Brief Nr. 77 – 25.10.1859
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77 25.10.1859
[Buenos Aires, 25. Oktober 1859]
Liebe Eltern!

Schon geht in den nächsten Tagen wieder das letzte Schiff ab, das Euch Briefe bringen kann auf die Festtage von Weihnachten und Neujahr. Ich will daher die Feder ergreifen, um so mehr, als einmal in meinem Leben ein Wendepunkt eingetreten ist, und ich mich an einem Orte fest niederzulassen gedenke. Bis vor Kurzem hatte ich noch die Absicht und Hoffnung, in wenig Jahren die Reise über die Anden nach der Westküste möglich machen und dann zurückkehren zu können. Jetzt denke ich nicht mehr daran. Es scheint sich mir mit aller Wahrscheinlichkeit in diesen Ländern eine ökonomisch so günstige Zukunft zu bieten, daß ich dieselbe benutzen und hier einige Jahre arbeiten will, um nachher als unabhängiger Mann zu machen, was mir beliebt. Meine Heimkehr ist damit freilich ins Unbestimmte verschoben; es kostete mich der Entschluß einige Mühe, besonders wenn ich an Tage und Abende denke, wie die, für welche diese Zeilen bestimmt sind.

Es ist jetzt so, und nicht zu ändern. Eine Arbeit, die in diesen ungeheuren Ebenen großen Gewinn bringt, und die ich leicht ausführen kann, ist das Feldmessen.521Schon vor seiner Abreise nach Brasilien hatte sich Heusser ja auf diesen Beruf vorbereitet, indem er sich von Kaspar Wethli in die Vermessungstechnik hatte einführen lassen und diesem bei der Vermessung neuer Eisenbahnlinien geholfen hatte: vgl. die Briefe Nr. 50-55.schliessen Ich habe zu dem Zweck vor einigen Wochen hier ein Examen bestanden, und werde wohl in den nächsten Tagen meine Arbeiten beginnen. Wären nicht durch die Kriegs-Ereignisse dergleichen Arbeiten etwas gestört, so hätte ich ohne Zweifel schon begonnen. — Nun weiß ich aber selbst noch nicht, ob ich wirklich hier beginnen oder nach der benachbarten Banda Oriental (Republik Uruguay mit der Hauptstadt Montevideo) gehen soll. Im Laufe der Woche wird sich's entscheiden. In der Provinz Buenos Aires sind die Arbeiten besser bezahlt; dafür ist es aber auch in der Stadt sehr theuer zu leben, und außerdem der Anfang in dieser Kriegszeit etwas schwer. Die Banda Oriental zieht mich als Land mehr an, weil sie hügelig und von laufenden Wassern durchzogen, während die ganze Provinz Buenos Aires Eine Ebene. Im Vergleich mit Europäischen Bezahlungen wird der Gewinn auch in der Banda Oriental immerhin sehr groß sein. Außerdem hat der Preußische Geschäftsträger, Hr. von Gulich, an den ich [S.2] von Berlin aus empfohlen war, und der alles Mögliche für mich thut, in der Banda Oriental mehr Einfluß als in B. A., und es wäre leicht möglich, daß ich dort mit seiner Hülfe mit der Zeit auch eine wissenschaftlich befriedigende Stellung erhalten könnte. Der Entscheid hängt von den Antworten auf verschiedene Briefe ab, die ich nach der Banda Oriental geschrieben habe, und ich kann mich mit diesem Packet522Packet nennt Heusser entsprechend dem frz. "pacqebot" eine Postsendung per Schiff.schliessen darüber noch nicht aussprechen.

