Brief Nr. 67 – 3.10.1857
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67 3.10.1857
[3. Oktober 1857]
Liebe Eltern!

Bereits sind wieder zwei Monate verflossen, seit ich an Euch geschrieben, und die Zeit vergieng mir so schnell, als ob es gestern wäre. Ich habe mich an das hiesige Leben gewöhnt; das Neue von europäischen Sitten ganz Abweichende fällt mir nicht mehr so auf; ich weiß daher kaum mehr was Euch davon zu hören interessiren würde; außerdem mag ich jetzt nicht darüber schreiben, um mich später nicht zu wiederholen. Nägeli und ich haben nämlich im Sinn eine möglichst genaue Beschreibung der hiesigen Fazenda bekannt zu machen; ich bin gegenwärtig mit der Aufnahme eines Kärtchens derselben beschäftigt, und werde dabei das Geographische und Geologische so genau als möglich mit aufnehmen. Nägeli übernimmt den zoologischen Theil; wie ich im letzten Brief schon schrieb, ist es ganz merkwürdig, welche Mannigfaltigkeit im thierischen Leben entwickelt ist. Diese Mannigfaltigkeit ist es auch, die mich in jene Sammelwuth versetzt hat, die ich früher an andern Naturforschern nicht begreifen konnte, in dem ich selbst das Einzelne lieber bis auf den Grund erforschen wollte. Bei schnellem Durch-Reisen durch ein Land ist es unmöglich, solche Sammlungen anzulegen; auch bei längerem Aufenthalt an Einem Punkt würde es schwer sein für Reisende, die auf sich selbst beschränkt sind. Wir sind aber äußerst begünstigt dadurch, daß uns das ganze Heer der Schwarzen auf unsrer Fazenda zu Gebote steht; d. h. etwa 80-100 Leute, die täglich, was ihnen den Tag über zu Gesicht kommt, sammeln und uns zutragen. Wie Ihr aus dem Brief an Crull ersehen könnt, werden wir wahrscheinlich in kurzer Zeit so viele Insekten-Arten beisammen haben, als Spix und Martius,479Die deutschen Naturforscher Johann Baptist Spix (1781-1826) und Karl Friedrich Philipp von Martius (1794-1868) waren im Gefolge der Erzherzogin Leopoldina von Österreich und späteren Kaiserin von Brasilien im April 1817 nach Brasilien gereist, mit dem Auftrag, die Provinzen São Paulo, Minas Gerais u.a. zu erkunden.schliessen die berühmtesten Reisenden in Brasilien von einer 5 bis 6jährigen Reise zurückgebracht haben. Wenn die beiden Herrn übrigens darauf angewiesen gewesen wären, aus eigenen Kräften ihre Reise zu bestreiten, wenn ihnen nicht Hunderttausende von königlicher Seite zu Gebote gestanden hätten, sie wären vielleicht etwas fleißiger gewesen. — An die naturhistorische Beschreibung der Fazenda wird sich dann eine Schilderung der hiesigen Zustände, namentlich der Schwarzen und der Sklaverei überhaupt schließen. Das Ganze wollen wir, wenn wir die Daguerotypiemaschine erhalten, mit den Bildern einiger hier vertretener afrikanischer Negerstämme und mit der Ansicht der Fazenda selbst begleiten, damit wird zwar ein kleiner Fleck der neuen Welt bekannt, dafür aber so genau bekannt werden, wie es kaum noch ein andrer ist. Wenn die illustrirte Zeitung480Heusser denkt an die Illustrierte Zeitung, die in Leipzig erschien.schliessen dafür bezahlen will, so soll sie es bekommen, wo nicht so geben wir dasselbe als besonderes Schriftchen heraus. Im Laufe der Regenzeit denken wir damit fertig zu werden, und dann im Anfange der kalten Zeit hoffe ich meine erste größere Reise antreten zu können. Ich verweise über das Nähere wieder auf den Brief an Crull, den ich unter der Adresse: D. Crull, Assistent am K. Mineralienkabinet zu Berlin (Universitätsgebäude) zu befördern bitte. An Crull mußte ich schreiben, und zweimal dasselbe schreiben mag ich nicht. Ein merkwürdiger Zufall ist es jedenfalls, wie 4 alte Freunde [S.2] sich in Brasilien treffen, und ich nehme es als gutes Omen! Mein Zweck ist allerdings schon bei dieser ersten kleinern Expedition ein wissenschaftlicher. Doch kann dabei Geld gemacht werden, so wird es nicht verschmäht. Und ganz unwahrscheinlich ist dies nicht: als Mineraloge kenne ich wohl die Edelsteine, aber zum Handelsmann bin ich nicht geboren, und würde allein kaum Geschäfte machen können. Mit Meier481Kaspar Meyer von Altikon, hatte 1847/1848 an der Universität Zürich ein Jahr lang Theologie studiert. Matrikelverzeichnis der Universität Zürich.schliessen an der Seite ist es was Anderes; er ist als Handelsmann nach dem Innern gereist und kann diesen Theil übernehmen. Ich meinerseits werde mir im Innern, wo keine Ärzte mehr sind, und wo ich jedenfalls den menschlichen Leiden noch etwas eher auf die Spur kommen kann, als irgendein Anderer, keck als Arzt auftreten und mit Laudanum, Ricinusöl, Salmijak, Höllenstein und Queksilber Wunderkuren verrichten.

