Brief Nr. 89 – 31.1.1864
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89 31.1.1864
Buenos Aires 31t. Januar 1864
Liebe Mama, Tante Regeli, Ega und Meta!

Eure Briefe von Anfang October komme ich erst heute zu beantworten, weil ich erst vor etwa zehn Tagen von einem zweimonatlichen Aufenthalt im Camp zurückgekommen bin. Ich will gleich auf den Hauptgegenstand derselben eingehen, Egas Verlobung. Gegen den neuen Schwager622Rudolf Schneebeli (1832-1865) war seit 1854 sehr beliebter Schulverweser und Leiter des gemischten Chors im Hirzel. Seine Liebe zu Ega entwickelte sich über längere Zeit hin und fand die volle Sympathie der Familie. Mit seiner vorschnellen Vermutung, Schneebeli wolle aus Prestige-Gründen noch Theologie studieren, lag Heusser falsch. Damit verärgerte er die ganze Familie, was umso tragischer war, als Schneebeli schon krank war und im November 1865 auf dem Hirzel an Schwindsucht starb. Vgl. M. Heusser, Hauschronik, S. 113-117, und R. Schindler, Die Memorabilien, S. 39f. und S. 137f.schliessen habe ich Nichts einzuwenden; ob er reich oder arm, vornehm oder gering ist, darauf kommt es mir nicht an; über Reichthum und Geburt geht Charakter und Verstand und da Ihr Alle diese beiden Eigenschaften bei ihm gefunden zu haben glaubt, so soll er auch mir willkommen sein. — Wohl zu unterscheiden von der Person ist aber das vorliegende Projekt, das ich kurz gesagt für Unsinn halte. Etwas schroffer mögen meine 7 Jahre Amerika-Leben dies Projekt auffassen lassen; aber ich glaube schon in Europa hätte ich meinen Beifall dazu nicht gegeben. Daß Schneebeli lieber Pfarrer als Schulmeister sein möchte, glaube ich ganz gern; aber ich glaube nicht, daß er aus einem innern, nicht zu bezwingenden Drang, dies Studium der Theologie an Hand genommen hat. Ich glaube, der erste Gedanke dazu kam Schneebeli durch seinen Umgang mit Herrn Pfr. Wild, was an sich ganz schön und recht ist; gereift wurde dieser Plan durch den weiteren Gedanken damit die Ega erringen zu können und zum festen Entschluß wurde er wahrscheinlich schließlich damit, daß Ega sagte, ich will keinen Schulmeister, sondern einen Pfarrer. Von Anfang bis zum Ende mag außerdem noch der Einfluß der Mama bedeutend mitgewirkt haben. Schon durch meine Erfahrungen in der Studentenzeit war ich zu der Ansicht gekommen, daß es ein Unsinn sei, wenn ein Student sich verlobe (je weiter der Student vom Examen und von einer Stellung im praktischen Leben entfernt, um so größer der Unsinn, und im vorliegenden Fall haben wir noch nicht einmal den Studenten) aus zwei Gründen: erstens zieht ihn der abnorme Zustand vom Studium ab, und zweitens lernt der holde Jüngling im Lauf der langen Brautschaft so viele andere Mädchen kennen, daß er in 9 von 10 Fällen schließlich die erste über Bord wirft, wovon wir ein Beispiel nicht weit zu suchen brauchen.623Diese Anspielung auf eine geplatzte Verlobung im Bekanntenkreis der Familie lässt sich nicht aufschlüsseln.schliessen So ist die Sache unter den günstigsten Verhältnissen, d.h. wenn Braut und Bräutigam jung sind. Im vorliegenden Fall wird die Sache noch viel schlimmer durch das vorgerückte Alter beider. Ich will einmal die Zeit berechnen, in der Schneebeli unter den günstigsten Verhältnissen Pfarrer werden kann. Angenommen er könne schon mit dem Sommersemester des laufenden Jahres die Universi[S.2]tät beziehen, so wird er doch kaum vor 4 Jahren das theologische Staats-Examen in Zürich machen und kaum vor 5 Jahren Pfarrer sein können. Und wie alt wird Ega nach 5 Jahren sein? Wir haben im vorliegenden Fall nicht bloß die gewöhnliche, dumme Studenten-Braut-Geschichte sondern eine Sünde gegen die Natur, und die soll begangen werden, damit ja einmal eines der 6 Geschwister seine Tage in einem Landpfarrhaus verleben könne. Die Meta kann ja immer noch einen Pfarrer suchen, und wenn sie keinen kriegt, so ist es besser, daß unsere ganze Familie auf jenes immerhin zweifelhafte Glück eines Landpfarrhauses verzichte, als daß ein Glied derselben das Opfer werde einer durch und durch unpraktischen, ungesunden ächt Deutschen Idee. Die Engländer sind groß, weil sie das Leben auffassen, wie es ist, und den Menschen als ein Geschöpf der Natur betrachten, das von den Gesetzen derselben abhängig ist, und nicht in dummer Schwärmerei sich über dieselben wegsetzen kann.624Dass Heusser hier genau so von Clichés, wenn auch andern, beeinflusst ist wie seine Familie, sieht er nach der langen Abwesenheit von zu Hause zu wenig.schliessen Ich komme daher zu folgendem Schluß:

