Brief Nr. 90 – 11.11.1864
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90 11.11.1864
Buenos Aires 11t. November 1864
Liebe Mama, Tante Regeli, Ega und Meta!

Der heutige Tag, oder Martini627An Martini fand der grosse Herbstmarkt statt, war aber auch Zinstag, an dem die Bauern ihren Pachtzins abliefern mussten.schliessen von Zürich, der manchem armen Bauern Angstschweiß macht, veranlaßt mich zu diesen Zeilen: Zwar ist nicht gerade der Angstschweiß die Ursache (wenigstens nicht unmittelbar, ich komme übrigens darauf zurück), sondern ganz allgemein die Erinnerung an einen im Verkehrsleben von Zürich wichtigen Tag verbunden mit dem Umstand, daß der Brief, den ich heute schreibe und morgen mit dem französischen Packet absende, Euch wahrscheinlich gerade auf die Weihnachts-Tage zukommt. Was die allgemeinen Erinnerungen betrifft, so war eben meine erste Jugend so ganz mit dem Zürcherischen Volksleben verwachsen, daß das ganze Treiben des Marktes (jetzt mag es freilich etwas anders sein) und die schmutzige, gekrümmt umhergehende Bauernwelt gerade so lebhaft vor mir steht, als die ersten Schulstunden in Zürich unter meinem geliebten Sauppe. Alle dergleichen Erinnerungen, ob sie nun gerade für Briefe geeignete Gedanken zu erwecken im Stande sind oder nicht, erwecken in mir wenigstens das Bedürfniß mich mit Leuten der Heimath, seien es nun Freunde oder Verwandte, zu unterhalten: hat sogar der Ustertag 1863,628Jahresfeier zur Erinnerung an den Ustertag von 1830, an dem sich die Landbevölkerung zum Protest gegen die Vorherrschaft der Stadt versammelt hatte.schliessen obgleich derselbe mir und uns Allen in seinen Folgen nicht gerade süße Früchte brachte,629Anspielung auf die Spannungen zwischen den politischen Lagern in Zürich, die sich auch für Christian Heusser ungünstig ausgewirkt hatten.schliessen mich damals zu einem langen Brief über Auswanderung an Widmer veranlaßt, der freilich ohne Folgen geblieben ist. — Und was den Umstand betrifft, daß ein Brief, heute geschrieben, Euch auf Weihnachten zukommen kann, so scheint mir derselbe geeignet zu sein, noch einmal die Correspondenz aufzunehmen, die der Reihenfolge nach nicht mir zukäme. Ich habe in den ersten Monaten dieses Jahres (ich glaube im März) jene Briefe beantwortet, in denen mir die Verlobung Egas mit Schneebeli angezeigt war. Diese meine Antwort hat, wie mir Spyri wörtlich schreibt, ziemlich Heerd aufgeworfen630"Heerd aufgeworfen" im Sinn von "Staub aufgewirbelt", d.h. "für Aufregung gesorgt".schliessen und diesem Umstande habe ich es wahrscheinlich zuzuschreiben, daß ich bis zur Stunde noch keine Antwort erhalten habe. Hier ist jedenfalls Mißverständniß im Spiel, und um das Mißverständniß zu lösen greife ich heute noch einmal zur Feder; wenn dieser Brief aber wieder nicht beantwortet wird, sicher zum letzten Mal. Die Form des letzten Briefes mag etwas rauh gewesen sein, ich gebe es zu; ich habe nicht viel Zeit auf Briefschreiben zu verwenden, namentlich nicht auf deren Form. Wenn ich Briefe zu beantworten habe, so setze ich mich in irgend einem unbeschäftigten Augenblick hin, und schreibe [S.2] drauf los, bis der Brief fertig ist, manchmal sogar ohne den Brief noch einmal zu durchlesen. Was den Inhalt jenes Briefes betrifft, so bin ich heute noch derselben Meinung, wie damals, nur daß ich heute die Frage in eine allgemeinere, ich möchte sagen, philosophische Form kleiden will. Ich habe seither von Zürich aus folgendes Buch erhalten und gelesen, oder vielmehr verschlungen und studirt: Ch. Darwins Lehre von der Entstehung der Arten im Pflanzen- und Thierreich, dargestellt von Dr. Friedrich Rolle. Frankfurt 1863. Ich empfehle Euch dasselbe zum Lesen; wenn auch einige Einzelheiten Euch unverständlich sein werden, so glaube ich, daß Ihr wenigstens den Grund-Gedanken verstehen werdet. Namentlich empfehle ich das Capitel: "Vom Kampf ums Dasein und der natürlichen Auslese." Was Darwin631Darwins Lehre kommt Heusser gelegen, indem er hier seine zuvor recht verletzend formulierte Ansicht über Schneebelis Berufsziel und Egas Hoffnung, einen Pfarrer statt eines Schullehrers zu heiraten, abschwächen und auf eine eher theoretische Ebene hinüber schieben kann.schliessen von der Lebewelt im Allgemeinen sagt, gilt glaube ich ganz speciell und in vollem Maaße vom Menschen. Die Haupt-Waffe aber im Vernichtungskrieg des Menschen gegen den Menschen ist das Geld. Wer gedankenlos