Mein Leben in Buenos Aires seit meinem letzten Brief hat mir viel Angenehmes, wenn auch wenig Neues geboten. Immer angenehmer hat sich mein Verhältniß zu jener Englischen Familie523Zur Familie Malcolm-Smith pflegte Heusser von nun an den engsten Kontakt. Er heiratete Jahre später (1870) Anna Smith, die Schwester der Mrs. Malcolm, der seine eigentliche Liebe galt.schliessen gestaltet, von der ich glaube ich im letzten Briefe geschrieben habe. Weit entfernt, nach Allem, was ich von Deutschen genossen habe und fortwährend noch genieße, über dieselben schimpfen zu wollen, finde ich doch, daß die Schweizer im Charakter und der ganzen Lebens-Anschauung den Engländern viel näher stehen, was übrigens wesentlich mit den politischen Zuständen zusammenhängt. — Auch jenen Nordamerikanischen Methodisten-Prediger sehe ich oft, er giebt mir Englische Bücher, und versteht selbst nicht Ein Wort irgendeiner anderen Sprache, obgleich er schon mehrere Jahre in Buenos Aires ist. Es ist allerdings schön einer Nation anzugehören, die jetzt schon ziemlich oder ganz sicher in Zukunft die Welt regiert. Dagegen will ich nicht sagen, daß eine solche absolute Verachtung alles dessen, was andere Cultur-Völker sprechen, thun und treiben, gerade im Interesse der eigenen höheren Ausbildung liege. — In Seestädten wie Rio de Janeiro, Montevideo und Buenos Aires kann man ganz besonders sehen, nach der Art wie die Flaggen respectirt, und geschehene Unbilden gegen Angehörige der verschiedenen Nationen gut gemacht werden, wer auf dem Meer, d.h. auf der Welt oder wenigstens auf der Erde am meisten zu bedeuten hat. Da steht schon unbedingt Nordamerica obenan, folgt bald England, steht aber Louis Napoleon doch noch weit hinten nach. Er macht zwar große Anstrengungen, auch in Süd-Amerika Fuß zu fassen und auf dem Meere Meister zu werden, wird aber hoffentlich an der Zähigkeit der Anglosachsen scheitern, und zum Teufel gehen, nicht den Erdkreis regieren. [S.3] Freilich erst lange nach den Franzosen in jener Reihe kommen die Deutschen und nicht weit hinter den Deutschen die Schweizer. Letztere suchen hier, wie überall, das was ihnen an mächtigerem Schutz abgeht, durch Zusammenhalten (wenigstens in der Mehrheit) zu ersetzen. Es sind unter diesen mehrere sehr artige Leute, und der Gasthof, in dem wir gewöhnlich zusammen kommen, wird von einem Zürcher, Namens Schweizer524David Schweizer, *1804, im Zürcher Bürgerbuch 1861 als Gastwirt in Buenos Aires erwähnt, führte das Hotel Europa, in dem sich die Schweizer regelmässig trafen. David Schweizer wanderte 1854 mit seiner dritten Frau und einigen Kindern nach Argentinien aus.schliessen gehalten, der mir sonderbarer Weise behauptete, sein Vater525Andreas Schweizer (1768-1834) war seit 1806 Pfarrer in Lindau gewesen, vorher 1896/1897 in Hütten und Grüningen. Pfarrerbuch, S. 45.schliessen sei Pfarrer im Hirzel gewesen. Als ich das bestritt, sagte er, oder in Hütten. Auch dies zog ich in Zweifel, konnte es aber nicht absolut bestreiten. Dieser Schweizer ist der Schwiegervater jenes Zollinger,526Christoph Zollinger von Elsau, *1804, war verheiratet mit Henriette Schweizer, David Schweizers Tochter aus erster Ehe.schliessen von dem mir Theodor eine Empfehlung nach Montevideo geschickt hat.

Durch einen reinen Zufall traf ich vor einigen Wochen in den Straßen von Buenos Aires einen gewissen Huber527Dass Huber, der ursprünglich von Hausen a. Albis stammte, von der Kolonie St. Fé nach Buenos Aires gekommen war, um nach Europa zu reisen und Verwandte zu holen, ergibt sich aus dem späteren Brief Nr. 79 vom 5. Januar 1860.schliessen von Hausen, der von einer Colonie aus dem Innern kam, und sich hier nach Europa einschiffte, um dort seine Verwandten,528Einer dieser Verwandten, der 21jährige Julius Huber von Hausen a.A., Landwirt, erhält am 19. 3. 1860 in Zürich die Bewilligung für einen Reisepass nach Südamerika.schliessen und andre Familien zu holen. Ich habe denselben gebeten, einmal bei Euch im Hirzel vorbeizugehen, was er auch thun wird. Viel Neues wird er Euch zwar nicht berichten können; aber er hat mich wenigstens gesehen und weiß, daß ich gesund bin. — Nach seinen Nachrichten geht es ganz gut auf der Colonie, und ich glaube, wenn einige Hirzler auswanderungslustig wären, so dürften sie es hier probiren. Ich kann zwar durchaus Nichts weiter sagen, als daß sie in diesem Land unter allen Umständen frei bleiben und nie solche Gefahr laufen, wie in Brasilien. Ob alle Aussagen jenes Huber glaubwürdig sind, kann ich nicht beurtheilen, unter allen Umständen aber ist es gut, wenn Auswandernde ihre Erwartungen nicht zu hoch spannen. Geht es ihnen nachher gut, wie dem Huber, so ist es immer noch Zeit, sich darüber zu freuen.

