Brief Nr. 71 – 7.5.1858
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71 7.5.1858
[Bom Valle bei Cantagallo, 7. Mai 1858]
Liebe Eltern!

Obgleich ich nicht viel zu schreiben weiß, muß ich doch nach 4 Monaten wieder einmal die Feder ergreifen, um Euch Nachricht zu geben, wie es um mich steht, und was ich vorhabe. Vielleicht daß Euch dann schon der nächste Brief etwas entschädigt für die Gehaltlosigkeit dieses und der vorigen Briefe, da ich nächstens diese Gegend zu verlassen und eine Reise ins Innere zu unternehmen gedenke: Das ganze Leben und Reisen im hiesigen Land ist so total verschieden vom Europäischen, daß ich glaube, der lange Aufenthalt auf dieser Fazenda ist mir keineswegs nutzlos gewesen; ich habe mich aclimatisirt, kleinere Touren gemacht, Sprache und Sitten des Volks kennen gelernt, was Alles wohl nöthig ist, wenn man Reisen ins Innere unternehmen will, ohne von Regierung und Hochgestellten unterstützt zu sein.

So viel ich weiß, habe ich vorigen Herbst bereits einmal davon geschrieben, daß unserer vier Schweizer die Reise zusammen unternehmen werden; außer dem Claraz von Freiburg, der mich nach Brasilien begleitet und Nägeli, den ich hier getroffen, hat sich nämlich noch ein gewisser Meier zu uns gesellt, der auch seiner Zeit in Zürich Theologie studirt hat, und nach verschiedenen Schicksalen nach Brasilien verschlagen worden ist. Letzterer hat schon Reisen ins Innere gemacht und ist uns jedenfalls eine große Stütze; er hat die nothwendigsten Bedürfnisse des Lebens aller Art von Rio nach dem Innern gebracht, dort, wo große Pferde- und Maulthierzucht ist, gegen diese Thiere eingetauscht, und letztere wieder in der Gegend von Cantagallo und Rio verkauft. Meier wird seinen Handel fortsetzen, dazu noch mit Heiligenbildern etc. von Einsiedeln, wie Ihr von Theodor wissen könnt, vermehren. Claraz tritt als Daguerotypist auf. Beide sind auch bereits vor 6 Wochen verreist; täglich erwarte ich Meier zurück und werde dann mit ihm zusammen auch hineinreisen und zwar zunächst nach der Provinz Minas Geraes. Vom Anfang der Reise der beiden letzteren haben wir günstige Nachrichten. Dagegen scheint es, daß Meier vor Abgang dieses Briefes nicht mehr zurückkommt, so daß ich über den Erfolg der Reise noch Nichts mittheilen kann — Meine Aufgabe wird sein das Sammeln von Naturalien aller Art, speciell Mineralien. Die große Noth aller Reisenden ist der Transport der gesammelten Schätze aus dem Innern zur Küste. Theils ist der Transport mit großen Kosten verbunden, theils geht [S.2] oft Alles zu Grunde, wenn der Reisende nicht mit zur Küste zurückgeht. Für den Transport hoffen wir Nichts auszugeben, da Meier selbst den Handel mit Maulthieren betreibt, dieselben im Innern kauft und an der Küste verkauft; daraus folgt auch schon, daß er immer selbst mit herausgehen muß, und hoffentlich die Naturalien glücklich nach Rio bringt. — Endlich wird nächsten Herbst Nägeli, wenn sein Contrakt auf der hiesigen Fazenda zu Ende ist, sich ebenfalls uns anschließen und zwar natürlich als Arzt; Ärzte sind im Innern eine Seltenheit und alle Reisenden erzählen, daß der bloße Doktor-Titel ihnen überall günstige Aufnahme verschafft. Da ich übrigens nicht weiß, ob Nägeli seinen Verwandten den Plan schon mitgetheilt, und außerdem nicht will, daß meine ganze Art zu reisen in der Schweiz bekannt werde,491Hier spricht Heusser sein Hauptproblem an: Für die Forschungsreisen, die ihm eigentlich vorschweben, wie sie Alexander von Humboldt und auch Johann Jakob von Tschudi durchführten, fehlt ihm das Geld. Er fürchtet, dass die etwas abenteuerlichen Versuche, mit allerlei Handelswaren Geld zu verdienen, von einem an wissenschaftlichen Reiseberichten interessierten Publikum nicht ernst genommen würden.schliessen so ist es mein entschiedener Wunsch, daß dieser Brief weiter in kein Haus gelangt, als ins Pfarrhaus Hirzel. Im Übertretungsfall wäre ich genöthigt, gar nicht mehr zu schreiben. —

