Brief Nr. 84 – 26.7.1861
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84 26.7.1861
[Buenos Aires, 26. Juli 1861]
Liebe Mama, Tante Regeli und Schwestern!

Endlich haben wir es doch so weit gebracht, daß unsere Briefe sich nicht mehr kreuzen; und dabei soll es nun bleiben. So können wir uns vier Mal per Jahr schreiben, wenn ich nicht ausnahmsweise einmal lange auf dem Camp sein sollte, was wenigstens für die Zeit des Empfangs Eures nächsten Briefes, den ich auf Mitte November erwarte, nicht der Fall zu werden scheint. Indeß kann man in diesem Lande kaum je für Einen Monat mit Sicherheit voraus sehen. Als ich das letzte Mal schrieb, glaubte ich unmittelbar nachher wieder weit nach dem Süden zu gehen, um die in den Monaten Januar und Februar dort angefangene Messung zu vollenden. Statt dessen werde ich erst etwa in 8 Tagen wieder dort hingehen, und habe in den letzt verflossenen Monaten verschiedene kleinere Arbeiten näher an Buenos Aires im Westen und Norden ausgeführt in bisher mir unbekannten Gegenden, so daß ich nun bald die Provinz nach allen Richtungen kenne, und Stoff genug hätte, die längst beabsichtigte Beschreibung des Landes abzufassen, wenn ich nur wüßte, woher die Zeit nehmen. Denn ganz umsonst gewinnt man doch hier das Geld nicht; viel zu thun giebt die Ausarbeitung der Messungen hier in B. A., so daß wenig Zeit übrig bleibt, die auf den Reisen gemachten Beobachtungen ruhig zu Papier zu bringen. Auf der letzten Reise, von der ich vor wenig Tagen zurückgekommen bin, habe ich doch wieder einmal recht vaterländisch gefroren; Morgens 10 Uhr, drei Stunden nach Sonnen-Aufgang, war mehrere Morgen auf kleinen Wassern noch eine Finger dicke Eisschicht vorhanden, und ich hatte mich nicht gerade mit Winterkleidern versehen. Daraus [S.2] könnt Ihr sehen, daß ich Kleider nothwendig habe; kleinliche Sorgen wegen meiner Schneider-Rechnungen laßt bei Seite; ich bezahle sie und weiß, was ich thue. Kleider, die ich kommen lasse, sind mir nicht nur viel bequemer, sondern kommen mich sogar wohlfeiler zu stehen, als wenn ich sie hier kaufte. Ihr habt von hiesigen Verhältnissen keinen Begriff; gute Arbeit und gute Waare wird mit Gold aufgewogen, oder ist eigentlich gar nicht zu haben, schlechte wird noch mit enormen Preisen bezahlt. Das Geld hat einen viel geringeren Werth als in Europa. Aber in demselben Verhältniß als man andre Arbeit bezahlt, wird man auch für die eigne entschädigt; und als Beweis, daß meine Einnahmen weit die Ausgaben übertreffen, kann Euch wohl dienen, daß ich mit allen Schulden aufräumen will. Bleibt nur noch Vetter Pfr. Birch; der kommt zuletzt, soll aber auch noch befriedigt sein und zwar bald. Was die Schuld an Weiss betrifft, so hat er mir kurz vor meiner Abreise noch einmal 1000 Frk. geschickt, und dabei meine Bedingung, einstens — in unbekannter Ferne — zurückzahlen zu wollen, nicht abgeschlagen; da ich von Crull selig weiß, daß Weiss seine Wittwe durchaus nicht in glänzenden ökonomischen Verhältnissen zurückgelassen hat, und daß außerdem mehrere nahe stehende Verwandte in fast dürftigen Verhältnissen leben, so will ich die Schuld zurückzahlen, und will es, wo möglich noch bei Lebzeiten der Frau Geh.Rath Weiss thun, da ich nachher nicht recht wüßte, an wen mich wenden. Wenn nun die 2000 Frk. nicht voll sind, so schicke einstweilen 1000 und begleite sie mit den passenden Worten; die weiteren 1000 werden dann keines Begleit-Briefes mehr gebrauchen und ich werde sie bald nachschicken. Der Grundton dieser passenden Worte soll der sein, daß ich die ersten 1000 [S.3] Frk. unter der verschwiegenen, und die letzten 1000 unter der schriftlich ausgesprochenen Bedingung, sie einst zurückzuzahlen, angenommen habe, und daß jetzt der Moment gekommen sei, dies zu thun. Diesen Grundton magst Du dann zu einer angenehmen Melodie ausführen. Für ein Geschenk ist es immer noch Zeit, wenn die Schuld zurückbezahlt ist. Einstweilen wüßte ich wirklich Nichts zu schicken, als einen Zaum, wie Theodor jetzt einen haben wird, oder Klauen und Hörner, Häute und Talg, beides ziemlich unpassend, wie mir scheint, für Frau Geh.R. Weiss.