sich verheirathet, bloß um tierischen Trieben zu folgen, (das ist natürlich ganz allgemein gesprochen, nicht auf den speciellen Fall berechnet) und nicht jene Waffe zur Seite hat, der wird entweder selbst untergehen im Kampf ums Dasein, oder aber eine Generation erzeugen, die eher rückwärts geht als vorwärts, während eine allmälige Vervollkommnung Zweck der Schöpfung ist. Wer dagegen, wenn er sich verheirathet, mit jener Waffe ausgerüstet ist, der kommt damit dem Schöpfungs-Plan selbst entgegen und wird eine Generation erzeugen, die, wenn auch unmerkbar langsam in der allmäligen Entwicklungs-Reise doch vorwärts geht und nicht rückwärts. Das Alles versteht das Englische Volk instinktmäßig; von den Engländern wird eine Ehe, die nicht von Anfang an auf sicherer ökonomischer Grundlage steht, ungefähr so angesehen, wie ein Baum, der auf steinigem Erdreich gepflanzt, oder ein Ding, das von vorn herein zum Untergang bestimmt ist. Eine Englische Ehe aber, die von Anfang an auf das gute Erdreich gesehen oder die Waffe scharf bereit gehalten hat, wird aber keineswegs nachher die guten Seiten der ganzen Erde in sich zu verschlingen suchen, sondern nur so viel als zur Ziehung guter Früchte nothwendig ist; sie wird die Waffe nicht zum Vernichtungs-Krieg gegen die benachbarte Welt, sondern nur zur Selbst-Erhaltung anwenden; sie wird nicht geizig sein, sondern im Gegentheil die gezogenen guten Früchte austheilen mit einer Freigebigkeit und Gutherzigkeit, wie andere Nationen davon sich kaum eine Vorstellung machen können. — Dies zur Erklärung jenes "Englisch" im vorigen Brief. Gegen das Auseinander-Gesetzte werdet Ihr nun die Erfahrungen aus unserer Jugend, aus unserer eigenen Familie einwenden. Das schlägt mich nicht; dagegen läßt [S.3] sich viel einwenden vor Allem eben das, daß jene Waffe nicht zum Vernichtungs-Krieg sondern bloß zur Selbst-Erhaltung angewendet werden soll. Ich will aber nicht weiter mich darauf einlassen, sondern lieber noch zu einer praktischen Nutz-Anwendung übergehen. Mir geht es hier gut, es geht langsam immer etwas vorwärts; wenn ich nicht bloß an die Selbst-Erhaltung gedacht, sondern seit einigen Jahren den Vernichtungskrieg gegen die Neben-Welt unternommen hätte, so könnte ich zur Stunde wohl schon sorgenfrei nach Europa zurückkehren. Immerhin aber stehe ich so, daß ich Schneebeli und Ega unterstützen und auf einen sicheren Weg bringen kann, wenn sie hieher kommen wollen, während ich im Anfang des Jahres noch etwas beengt war. Für den Fall aber, daß sie nicht kommen wollen, schlage ich der Ega vor, mir ihr Geld zu schicken, oder wenigstens einen Theil desselben; ich kann ihr mit Sicherheit mindestens den doppelten Zins versprechen, von dem, den sie in Europa erhält. Die hiesige Bank zahlt 8 bis 9 ?Was die Sicherheit betrifft, so kann mir ja z.B. die Ega eine Summe schicken gleich derjenigen, die ich im Geschäft von Brennwald stecken habe, und als Hypothek dies mein bei Brennwald liegendes Eigenthum nehmen. Nun ist allerdings auch möglich, daß Brennwald und ich zu gleicher Zeit verlumpen; dieser Fall ist aber sehr unwahrscheinlich: Brennwald scheint mir ein sehr vorsichtiger Kaufmann zu sein, und meine finanzielle Lage hängt nicht, wie die eines Kaufmanns von andern Häusern ab, die jeden Augenblick verlumpen können; meine Spekulation geht auf Land, das mir Niemand wegnehmen kann, das aber im schlimmsten Fall lange werthlos bleiben kann, weil den Einfällen der Indier ausgesetzt. Übrigens werde ich das Geld der Ega, wenn sie welches schickt, nicht in meine Spekulationen hineinziehen, sondern ganz ruhig hier auf die Bank tragen, wo man es jeden Augenblick zurückziehen kann. Diesmal schreibe ich nicht, das könnt Ihr mir glauben, wie vor 5 Jahren, im eignen Interesse, sondern im Interesse der Ega. Wo, wie es im vorliegenden Falle wahrscheinlich ist, das Geld ziemlich knapp ist, da scheint es mir doch rathsamer, bei derselben Sicherheit 8% statt bloß nur 4% sich zu sichern. Das einzige Bedenken, das mit einigem Grund dagegen scheint erhoben werden zu können, ist die Verlegenheit der Bauern, wenn ihnen das Capital gekündet wird. Übrigens könnt Ihr ja glaube ich mit Hinterlegung der Briefe Geld zu billigen Zinsen von den Banken oder Sparnißkassen ziehen. Das Alles überlegt mit Eurem finanziellen Beiständer, und wenn Ihr keinen habt, so wendet Euch voller Vertrauen an Brennwald, der Euch Alles besorgen wird.