Entweder sollen die Betreffenden sogleich oder wenigstens bald heirathen, und die Ega soll, wenn sie den Schneebeli haben will, sich nicht schämen, ehrbare Schulmeisterin im Hirzel, oder weiß Gott wo, zu werden. In sehr viel kürzerer Zeit könnte ja Schneebeli Sekundarlehrer, als Pfarrer werden und so viel ich weiß sind die Sekundarlehrer im Kanton Zürich ökonomisch nicht mehr viel schlimmer dran, als Landpfarrer, so daß sich mit einem Sekundarlehrer-Gehalt, mehr dem Zins von 30'000 Frk. ganz gut leben ließe.

Oder, wenn durchaus Theologie studirt sein muß, so sollen sie nur wenigstens sich nicht förmlich verloben und die Verlobung öffentlich bekannt machen, sondern ganz ruhig jedes seinen Weg gehen und abwarten, was im Lauf der 5 bis 10 Jahre kommen wird.

An Schneebelis Stelle würde ich freilich weder das "Entweder" noch das "Oder", sondern noch etwas ganz Anderes ergreifen, ich würde nach Süd-Amerika gehen und vierbeinige Schaafe hüten. Dies soll aber nicht ein Rath sein, sondern ist bloß ein der Überlegung werther Gedanke. Die Ausführbarkeit hängt ganz von der Persönlichkeit Schneebelis ab, die ich zu wenig kenne. Aber wenn er außer dem Verstand nur einiges Geschick für das praktische Leben hat, so sollte er hier in 10 Jahren bei nur mittelmäßigem Glück sich ein Vermögen ersparen können, das hinreichen[d] wäre, um nachher ein sorgenfreies Leben in Europa führen zu können. Die 30'000 Frk., die Ega hat sind allerdings ein etwas kleines Capital, um hier anzufangen, namentlich, wenn Heiraths-Unkosten und Reise noch davon abgezogen werden sollten. Aber hat denn der Schneebeli gar Nichts, soll die ganze Theologie auf Rechnung der Braut studirt werden? [S.3] Außerdem glaube ich, daß wenn Schneebeli wirklich ein solider Kerl ist, er auch etwas Geld auf Credit bekommen müßte. Wie schon oft und bei verschiedenen Gelegenheiten bemerkt, kenne ich kein Geschäft, das bei mittelmäßigem Glück, solchen Gewinn verspricht, wie das Hüten von Schaafen und Vieh in hiesigen Ländern. Geld könnte ich selbst, wenigstens vor der Hand, nicht versprechen, da ich mich in manigfaltige Spekulationen eingelassen habe, von denen die größte auf Ländereien gerichtet ist, die noch sehr von Indianern bedroht sind,625An dieser Stelle spricht Heusser erstmals von den Ländereien, die er sich im Lauf der Jahre bei Bahia Blanca und in Patagonien erwarb.schliessen wo ich Schneebeli und Ega nicht hinschicken könnte. Dagegen könnten sie wenigstens auf meinen Rath zählen, der als das Resultat einer Erfahrung wie sie wenige Fremde hier besitzen, nicht zu verachten ist. Das Lehrgeld, das alle Europäer in Süd-Amerika bezahlen, und das Viele sehr theuer zu stehen kommt, könnte, wie ich glaube bei Schneebeli auf ein Geringes reduzirt werden. —

An die Mad. Gross-Legler erinnere ich mich ganz gut und benutze gern die Gelegenheit, sie grüßen zu lassen, so wie deren Tante Vré.

Damit scheinen mir im Wesentlichen jene Briefe von Anfang October beantwortet zu sein und ich muß noch zurückgehen auf einen frühern Brief vom 28. Juni mit der Nachricht von Nanys Tode,626Nanny von Birch-Morf starb nach jahrelanger, damals nicht definierbarer Krankheit am 20. Mai 1863. Vgl. M. Heusser, Hauschronik, S. 75f.schliessen die mich betrübend überraschte. Es thut mir leid, sie nicht mehr zu sehen, wenn ich einst zurückkomme; ich bin immer gut mit ihr gestanden. Kurz bevor ich die Todes-Nachricht erhalten, hatte ich an Pfr. Birch geschrieben und ihm, resp. Nany ein Geschenk (Arbeit hiesiger Indianer) versprochen; gegenwärtig sind die Sachen auf dem Meer, werden bald in Zürich anlangen und Ihr könnt dafür sorgen, daß Hanni nicht Alles behält, sondern Euch etwas davon zukommen läßt und auch dem Pfr. Birch und Pfr. Wild etwas. In jenem Brief vom 28t. Juni finde ich die Stelle eines Briefes von Frau Geh.Rath Weiss; nach langer Zeit habe ich endlich das schon vor Jahren versprochene Geschenk für sie in Händen, etwas famos Schönes; leider kann ich aber noch gar nicht sagen, wann es in Berlin ankommen wird; es ist sehr zerbrechlich und ich muß eine sichere Gelegenheit abwarten.

Mit bestem Gruß:
J. Ch. Heußer


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