Lange werden wir uns wohl in Brasilien nicht aufhalten; mein Ziel ist und bleibt die Westküste, die Anden; Auf weitere Pläne will ich mich aber jetzt nicht einlassen; ich berühre das nur, weil eben jetzt von Heimkommen keine Rede sein kann. Der Most mag im letzten Jahr ganz gut gerathen sein; das schreibt mir auch Brennwald; indeß einige Jahre muß ich jetzt noch darauf verzichten. — Was jene Pflanzenfaser betrifft, von der ich im letzten Brief geschrieben, so sind die Hoffnungen, die sich daran geknüpft, noch nicht zu Wasser geworden; Brennwald wird davon nächstens eine größere Quantität bekommen, und Versuche machen, ob dieselbe zu verspinnen ist, oder nicht.

Die Feier des Osterfestes 1857 in St. João in St. Paul die ich damals weitläufig beschrieben, war allerdings seltsamer Art, aber doch immerhin besser, als die vollständige Indifferenz gegen alle religiösen Feste, wie sie sich hier in und um Cantagallo findet. Weder Weihnacht noch Ostern wurden irgendwie gefeiert. Daß es Charfreitag war erfuhr ich an jenem Tage auf seltsame Weise: Wir haben auf unserer Fazenda einen Deutschen Tischler, der wie die meisten Deutschen Arbeiter hier, in hohem Grade dem Trunk ergeben ist. So oft er nach dem 2 Stunden entfernten Cantagallo reitet, kehrt er auch sicher in wüstem Rausch zurück, meist erst nach 2-3 Tagen. Eines Tages brach er früh auf, und kehrte schon Nachmittags ganz nüchtern von der Stadt zurück. Erstaunt fragte ich, was ihn veranlaßt hätte, eine Ausnahme von der Regel zu machen. Da antwortete er mir: "Sehn Sie, heute ist der größte Festtag in unserer Religion, den werd ich immer heilig halten." Da wußte ich denn, daß wir Charfreitag hatten; sonst wäre wahrscheinlich das ganze Osterfest an uns vorbei gegangen, ohne daß wir es gewußt hätten.

Letzthin habe ich eine auf einer benachbarten Fazenda angestellte Erzieherin aus Hamburg, welcher die öffentlichen wissenschaftlichen Vorlesungen in Paris den Kopf verrückt gemacht hatten, unglücklich gemacht. Ich hörte, daß sie eine große Sammlung von Mineralien angelegt hätte, und gieng hin, um dieselben zu besehen, da ich die ganze Gegend sehr arm an Mineralien gefunden hatte. Sechs Kisten waren bereits zierlich verpackt und zum Absenden [S.3] nach Europa fertig. Die Besitzerin hatte gar keine Lust, noch einmal auszupacken, was ich ihr durchaus nicht verargen konnte, aber sehr bedauerte. Da brachte sie einige Steine, die ihr noch übrig geblieben; ich erkannte in denselben gewöhnlichen unkrystallisirten Quarz, der nicht den mindesten, weder wissenschaftlichen noch pekuniären Werth hat, den man in Brasilien, wie in Europa fast auf allen Straßen findet. Ich sprach meine Ansicht darüber aus; die Betreffende fühlte sich sehr beleidigt, glaubte das seien weiß Gott was für seltene Mineralien, und sagte, in den verpackten Kisten sei Nichts Anderes, sie hätte aber diese Steine in den Sammlungen in Paris gesehen. Ich sagte, sie soll machen, was sie wolle; wenn sie aber solche Steine nach Europa schicke, so werde sie zum Schaden noch den Spott zu tragen haben. Da machte sie eine Kiste auf und bat mich, auch diese anzusehen; es war gar Nichts von irgend welchem Werth, alles derselbe Straßen- und Ackerstein; sie machte der Reihe nach alle 6 Kisten auf, und ich fand wahrhaftig nicht einen einzigen Stein, der den Transport werth gewesen wäre. Alles wurde auf die Straße geworfen und die Betreffende war ganz unglücklich: Sie hatte eine kindische Freude an ihren rothen und gelben Steinen gehabt und mehr als 100 Milreis (300 Fr.) dafür ausgegeben. Ich bedauerte fast, sie enttäuscht zu haben; ihre Freude war eben so begründet, als die vieler Mineralien-Sammler, die in ihren Steinen nichts als Farbe und Glanz bewundern.

