Brief Nr. 80 – Sommer 1860
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80 Sommer 1860
[Buenos Aires, Sommer 1860]
Liebe Mama!543Auf der Rückseite steht: "Dieser Brief ist uneröffnet nach dem Hirzel zu schicken!"schliessen

In Beantwortung Deines Briefes von Ende März will ich zunächst die ökonomische Frage zu Ende bringen. Was Hr. Pfr. Wild betrifft, so hätte ich gar nicht an ihn geschrieben, wenn ich gewußt, daß das mir zufallende Erbe doch noch so bedeutend sei. Hr. Pfr. schlägt mir meine Bitte nicht gerade zu ab, aber ich sehe schon, daß er kein Zutrauen hat; daher will ich der Sache lieber ganz einfach mit Zurückzahlung ein Ende machen, und an Theodor darüber schreiben. An Hr. Pfr. brauche ich wohl nicht mehr selbst zu schreiben; ich lasse ihn grüßen und ihm danken. Befremdet hat mich, daß er mich auf einmal mit Sie anredet. Was Dich und Tante Regeli betrifft, so versteht sich, daß Ihr bei den obwaltenden Verhältnissen kein Geld hergeben könnt; und von Aega und Meta begreife ich auch, daß sie sich fürchten, Geld nach Amerika zu schicken. Da aber wie es scheint Brennwald's Geschäft sehr gut geht, und schon ziemlich bei Euch Allen Zutrauen erweckt hat, so muß ich doch noch einen Augenblick bei diesem Punkt stehen bleiben. Theodor hat mein ganzes Vermögen dem Brennwald gegeben, d.h. nahe an 30'000 Frk., und Brennwald hat das Geld sehr gerne angenommen. Nun habe aber ich 10'000 Frk. zu meinen Zwecken nach Amerika verlangt; es war dies nicht das mindeste Mißtrauen gegen Brennwald, hat mir im Gegentheil sehr leid gethan, aber ich konnte nicht anders. Jetzt frägt sichs, wollt Ihr mir zu Handen Brennwalds oder wollt Ihr Brennwald direkt diese 10'000 Frk., oder wenigstens etwas daran geben. Wenn auch, was ich schon nicht glaube, mit mir Alles schief gehen sollte in Amerika, so steht ja das Geld bei Brennwald noch sicher für die Schwestern; und wenn es mit Brennwald fehlen sollte, was ich eben so wenig glaube und hoffe, so bekenne ich mich als Schuldner an die Schwestern. Und der Fall endlich, daß Brennwald und ich, wir beide Alles verlieren ist sicher nicht wahrscheinlicher, als der, daß Geld mit Hypothek auf einem Bauernhof verloren geht. — Was endlich jene 800 Frk. und 400 Frk. betrifft, so will ich im nächsten Brief darüber verfügen je nach Nachricht, die ich von Dir über folgenden Punkt erhalte. In der Stille abmachen können wir es, wenn jene 1200 Frk. für einige Jahre hinreichen. Ich will aber, daß Ihr Euch nicht besinnen müßt einem Bettler ein Almosen zu geben, oder einen guten Café etc. zu trinken. Ich will ferner, daß wenn Freunde von mir kommen, daß sie anständig behandelt werden; ihre Zahl wird sich auf wenige beschränken; außer denen in und um Zürich z.B. Brennwald und Widmer (dem erstern hatte ich geschrieben, er soll einmal mit seiner Frau Euch besuchen) habe ich zunächst W. Rose im Auge; Andere Berliner werden kaum kommen. — Das Geschenk dieser 800 Frk. von meinem Vater hat mich in der That von neuem [S.2] gerührt, und mich tief empfinden lassen, ein wie angenehmes Leben wir im Hirzel hätten genießen können, wenn — ich weiß nicht, was ich sagen soll; aber so viel weiß ich, daß ich es trotz Allem nie über mich vermocht hätte, in unserer Apotheke zu praktiziren.