Seit meinem letzten Briefe bin ich wenig von hiesiger Fazenda weggekommen. Nur Einmal habe ich Dr. Nägeli begleitet, als er an die Parahyba etwa 8 Stunden weit von hier gerufen wurde. Es ist die Parahyba der Grenzfluß zwischen den Provinzen Minas und Rio de Janeiro und fließt westlich vom Küstengebirge von Süd nach Nord, und durchbricht dieses etwa unter dem 20t. oder 21t. Breitegrad. Als Küstenfluß erreicht er keine bedeutende Größe; doch mag er größeren Europäischen Flüssen gleichkommen. Wir überschritten den Fluß auch etwa ¼ Stunde, um das Ziel meiner Wünsche, die Provinz Minas, wenigstens vorläufig zu betreten. Übrigens hatten wir auch gehört, daß in der Nähe schöne Steine gefunden worden seien; es waren einige Amethyste, immerhin schön, aber nicht selten, auch in Europa ziemlich häufig. Möglich, daß in der Nähe mehr und schönere Exemplare vorkommen; aber die Leute sind zu faul, um zu suchen. Wo nicht Gold oder Diamanten in Aussicht stehen, da rühren sie kaum den Fuß.

Einem großartigen Tauffeste wohnte ich letzthin bei, das mit aller Pracht und allem Kostenaufwand hiesiger Feste gefeiert wurde; weil aber ein solches Fest wohl einige Tausend Franken zu stehen kommt, so wird es denn auch nicht für jeden Sprößling des Hauses, geschweige denn für jedes Negerkind veranstaltet. Der Festgeber war ein französischer Fazendeiro, unser nächste Nachbar, der das Fest für zwei eigne und etwa 8 Negerkinder aufbewahrt hatte. Die Taufe findet zu Hause selbst statt, der Pfarrer und alle befreundeten Fazendeiros ringsum bis viele Meilen weit werden mit ihren ganzen Familien dazu eingeladen. Erst werden natürlich die eigenen Kinder, nachher besonders die schwarzen getauft. Ich habe nie einer katholischen Taufe beigewohnt, weiß daher nicht ob in Europa dabei weniger oder ebenso viele Ceremonien stattfinden. Der Saal war so gedrängt voll, daß ich nur folgendes deutlich sah: den Kindern wurde mit einer Kohle ein Kreuz auf die Stirn gezeichnet und dann wieder durchgewischt. Begreiflich daß das ältere Kind, ein Knabe von 2 Jahren, dabei nicht ruhig bleiben wollte; zu dem Zweck wurde er denn vom Vater mit Cigarren und Wein besänftigt, und dies führte denn der Vater, als ein ächter Franzose, mit solchen Cabriolen aus, daß ich unwillkürlich an jenen Auftritt bei der Procession in St. João denken mußte: kurz die alte Geschichte, jede religiöse Feier, ist hier eine sinnlose Ceremonie, die ihresgleichen in Europa nicht hat, und wird gewöhnlich zu Spaß und Unsinn ausgebeutet. — Nach dieser Tauffeier, die in den Nachmittagsstunden stattfand, folgte dann ein großartiges Essen, und hierauf Ball die ganze Nacht hindurch. Beim Ball selbst war nichts Auffallendes, von Europäischen Sitten Abweichendes; denn auch das Störende, das dabei eintrat sieht einem Europäischen Gastgeber ziemlich ähnlich: Trotz allem Glanz des Festes hatte der Festgeber es nicht über sich vermocht, einen besonderen Musiker gegen Bezahlung anzustellen, [S.3] sondern hatte zu dem Zweck bloß einen armen Teufel aus dem Freienamt, der sich in Cantagallo kümmerlich mit Clavier-Unterricht