben würden, ich suche etwas, so würde ich das ganze reiche Material, das allerdings noch großentheils unbearbeitet, vor mir liegt, nach Zürich schicken. —

Um nun zu einem etwas andern Punkt überzugehen, so schreibt [S.2] Ega wiederholt von den eingemachten Früchten. Wenn ich nicht irre, habe ich schon darauf geantwortet; indeß auch auf Gefahr zweimal dasselbe zu sagen, will ich das Zeugniß geben, daß Alles ganz gut gemeint und gemacht war, aber am Verpacken scheiterte. Die Engländer haben dazu eigene irdene Töpfe, die man auf dem Continent kaum kennt; daher will ich auch auf weitere dergleichen Sendungen verzichten. —

Die Briefe von Ende Februar und Ende März sind der Geschichte gewidmet, die vergessen sein soll und vergessen ist;639Heussers ungeschickter Kommentar zu Egas Verlobung mit Rudolf Schneebeli.schliessen darum will ich auch nicht weiter darauf eintreten. Nur Eines noch: meine Beschreibung der letzten Reise, die mit dem letzten Packet abgegangen, werdet Ihr erhalten haben; in derselben komme ich noch auf eine vorjährige Reise zurück und sage, daß ich jene damals nicht niedergeschrieben, weil ich bei meiner Rückkunft nach B. A. Nachrichten fand, die mir die Sprache abschnitten. Da Ihr in Euren Briefen von Allem Nichts wissen wollt, will ich Euch noch sagen, was damit gemeint ist: Damals640Vgl. in Brief Nr. 87 den Nachtrag vom 3. 5. 1863.schliessen war Flury641Flury, (Vorname??) war als Kaufmann in Buenos Aires tätig und besuchte während seiner Europareise 1862 auch Heussers Familie im Hirzel. Vgl. Brief Nr. 97 (7. 4. 1867).schliessen zurückgekommen und sagte mir, Ihr habt ihn gefragt, ob etwas an dem Gerücht wahr sei, daß ich katholisch geworden. Daß gute Freunde solche Gerüchte ausstreuen, geht mir nicht nahe, aber daß Ihr auch nur entfernt daran glauben konntet, war allerdings etwas stark.

Jene Frage nach den großen Patagoniern findet Ihr im vorigen Briefe nicht beantwortet; daher will ich hier noch sagen, daß das Gerücht grundfalsch ist. Wahrscheinlich hat es seinen Grund in Folgendem: die meisten Stämme der hiesigen oder Pampas-Indianer sind ganz kleine, dicke, untersetzte Leute, fast den Eskimos ähnlich. Jener südliche Stamm soll unter diesen Pampas-Indianern auffallend große Leute aufweisen; indeß übertreffen sie an Größe kaum irgendeinen mittle[S.3]ren Europäischen Menschenschlag. — Vielleicht werde ich eine etwa 4 bis 5 Quadrat-Legoas große Insel in Patagones, der Mündung des Rio Negro gegenüber in Besitz nehmen, nicht um mich als Robinson Crusoe dahin zurückzuziehen, sondern bloß um etwas Vieh dorthin zu bringen und dort sich vermehren zu lassen.

Immer sehr beschäftigt, muß ich schließen; mit besten Grüßen Euer:
J. Ch. Heußer


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