Dies führt mich nun unmittelbar auf den Punkt, der Dir so großen Kummer zu verursachen scheint, nämlich den, daß ich auf unserer Reise nach Minas den Arzt gespielt. Wahr ist, daß ich dies einige wenige Male gethan (wenn ich nicht irre, waren es drei oder vier Male), aber viel weniger als ich es hätte thun können, weil ich bald fühlte, daß ich zu wenig Charlatan war, und außer dem, nicht um mich zu bereichern, sondern um uns an einigen Orten freundliche Aufnahme zu sichern. Bei meiner Abreise von Cantagallo hatte ich im Sinne viel mehr zu praktiziren, und hatte während ¾ jährigem Aufenthalt auf der Fazenda, ziemlich häufig Nägeli auf seiner Praxis begleitet, alle Krankheitsfälle, die auf der Fazenda unter etwa 150 Schwarzen vorkamen, genau verfolgt, und außerdem mich von Nägeli ganz genau über zwei Krankheitsfälle instruiren lassen, die im Innern Brasiliens sehr allgemein verbreitet sind. Weiter im Innern trifft man keine gebildeten Ärzte mehr, und wenn ich nun wegen meines Dr.-Titels, überall für einen Arzt gehalten und um ärztliche Hülfe angesprochen, einige Male entsprochen habe, so sehe ich darin nichts Böses, da ich ohne allen Zweifel tiefere Einsicht in die Krankheitsfälle hatte, als die Fazendeiros, die stets ihre Sklaven selbst behandeln mit den aller unsinnigsten Hausmitteln. Die beiden Fälle, die blamirend, oder meinetwegen gar brandmarkend wären, nämlich daß ich entweder durch unbefugtes Mediciniren Schäden angerichtet, oder aber durch charlatanmäßiges und betrügerisches Auftreten mich bereichert, weise ich entschieden zurück. Wenn ich nun noch hinzufüge daß das Innere von Minas ("das gelobte Land der Mineral", wie es Dr. Kranz in Bonn mit Recht in einem seiner Briefe an mich nennt) das einzige Ziel meiner Wünsche war, als ich Europa verließ, daß von den 4'000 Frk. die ich in St. Paul gebraucht, mir damals noch kein Centim zurück bezahlt war, und daß ich endlich ohne alle und jede Hülfe und Empfehlungen (die so unendlich viel machen in diesem Land) die Reise unternehmen mußte, so glaube ich, daß auch die strengste Moral mir keinen Vorwurf jener Medicinerei machen kann; und ich habe ganz sicher im Sinn, früher oder später jene Reise genau, treu und wahr zu erzählen und zu veröffentlichen. Wenn erst alle unsere Arbeiten gedruckt und bekannt sind, so glaube ich, wird man Claraz und mir zugestehen müssen, daß nicht bloße Neugierde, sondern eine durch den Erfolg gerechtfertigte Wißbegierde uns nach Minas getrieben, und zu dieser Annahme bin ich schon jetzt berechtigt durch einen Brief von G. Rose in Berlin über unsere Diamanten-Arbeit.544J. Ch. Heusser und G. Claraz, Über die wahre Lagerstätte der Diamanten und anderer Edelsteine in der Provinz Minas Geraes in Brasilien, in: Zeitschrift. der. Dt. Geolog. Gesellschaft XI, 1895, S. 448-466.schliessen — Den Angriff von Tschudi545Tschudis Bericht über seinen Besuch der Schweizer Kolonisten in Brasilien stand in dem Moment noch aus. Dass sein Urteil über Heussers Arbeit in Ibicaba unbegründet hart ausfallen würde, wusste man schon.schliessen erwarte ich ganz ruhig; daß Manche die Nase rümpfen und mich verurtheilen werden, glaube ich gern, und mache mir Nichts daraus. Wenn Du Dich aber nicht über das Vorurtheil der Menge erheben kannst, so will ich Dir zum Trost noch Eines sagen: Die Menge urtheilt stets nach dem Erfolg, und wird auch mit Beziehung auf mich ihr Urtheil leicht ändern, so bald sie hört, daß es mir schließlich ordentlich ergangen. In meine Zukunft in diesen Ländern habe ich aber volles Zutrauen, und damit auch Du es bekommst, will ich Dir nur noch Folgendes mittheilen: Hier in Buenos Aires gedenkt man, das höhere Unterrichtswesen zu reorganisiren, und die sog. Universität mit einer technischen Schule zu vereinigen. Vor einigen Tagen rief mich der gegenwärtige Unterrichts-Minister zu sich, bat mich, ihm ein Projekt über jene Reorganisation auszuarbeiten, und bot mir Nichts mehr und Nichts weniger als das Rektorat dieser Anstalt an. Die Ausarbeitung des Projekts habe ich übernommen, mit Beziehung auf die Stelle selbst aber mich noch nicht ausgesprochen; alle fixen Anstellungen sind hier verhältnißmäßig schlecht besoldet; ohne Zweifel werde ich als Agrimensor mich ökonomisch besser stellen; daher will ich mir die Sache erst ruhig überlegen. Die Ehre des Anerbietens habe ich wohl in erster Linie meiner Empfehlung des verstorbenen Humboldt, in 2t. und 3t. aber den Bemühungen Hr. v. Gülichs und den durch Widmer erhaltenen Briefen Kerns546Der Thurgauer Jurist Johann Conrad Kern (1808-1888) war einer der einflussreichsten liberalen Politiker, Nationalrat, Bundesrichter und Ständerat. Er war ein geschickter Vermittler bei den Verhandlungen zur Schlichtung des Neuenburgerhandels und wurde 1856 Schweizer Gesandter in Paris. HLS 7, S. 188.schliessen in Paris zu verdanken. —