Nächstens, d.h. innerhalb 1 oder 2 Jahren hoffe ich einmal mit den Indianern in Berührung zu kommen, und dann einige ihrer Gewebe heimzuschicken. — Bei den Geld-Angelegenheiten gleich noch ein dahin gehöriges, offenes Wort: Jenes Geschenk für Barker war ganz artig, überdies waren die Worte die Hauptsache. Dagegen war ein leeres Drückli für Mad. Malcolm wirklich nicht genügend; ich schenke nicht gerne mit leeren Händen, und hier, wo ich eine zweite Heimath gefunden, habe ich die Pflicht und den lebhaften Wunsch zu schenken, und stelle Euch 50-100 Frk. zur Verfügung (bei Spyri), die Ihr zur Wahl eines passenden, wenn möglich charakteristisch Schweizerischen Geschenks verwenden mögt; es giebt ja für durchreisende Fremde so hundert und hundert verschiedene nette Sachen; und wenn Ihr nichts Befriedigendes findet, so schickt irgendeine schöne Schweizer-Ansicht, oder das Panorama vom Rigi oder so was. Dabei habe ich ja denselben Genuß, als wenn ich es für mich kommen ließe, da ich doch fast täglich dort bin. — Bei der Gelegenheit noch das: Barker hat uns leider verlassen und ist nach Montevideo übergesiedelt, wo er sichere Aussicht hat in einem der ersten Export-Häuser als Associer aufgenommen zu werden. Ich hoffe ihn noch dies Jahr einmal in Mon[S.4]tevideo zu besuchen. — Gehe ich nun etwas specieller auf die Beantwortung Eurer Briefe ein, so habe ich schon oft gesagt und geschrieben, und in letzter Zeit durch vielfach im Freien zugebrachte Nächte bestätigt gefunden, daß der Scorpion ebenso viel an Schönheit das südliche Kreuz übertrifft, wie er selbst vom Orion übertroffen wird, daß die schönsten Gestirne somit nahe am Äquator und für beide Erdhälften genießbar sind, daß aber jedenfalls die nördliche Hälfte reicheren und schöneren Sternenglanz hat, als die südliche, mögen Humboldt und seine Nachbeter sagen, was sie wollen. — An Hr. Pfr. Wild habe ich nicht geantwortet, weil ich auch da die rechte Melodie nicht gefunden habe, und lieber schweige, als Mißtöne singe. Im Übrigen lasse ich ihn und seine ganze Familie grüßen. Ich war schon im Begriff eine kleine Orgel anzuschaffen und das Orgelspiel anzufangen und würde es wohl ausführen, wenn ich mehr Zeit in B. A. zubrächte; da ich aber mehr als die Hälfte der Zeit auf dem Lande zubringe, so geht es nicht. Der Gedanke kam mir so im Umgang mit einem einigermaaßen umgangsfähigen Deutschen Musiklehrer. — Was die hiesigen Zustände betrifft, so haben wir allerdings wieder Krieg; er schadet mir etwas, aber nicht viel. Gewisse Messungen sind stetsfort dringend nothwendig, und da die hiesigen Agrimensoren den Krieg mit machen müssen, so fallen jene Arbeiten den Fremden zu. Einstweilen stehen sich die Heere wieder an der nördlichen Grenze der Provinz gegenüber; kein Mensch weiß, wann es zum Schlagen kommt. Der Kriegs-Ereignisse wegen schreibe ich keinen Tag früher, als wie schon oben gesagt, als Antwort auf Euren nächsten Brief. Von dem, was Zeitungen berichten müßt Ihr aber immer 99% abziehen. — Spinners Kirschwasser sehe ich also mit Freuden entgegen; er soll mir dasselbe bloß rein [S.5] nach Hombrechtikon565Brennwalds Firma war in Hombrechtikon.schliessen schaffen, und die Verpackung ganz dem Brennwald überlassen. Gleich fällt mir noch ein, daß dies dann auch die erste Gelegenheit sein wird für das Geschenk an Mad. Malcolm. — Daß der Aegeria-Tag566Obwohl Aegeria nicht ihr Taufname war, galt der Tag wohl als Namenstag der Schwester Ega.schliessen so schlimm ausgefallen that mir leid für Tante Regeli und Euch Alle. In einem früheren Brief schrieb mir Ega von dem Stundengeben und von ihren eignen Studien im Lateinischen. Das Stundengeben an sich gefällt mir nicht recht, da Ihr sonst leben könnt, und was das eigene Studium der lat. Sprache betrifft, so habe ich darüber folgende Meinung: das Studium einer Sprache hat zwei Seiten: die Grammatik (Formenlehre und Syntax) bildet den Verstand, ähnlich wie Logik und Mathematik. Litteratur dieser Sprache bildet den Geist, macht bekannt mit der Geschichte und dem Culturzustand des betreffenden Volks etc. Das Studium der Grammatik einer Sprache als solche ist nun, so viel ich weiß, nirgends außer von der Stadlin567Josephine Stadlin (1806-1875) leitete von 1841-1853 ein privates Institut für Töchter und zur Ausbildung von Lehrerinnen in Zürich.schliessen zum Gegenstand des Unterrichts für die weibliche Jugend gemacht worden, ebenso wenig als Logik und Mathematik. Und was die Litteratur der Lateinischen Sprache betrifft, so ist der Ega, und überhaupt anständigen Frauen, wenn sie es einmal so weit gebracht haben, lateinische Schriftsteller zu lesen, doch kein anderes Buch zugänglich, als der langweilige Caesar, und der nicht viel kurzweiligere Livius. Warum also nicht lieber Englisch lernen und lesen,568Ega hat in den folgenden Jahren sehr gut Englisch gelernt. Sie war reiste nach England und gab eine englische Übersetzung der Gedichte Meta Heussers unter dem Titel "Alpine Lyrics" heraus (London 1874). Vgl. R. Schindler, Memorabilien, S. 139.schliessen welche Sprache, in Prosa wenigstens eine Litteratur hat, der selbst die Deutsche kaum gleich kommt?