Hier in Buenos Aires hört man in diesen Kriegszeiten in Gesprächen und Zeitungen natürlich auch viel von der jüngsten Geschichte von Buenos Aires und von Rosas529Juan Manuel de Rosas (1793-1877) gewann 1829 die Herrschaft über Buenos Aires und regierte die Region autokratisch bis 1852.schliessen sprechen. In Urquiza,530Justo José de Urquiza (1801-1870) war usprünglich ein Mitstreiter de Rosas. Als Gouverneur der Provinz Entre Rios und später Präsident der Republik Argentinien verbündete er sich mit de Rosas Gegnern und war 1852 an dessen Sturz wesentlich beteiligt. Seit 1854 war Urquiza Präsident der Argentinischen Republik mit der Hauptstadt Concepcion del Uruguay in Entre Rios. 1861 wurde er als Präsident von Bartolomé Mitre abgelöst, blieb aber Gouverneur von Entre Rios und dort praktisch uneingeschränkter Machthaber.schliessen dem Präsidenten der Argentinischen Republik erblicken seine Feinde in Buenos Aires einen Bluthund, wie Rosas es war. Die Europäer beurtheilen Urquiza gelinder, sagen, er [S.4] sei zwar ein ungebildeter Gaucho, aber nicht so grausam. Manche gehen sogar so weit Rosas zu vertheidigen, weil sie unter ihm gute Geschäfte machen konnten. Über Rosas kann aber das Urtheil des gesitteten Jahrhunderts nicht zweifelhaft sein. Sein "muerte à los salvajes unitarios" (Tod den wilden Unitariern)531Unitarier nannte sich die Partei, die auch Buenos Aires in die Republik Argentinien einbeziehen wollte.schliessen ließ er nicht bloß zur Eröffnung jedes Theaterstückes und von den Nachtwächtern zu jeder Stunde ausrufen, sondern es wurde sogar mit einem Stempel auf alle gerichtlichen Akten, auf Schuldbriefe, Besitz-Titel etc. gedruckt. Ich habe alle Tage Gelegenheit, das im topographischen Bureau zu sehen. Ich habe nicht Lust Müsterchen von seinem Blutdurst zu erzählen, dagegen hat mich folgende Anekdote, die übrigens faktisch ist, sehr ergötzt. Nach Rosas Befehl sollte alle Welt in Buenos Aires rothe Cocarden tragen; die Weiber waren nicht so feig wie die Männer, und viele leisteten dem Befehl nicht Folge. Da ließ an einem Sonntag Rosas an jeder Kirchenthüre einige Männer sich hinstellen, die mit mächtig großen rothen Papier-Cocarden und Leim versehen waren: Allen austretenden Damen, die nicht die vorgeschriebene kleine zierliche Cocarde schon trugen, wurden diese großen, gewaltsam an den Hut geklebt, und damit war auch die Standhaftigkeit der Frauen besiegt. — Um den Auftritt recht zu würdigen, muß man bedenken, daß die Frauen hier einen Luxus treiben, wie in keiner Europäischen Stadt, vielleicht Paris nicht ausgenommen.

Vieles Andere habe ich mit Claraz zusammen in den zum Druck bestimmten Papieren niedergeschrieben. Geschrieben oder gedruckt werdet Ihr es wohl zu lesen bekommen.

Ich schließe daher mit herzlichen Grüßen und Glückwünschen an Alle!
Euer J. Ch. Heußer
Buenos Aires den 25t. Oktober 1859.


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