[S.3] Unter meinen Freunden, die Du besprichst, thust Du jedenfalls einem sehr Unrecht, nämlich dem Nägeli. Sein einziger Fehler ist, daß er ein ganz unpraktischer Kerl ist, und nicht rechnen kann. Aber wenn er auch urplötzlich und unerwartet sich von unserem Unternehmen zurückgezogen, so darf ich nicht vergessen, daß er mich, als ich von St. Paul zurückkam, als ein Freund aufgenommen, und daß ich ihm sehr verpflichtet bin. Und in die ganze Reise-Unternehmung von Minas hat Nägeli weit mehr Geld hineingesteckt, als jeder andere von uns dreien; und bei der Abrechnung trägt Nägeli gerade so viel Schaden, wie jeder andere, obgleich er die Reise nicht mitgemacht. Also in diesen Geld-Angelegenheiten kann man ihm durchaus keinen Vorwurf machen. Und wenn Du einmal mit ihm sprechen könntest, so würdest Du ihn sicher achten lernen und lieb gewinnen. Er ist der belesenste aller meiner Freunde, und ich zweifle daran, daß Du aus irgendeinem Calwer-Missions-Traktätlein547In Calw bei Hirsau wurden pietistische Missions-Schriften verlegt.schliessen irgend eine geographische, wahre oder falsche Notiz auftreiben kannst, die ihm nicht bekannt wäre. Die ganze Reisebeschreibungs-Litteratur aus allen drei Hauptsprachen kann er so zu sagen auswendig; die ganze naturwissenschaftliche Litteratur kennt er sicher besser als ich, und es würde mich nicht wundern, wenn er irgendwo Arbeiten aus meinem frühern speciellen Zweig, aus der Krystallographie aufgestöbert hätte, die mir unbekannt geblieben. Dafür will ich aber mich anheischig machen, jeden Augenblick mit mehr Gewandtheit einen Zahn auszuziehen, und verschiedene Operationen zu machen, als der Dr. Heinrich Nägeli. So merkwürdig sieht es in der Welt aus! — Dies letztere schreibe ich nun vor Allem in der Voraussetzung, daß Du gegen gar Niemand Dich darüber aussprichst, da es dem Nägeli, wer weiß wie und wo noch schaden könnte. — Daß Nägeli sich ökonomisch so stark betheiligt hat, machte mich eben früher glauben, daß er wirklich die von ihm selbst entworfenen und hundertfach besprochenen Pläne werde einst ausführen helfen; und zeigt jedenfalls, daß er kein gemeiner Kerl ist, wie man Dir zugetragen. Daß er aber nie über das Wort und Geld hinausgekommen, nie mit uns gekommen, das hat mir wieder etwas Selbstvertrauen gegeben: Es ist doch leichter in der reichen Fazenda beim Glas Portwein Pläne schmieden und Bücher lesen, als bei Wind und Wetter, und zwar bei Gegenwind und im Unwetter sie auszuführen!