Es ist jetzt ziemlich genau zwei Jahre, seid ich hier angekommen bin; die gegenwärtige politische Lage des Landes ist ganz dieselbe, wie damals, aber die meinige unendlich weit verschieden jetzt von damals, und ich muß jetzt, da ich Land und Verhältnisse hier etwas genauer kenne, gestehen, daß der Erfolg dieser zwei Jahre der Art ist, [S.6] daß selbst die kühnsten Hoffnungen damals nicht dazu berechtigten. Ich will noch einen Augenblick dabei stehen bleiben, da Euch immer noch meine gegenwärtige Lage zweifelhaft erscheint. Der Grund, warum ich hier schnell, und wie ich glaube für längere Zeit, nicht bloß vorübergehend, emporgekommen bin, ist der, daß ich sehr gut stehe mit je einem einflußreichen Mann der beiden politischen Partheien, die sich unter sich fast auffressen. Der eine ist Präsident des topographischen Departements, mit ihm bin ich bekannt geworden mittelbar durch den Hr. v. Gulich, der andere war früher Minister und ist noch einer der einflußreichsten Staatsmänner, und seine Protektion verdanke ich der Empfehlung von Dr. Kern; letzterer hatte mich ins Departamento topografico gewählt, damit ich jenem Präsidenten Oposition machen und ihn sprengen sollte. Aber gerade darum, — abgesehen vom finanziellen Punkt — habe ich es nicht angenommen. Ich hätte mich so nothwendig mit der einen oder andern Parthei verfeinden müssen, während ich als agrimensor fern von allen Partheien bleibe, mich mit Niemandem verfeinde, und wenn ich erst einmal etwas über die Provinz wirklich geschrieben und veröffentlicht haben werde, ziemlich sicher darauf zählen kann, daß nachher die hiesige Regierung meine weiteren Pläne (Reise nach Patagonien und in die inneren Provinzen) unterstützen wird. Wenn Euch Nichts von meinen bisherigen Schriften zugekommen ist, so kauft doch das 7. Heft von Petermann von 1860.569In Petermann, Mittheilungen 1860, S. 247-257 erschien der Aufsatz von J. Ch. Heusser und G. Claraz: Thierleben in der Brasilianischen Provinz Rio de Janeiro.schliessen Es ist zwar ein viel größerer Aufsatz nur verstümmelt dort aufgenommen; aber selbst so gefällt er mir, und treibt mich an so bald als möglich auch über dies Land etwas hören zu lassen. Das Verdienst jenes Aufsatzes ist übrigens wesentlich Claraz's, da ich wenig von Zoologie verstehe und Einen meiner schönsten Aufsätze hat Ulrich verloren. Das Brand-Unglück von Glarus570Am 10./11. Mai 1861 wurde Glarus zu zwei Dritteln durch einen Brand zerstört.schliessen scheint schrecklich gewesen zu sein; daß von hier (S.7) aus erkleckliche Gaben zusammenkommen, daran zweifle ich, da in sehr kurzer Zeit nach einander die Wohlthätigkeit hier in Anspruch genommen wurde durch 1) Schießen in Stanz,571Für das Schützenfest in Stans 1861 war offenbar auch bei den Auslandschweizern Geld gesammelt worden.schliessen 2) Stiftung einer philantropischen Gesellschaft, und 3) das noch entsetzlichere und großartigere Unglück von Mendoza572Die Stadt Mendoza war durch das Erdbeben im Jahr 1861 fast ganz zerstört worden.schliessen durch das Erdbeben, von dem Ihr werdet gelesen haben (z.B. berichtet die Allg. A[ugsburger] Ztg. darüber) und worüber die Nachrichten nicht übertrieben sind. Über den ökonomischen Schaden bei diesen beiden Unglücksfällen lässt sich kaum eine Vergleichung anstellen. Aber Menschenleben sind in Mendoza bei Tausenden umgekommen, unter diesen auch ein französischer Naturforscher (Geolog) der seit einigen Jahren von der National-Regierung in Parana angestellt war zur wissenschaftlichen Durchforschung des Landes, und der zur Zeit des Erdbebens gerade in Mendoza sich befand. Sein Name war Bravard.573Auguste Bravard (1803-1861).schliessen Ich hätte Aussicht, sein Nachfolger zu werden, gewinne aber bei meiner gegenwärtigen Thätigkeit drei bis vier mal mehr, und denke darum nicht daran.