[S.4] Von mir selbst weiß ich wenig zu schreiben. In den Monaten März bis Juni hatte ich eine interessante Reise nach Patagones gemacht, über die ich aber schon in mannigfachen Briefen ausführlich nach Europa berichtet. Ich kann unmöglich noch einmal darauf zurückkommen. Juli und August brachte ich unter den alten stereotypen Verhältnissen, die ich früher schon geschildert, in B. A. zu, September und October wieder draußen auf dem Camp, aber nicht sehr weit, wo ich Nichts Neues gesehen, sondern nur meine Waffe zur Selbst-Erhaltung etwas schärfer geschliffen. Gegenwärtig rüste ich mich wieder zu einer größeren Reise nach Bahia Blanca und Patagones, von wo ich kaum vor März oder April zurück sein werde. Weihnachten und Neujahr werde ich wohl in Bahia Blanca zubringen, entweder auf dem Camp mit Arbeiten beschäftigt, in welchem Fall solche Tage ganz spur- und erinnerungslos vorüber gehen, oder vielleicht in der angenehmen und liebenswürdigen Familie des Italiäners Caronti, von dem ich früher schon geschrieben. — Von Zürich habe ich durch Mousson die erfreuliche Nachricht bekommen, daß endlich einmal unsere (Claraz's und meine) Arbeiten zum Druck kommen sollen;632J. Chr. Heusser und G. Claraz, Beiträge zur geognostischen und physikalischen Kenntnis der Provinz Buenos-Aires, 2 Teile, in: Neue Denkschriften der Schweiz. Ges. für die gesamten Naturwissenschaften XXI (1865), S. 1-139.schliessen es ist jetzt mehr als zwei Jahre, seit ich die erste hinübergeschickt. Der dritten und letzten denken wir eine geologische Karte beizugeben, deren Druck wohl meine Anwesenheit in Europa nothwendig machen wird; wenn es daher die Ökonomie erlaubt, so werde ich wohl innerhalb einer nicht allzu langen Frist einmal einen kurzen Besuch in Europa machen. — Bis dahin gehabt Euch wohl, und grüßt mir, wer mit wirklichem Interesse nach mir frägt, so denke ich in erster Linie immer noch Pfr. Wild, wenn er nicht etwa durch meinen vorigen Brief auch sich beleidigt fühlt.

Euer: Chr. Heußer

NB. Nächstens werden eine Menge Sachen ankommen, zur Aufbewahrung im Bäuli bestimmt. Näheres habe ich darüber bereits an Hanni geschrieben.



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