Brief Nr. 8a – 23.9.1848
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8a 23.9.1848
[23. September 1848]

Allein zu lesen

Über den zweiten Theil meiner Reise, von Barmen an, muß ich noch Einiges speciell an Euch hinzufügen. Von Barmen selbst zwar weiter Nichts; die Leute sind dort zu fromm und zu reaktionär, in höherm Grade, als an allen frommen Orten, wo ich nun hinkam; mit Ausnahme des letzten Pastor Menken. In Barmen wurde ich veranlaßt nach Meurs zu gehen, was ich nicht im Sinn hatte, aber Frau Klein setzte an mir an, bis ich ihr versprach hinzugehen; sie sagte nämlich ihre Schwester116Die Schwester Anna Zahn-Schlatter litt an Depressionen. Zu den Familienverhältnissen vgl. den Stammbaum der Familien Schlatter-Bernet bei R. Schindler, Memorabilien. Zu den Freundschaftsbeziehungen zwischen den Schwestern Schlatter und Meta Heusser vgl. ebenda, passim; zu Anna Zahn-Schlatters Krankheit vgl. Joh. Ninck, Anna Schlatter und ihre Kinder, 2. Aufl. Leipzig 1935, S. 153, und R. Schindler, Memorabilien, Stammbaum der Familie Schlatter-Bernet.schliessen befinde sich wieder ganz wohl, und da gieng ich denn gutes Muthes hin, kam übrigens gerade so zur Unzeit, wie es manchmal im Hirzel geschieht, nur daß am Ende Seminardirektor Zahn ein gebildeter Mann ist. Jedenfalls fand ich das Verhältniß nicht so, wie Frau Klein es dargestellt, hatte aber dabei Gelegenheit, dasselbe ziemlich zu durchblicken. Glücklicherweise kam ich eines Abends (das war Samstag) so spät nach Meurs, daß ich Anstands halber jenen Abend nicht mehr zu Zahns gehen konnte, sondern im Wirthshaus blieb. Am folgenden Morgen gieng ich dann nach der Kirche zu Zahns hin und meldete mich bei Zahn mit der Bemerkung, daß ich von Barmen, nicht von Hause aus hergeschickt sei. Zahn sehr freundlich sagte pro forma, wie ihn mein Besuch freue, aber gerade an jenem Tage sei seine Frau so aufgeregt, daß er mich erst den folgenden Tag ihr vorstellen wolle; ich solle unterdeß bei seinen Söhnen bleiben, die sämtlich zu Hause waren. (Johannes,117Johannes Zahn (1829-1905), der älteste Sohn, half dem Vater bei der Leitung des Grossbetriebs in Moers.schliessen der Philologie studirt hat, hilft dem Vater, der außer dem Seminar noch ein großes Privatinstitut hat, Franz ist als Zögling im Seminar u.s.w.) Plötzlich marschirt ab[er] Frau Zahn ins Zimmer hinein, und Herr Zahn stellt mich ihr als einen Badenser vor; bald geht es zum Mittags-Tisch, der von ungefähr 25-30 Personen besetzt war. Fr. Zahn wollte immer ein Gespräch über schweizerische Angelegenheiten auf den Damm bringen, Zahn suchte abzulenken; endlich sagt sie, ich sehe einem Freunde von ihr "Jakob Heuser" so ähnlich, ob ich nicht verwandt sei u.s.w. Da sagte Zahn die Wahrheit, und sie brach in Weinen aus. Nach dem Essen wollte sie mich mit 1'000'000 Fragen überschütten, Zahn meinte, sie solle sich für jenen Mittag etwas zur Ruhe begeben und mich dann den folgenden Tag auspumpen, so viel sie wolle. Als sie mich dann noch einen [S.2] Augenblick allein sah, sagte sie, ich werde an solche Auftritte gewohnt sein, solle mich aber nicht einschüchtern lassen, und ihr Morgen gehörig zur Rede stehen, für heute wolle sie also darauf verzichten. Nachmittags spazirte ich also mit den Söhnen, und besah mir ihre Landwirthschaft, sie haben 9 Kühe und 5 Pferde, Schaaf- Gänse und Hühnerheerden und entsprechend viel Land, so daß ich jedenfalls kaum begreifen konnte, wie Zahn neben Seminar und Privatinstitut allem dem vorstehen kann; der Sohn Johann ist unstreitig ein gescheidter Kerl, hat aber für mich nicht das mindeste Anziehende, was wahrscheinlich auch bei mir ihm gegenüber der Fall ist, denn wir waren sehr kalt und trocken. Gustav Röhrig, den der Hr. Joh. Zahn auch etwas von oben herab anzusehen scheint, wollte ich jedenfalls viel lieber. Den folgenden Morgen nahm mich dann Frau Zahn für sich in Anspruch; ich war mehrere Stunden mit ihr allein und begriff dann den Ausdruck "auspumpen", den Hr. Zahn gebraucht hatte. Eine Unmasse von Fragen über Dich und Alles was nah oder ferne Deine ganze Familie berührt, von denen ich nicht den zehnten Theil beantworten konnte; Deine Lage scheint sie mehr zu fassen, als ich es bei irgend Jemand bis jetzt noch fand, und hat auch ungeheueres Mitleiden; bei dem Anlaß schenkte ich ihr klaren Wein ein und sagte ihr, was für ein Unsinn es gewesen, daß sie vor einigen Jahren habe zu uns kommen wollen; darauf antwortete sie, sie hätte geglaubt Dir etwas helfen zu können; darauf rückte sie mit ihrer Verrücktheitsgeschichte heraus und erzählte mir Folgendes: Es sei durch irgend etwas, das sie nicht näher bezeichnete, das gute Verhältniß zwischen ihrem Mann und ihr gestört worden, in Folge dessen sie etwas angegriffen und leidend geworden sei; darauf hätten Verleumdungen andrer Leute, als sei sie verwirrt, bei ihrem Mann leicht Eingang gefunden und sie sei nach Bonn in eine solche Anstalt spedirt und 11 Monate lang dort gelassen worden; Sie sei ganz gleich geblieben, nur habe sich dadurch das üble Verhältniß zu ihrem Mann gesteigert, und sie habe auch seitdem kein rechtes Zutrauen mehr zu ihm bekommen. Dazu kommt dann, ich glaube im An[S.3]fang der Geschichte jene Reise nach St.Gallen mit der Absicht in den Hirzel zu kommen. Jetzt langweilt sie sich in Meurs, denn von dem ganzen ungeheuren Geschäft ist ihr rein Nichts übergeben. Sie darf weder in der Haushaltung, noch sonst irgend etwas anordnen, ich glaube nicht einmal den Tisch decken. Von Verrücktheit fand ich keine Spur, hingegen fand ich sie durch dies gespannte Verhältniß zu ihrem Mann, durch diese Unthätigkeit, und durch eine in Folge dessen eingetretene ungeheure Sehnsucht nach der Schweiz und ihren dortigen Bekannten, in einen Zustand eigenthümlicher Aufgeregtheit versetzt. — Was diesen Punkt betrifft, daß sie Nichts regieren darf, sagte sie mir noch, wie nöthig ihre Hülfe wäre und gab zu verstehen, daß Zahn sich etwas zu weit eingelassen und seine ökonomische Lage nicht grade glänzend sei; Zahn dagegen sagt mir über diesen Punkt, daß er sie an Nichts sich beteiligen lasse, weil sie früher, sich auf die Bibel stützend, gegen Arme habe Communismus üben wollen, mehr als es in ihrer Lage möglich sei. — So steht es; wenn Du irgend wie kannst, so möchte ich ihr eine Antwort von Dir gönnen, denn eine solche Anhänglichkeit oder wie sie es nennt Liebe im Herrn hätte ich mir nicht vorgestellt; trotz dieser Liebe im Herrn habe ich sie in religiösen Dingen ebenfalls vernünftiger gefunden als die in Barmen.