Was macht denn eigentlich Nanny? Ist es ganz aus dem Kreise der Verwandtschaft geschieden? Ich habe glaube ich, seit ich in America bin kein Wort von ihm gehört.574Nanny von Birch war zu diesem Zeitpunkt schon krank; sie starb zwei Jahre später im Mai 1863. Vgl. den Brief Nr. 89 vom 31. Januar 1864.schliessen

Vor wenigen Tagen ist mir der Bericht Tschudis an den Bundesrath über die Colonien in St. Paulo575J. J. von Tschudi, an den schweiz. Bundespräsidenten: Bericht über die Schweizer in den Kolonien von São Paulo, Rio de Janeiro, 6. Oktober 1860. In dem Bericht fällte Tschudi ein unbegründet scharfes, offensichtlich von den betroffenen Plantagenbesitzern beeinflusstes Urteil über Heussers Arbeit und Bericht.schliessen zugekommen, und zwar — von Berlin aus. Man hat mich auch von dort aus schon in Schutz genommen; ich weiß selbst noch nicht wer. Der es gethan hat, hat mich aber zugleich moralisch genöthigt, selbst zu antworten. Ich werde es thun; mit diesem Schiff und vielleicht auch noch mit einem oder einigen nächst folgenden ist es aber noch nicht möglich aus Gründen, die ich hier nicht auseinandersetzen kann.576Diese Verteidigung Heussers in eigener Sache hat sich bisher nicht gefunden.schliessen Einstweilen nur Folgendes: es freut mich, daß Tschudi so aufgetreten ist und nicht anders; sein ganzes Benehmen in Brasilien wird zu meiner eignen Rechtfer[S.8]tigung, wenn auch noch nicht nach einigen Packeten,577Heusser braucht das Wort Packet mehrfach im Sinn von Postschiff: paquebot.schliessen so doch nach Jahren. Froh aber bin ich, daß der Vater dies nicht mehr erlebt hat; er hätte es nicht verstehen können!

Man spricht lebhaft vom Frieden, der durch die Vermittlung der fremden Gesandten herbeigeführt werden soll, und vielleicht ist derselbe schon geschlossen, bevor dieser Brief den Plata verläßt. Wie schon gesagt berührt mich der Entscheid wenig, da mein materielles Interesse dabei wenig ins Spiel kommt, und irgendein anderes Interesse, eine Parthei-Nahme für die einen oder andern bei mir gar nicht vorhanden ist. Es ist dies eine äußerst angenehme Lage, und da man sich dieselbe bei ökonomischer Unabhängigkeit auch in jedem Lande Europas und dazu ungleich mehr geistige Genüsse verschaffen kann, so will ich hier noch einige Jahre arbeiten, bis ich dies ermöglicht; lebt solange, dann sehen wir uns wieder!

Mit Grüßen an Alle Euer
Chr.
Buenos Aires 26t. Juli 1861.

NB. Ich habe nicht mehr Zeit, an Spyri zu schreiben; nur noch das: es ist recht, daß er der Frau Bachmann kein Geld gegeben; die Unglückliche ist von ihrem Mann angeführt, aber ich kann nicht aller Welt helfen. Spyri soll nur nie einen Centim. ausgeben ohne meinen speciellen Auftrag: er wird so noch genug auszugeben haben. Mit dem nächsten Schiff werde ich ihm über die Verwendung des Rests des Geldes von Paravicini schreiben. Zuerst also davon 1000 Frk. für Fr. Geh.Rath Weiss.



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