Daß ich bei meiner Ankunft in Buenos Aires die Aussicht und Absicht hatte, mich als Lastträger an eine Ecke zustellen [will soviel]548Beschädigter Rand.schliessen sagen, als durch jede beliebige Hand-Arbeit mir etwas Geld zu verdienen; dies ist in der neuen Welt leicht und beweist nur, wie viele arme Teufel hier das finden könnten, was man gewöhnlich "sein Glück" nennt, wenn die Auswanderung einigermaaßen geregelt wäre. Über jenen Umstand brauchst Du Dir keine grauen Haare wachsen zu lassen, so wenig, als er mich je stark bekümmert hat. Schlimmere Tage habe ich jedenfalls in Brasilien ausgestanden, und daran ist Schuld Hr. David549Wie es nach langer Vertrautheit zu dem Bruch zwischen Heusser und David gekommen war, lässt sich aus den Briefen nicht erschliessen. David hatte sich zunächst in Rio de Janeiro für Heusser eingesetzt, auch als er schon scharf angegriffen wurde. Vielleicht liess er sich durch Tschudi umstimmen.schliessen von Basel, ein Mann, der, wenn der Zufall Dich je mit ihm zusammenführen sollte, Dich ohne Zweifel bezaubern und für sich gewinnen würde. Du weißt hiemit, wie ich mit dem Herrn stehe. —

Die versprochenen Sachen kommen, außer den 7 Paar Strümpfen und 1 Dutzend Hemden erst mit dem nächsten Packet; daher kann ich natürlich nicht darüber schreiben.

Soviel ich weiß, hast Du, seit ich Europa verlassen, schon an Frau Geheim-Rath Weiss in Berlin geschrieben; wenn dies der Fall, so kannst Du es wohl noch einmal thun, und ihr zunächst nebst Grüßen Einiges von mir mittheilen. Ich hätte es schon lange thun sollen, war aber nie in der rechten Stimmung, und jetzt ist es zu spät. Außerdem möchte ich gegen irgend Jemand meine Theilnahme an Crulls Tod ausgesprochen wissen, und das kann am besten gegen Frau Geh.R. Weiss geschehen, da ich Crulls Schwester und nächste Verwandte nicht kenne. — Ferner denke ich, Wilhelm Rose werde in diesen Sommer-Monaten sich in Zürich herumtreiben; in diesem Fall bitte ich Dich, ihn (nebst Frau) einmal nach dem Hirzel einladen zu lassen, und ihm folgende zwei Punkte mitzutheilen: 1) solle er bei den Professoren Beyrich550Ernst Heinrich Beyrich (1815-1896), Prof. für Geologie in Berlin, war auch ein Schüler von Prof. Weiss.schliessen und Karsten551Hermann Karsten (1817-1908) war Prof. für Botanik in Berlin, daneben bekannter Forschungsreisender.schliessen in Berlin sich genau und gewissenhaft erkundigen, ob ich nicht vielleicht an Crull oder an einen dieser Herren etwas schulde: ich will, daß hier Alles bezahlt werde; 2) bitte ich Hr. W. Rose, seinem Bruder Gustav für seinen Brief an mich zu danken, und ihm mitzutheilen, daß ich denselben beantworten werde, so bald ich erst Claraz gesehen; es handelt sich um eine wissenschaftliche Frage über die Diamanten Lagerstätte,552Im Jahr zuvor war der Aufsatz von Claraz und Heusser "Über die wahre Lagerstätte der Diamanten und anderer Edelsteine in der Provinz Minas-Geraes" erschienen.schliessen und ich will und muß mit Claraz darüber sprechen; dieser ist aber gegenwärtig im Innern.

Mit Tante Regeli wird es hoffentlich mit dem Frühjahr wieder besser gehen, meine besten Grüße an Euch Alle:553Am untern Rand der Seite ist eingefügt: "Kehr um!", auf der Rückseite des Blattes steht die Bemerkung: "Diesen Brief rathe ich zu verbrennen." Am gegenüberliegenden Rand steht ein NB: "Mit Brennwald kannst Du ganz offen über Alles reden. Ich habe an ihn geschrieben, und er wird nicht weiter darüber sprechen."schliessen

J. Chr. Heußer.


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