In letzter Zeit habe ich durch verschiedene Ausflüge die Gegend etwas näher kennen gelernt; sie ist schön und interessant; ich mag mich aber nicht weiter darüber aussprechen, da ich kürzlich Alles niedergeschrieben habe, um diese kleine Arbeit in irgend ein Berliner-Journal zu schicken.492Vgl. Chr. Heusser, Ein Beitrag zur Kenntnis des Brasilianischen Küstengebirges, Zs. der Deutschen Geologischen Gesellschaft X (1858).schliessen Ich werde dafür sorgen, daß Ihr von dort ein Exemplar davon bekommt. — Auf diesen Ausflügen habe ich verschiedene Bekanntschaften gemacht, unter denen mir die eines Deutschen Arztes besonders von Werth ist. Er ist von einem reichen Fazendeiro hier, der mehrere hundert Sklaven hat angestellt, und nimmt keine Praxis außer dem Haus an. So bleibt ihm ziemlich freie Zeit für sich, die er ganz dem Photographiren und Daguerotypiren widmet. Das Aufnehmen von Personen hat keine Schwierigkeiten, darüber sind wir hinweg und Claraz praktizirt es bereits im Innern. Was aber die Aufnahmen von Landschaften betrifft, so ist es schwieriger; indeß werden wir es mit diesem Dr., namens Teuscher, zusammen wohl auch heraus bringen, und es werden wohl noch wenige Ansichten aus dem ganzen südlichen Amerika in Europa bekannt sein. — Außer diesem Dr. Teuscher habe ich in letzter Zeit auch einen 3 Stunden von hier niedergelassenen Zürcher, Namens Dietrich von Greifensee, einige Male besucht. Es ist eine sehr nette Familie; und von Zeit zu Zeit schwatzt man wieder einmal gerne über Zürchersche Krähwinkeleien, so dumm sie an sich sind. Ein Bruder von Dietrich ist Landschreiber in Greifensee; vielleicht, daß Nany ihn kennt. —

Also Tante Wichelhausen ist todt, und ruhe in Frieden! Dagegen freute mich die Verlobung Spyris mit Aega493Die Verlobung von Christians jüngerer Schwester Ega mit Spyris Halbbruder Jacques Spyri wurde kurze Zeit später wieder aufgelöst. Vgl. M. Heusser, Hauschronik, S. 113, sowie die mehrfachen Erwähnungen während des Jahres 1858 in Meta Heussers Memorabilien der Zeit: dazu R. Schindler, Memorabilien, S. 154, und Dies., Spurensuche, S. 148-150.schliessen sehr. — Den älteren Spyri bitte ich, dem Hr. Prof. Mousson zu sagen, daß in den nächsten Tagen die in hiesiger Gegend von mir gesammelten Conchilien an ihn abgehen werden. Ferner habe ich noch keine Nachricht über jenen Straßen-Administrador Gunther, werde ihm übrigens jedenfalls vor meiner Abreise noch darüber schreiben. — An jenen Burkhard in Melburne habe ich nun doch nicht geschrieben und thue es auch nicht, bevor mir einige Resultate meiner Reise vorliegen [S.4] bevor ich von weiteren Unternehmungen etwas Sicheres schreiben kann. Wenn Du, liebe Mama, an ihn schreiben solltest, so grüße ihn, und theile ihm kurz mit, wie es mit mir steht. Vielleicht daß ich einmal über Australien zurückkehre.

Von Crull in Berlin habe ich stets freundliche und reichliche Nachrichten; in Zukunft werde ich auch häufiger dahin schreiben; mit der ersten Arbeit hat es lange gedauert, sie kam mich übrigens auch ziemlich sauer an. Das Kärtchen, das dieselbe begleitet, habe ich in den heißesten Monaten October und November ausgeführt, als das Thermometer im Schatten bis 32° Celsius stieg. Im November 56 hatte ich eine ähnliche Arbeit im Kanton Luzern bei hart gefrorenem Boden ausgeführt. —

Also im nächsten Brief hoffentlich mehr Neues!

Mit herzlichem Gruß:
J. Ch. Heußer.
Bom Valle bei Canta Gallo 7t. Mai 58


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