Am folgenden Morgen früh verreiste ich dann, will aber von Bremen nichts schreiben, da ich doch an Tante Wichelhausen dann etwas be[S.4]richten muß. Von den dortigen frommen Leuten haben mir einige sehr wohl gefallen und zwar gerade auch Frau Pastor Noltenius und die Pathin selbst; nur das ärgerte mich, daß ich überall vom ersten Augenblick an auch als fromm gehalten wurde, und aus tausend Gründen nicht sagen konnte: Ihr irrt Euch in mir. Das Geschenk von Frau Pathin war übrigens 50 Thlr. in Gold, nicht wie ich an Papa schrieb, 30; es ist wohl besser so, wenn Ihr übrigens wollt, könnt Ihr auch 50 lesen. — Sobald dieser Brief gelesen und Geld bewilligt ist, so schreibt sogleich, daß ich fassen kann; wenn der Brief übrigens zu früh kommt, so könnt Ihr ihn auch noch liegen lassen, nur schreibt das nächste Mal, bis wann wieder ein Brief von mir erwartet wird. Sagt doch Fisch, daß er mir, wo möglich noch vor dem Beginn der Collegien (20t. October) antworten solle; und endlich schickt mir sicher jene Bücher, falls Kubler nicht kommt.

Euer: J. Chr. Heußer, stud.

NB. Frau Zahn wollte daß ich ihren Brief gleich von Meurs oder Duisburg aus abgehen lassen solle, was ich zwar versprach, aber doch für unnütz hielt, da er nichts Pressantes enthält; dies für eine allfällige Antwort!



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