ernährt, eingeladen. Für die Ehre und das Mittagessen sollte er die ganze Nacht Clavier spielen. Er benutzte aber den Anlaß, und trank sich so voll, daß von Clavierspiel von seiner Seite keine Rede mehr sein konnte und man im Anfang in großer Verlegenheit war. Einige Damen mußten eben abwechselnd Clavier spielen, statt tanzen. Wir waren die einzigen, die jene Nacht noch nach Hause ritten; alle andern Gäste blieben bis zum folgenden Morgen und beim Frühstück, das hier immer, bei solcher Gelegenheit um so mehr, ein volles Essen ist, soll unser gute Freiämtler den Ärger über den vorigen Tag durch einen noch größeren Rausch erstickt haben. Viel mehr Vergnügen als die große Gesellschaft machten sich durch ihren Tanz die Schwarzen, die sich auf der Tereira (ebene Steinplatten zum Trocknen des Café) also im Freien bewegten. Natürlich war ihnen um so weniger ein besonderer Musiker bestellt, dagegen hatten sie sich selbst 4 Instrumente zugerichtet, die auch nach dem Urtheil musikalischer Ohren, ganz harmonisch zusammenpaßten; es waren dies 1) ein leeres Faß, das als Pauke benutzt wurde, 2) zwei Pfannendeckel, 3) ein an einem Faden aufgehängter Eisenstab, der mit einem andern angeschlagen wurde, und 4) eine aus einem Takuara (baumartiges Rohr) verfertigte Pfeife, die ganz reine Flötentöne hervorbrachte; Damit spielten sie nur ganz melodische, afrikanische Weisen, und wenn musikalische Anlagen nothwendiger Weise verbunden wären mit geistigen, so wären jedenfalls diejenigen geschlagen, die behaupten, die Schwarzen seien eine geistig viel tiefer stehende Menschenklasse als die Weißen.

Bei Gelegenheit des Tauffestes gratulire ich auch zum Neffen in Richterschweil.482Johann Rudolf Maximilian, der Sohn des Bruders Theodor, starb noch im selben Jahr 1857.schliessen Wenn er 10 Jahre früher nach Amerika geht, als ich, so kann er in meinem Alter es zu etwas gebracht haben.

Was die Sterne betrifft, so habe ich in jenem Aufsatz gesagt, daß die schönsten Sternbilder in der Nähe des Äquators liegen und zwar zu beiden Seiten, auf der nördlichen jedoch weitaus die schönern, d.h. Plejaden, Hyaden, Orion und Sirius; das Kreuz verdient lange nicht seinen Ruhm, hat zwar eine deutlich ausgesprochene Form, aber besteht nur aus 4 matten Sternen. Der weitere südliche Himmel ist ziemlich sternenleer, und kommt dem nördlichen lange nicht gleich, hat keinen Löwen, Leier etc. Bei der Gelegenheit wiederhole ich übrigens trotz der Nachricht von der A.A.Z. meinen entschiedenen Willen kein Wort meiner Briefe in einem Zürcher-Blatt zu veröffentlichen. Herrn Pfr. Wild lasse ich herzlich grüßen; ich hoffe, auch er wird meine Beweggründe und Gefühle begreifen, und was die paar lumpigen Batzen betrifft, die es vielleicht eintragen würde, so ist hier jedenfalls mit andrer Arbeit in gleicher Zeit mehr zu verdienen.

Noch habe ich einen Punkt in der Colonisten-Angelegenheit vergessen, den ich zu berichtigen bitte. Dekan Burkhardt483Johann Jakob Burkhard (1799-1873) war seit 1832 Pfarrer in Stadel und 1852-54 Dekan. Zürcher Pfarrerbuch, S. 232.schliessen in Stadel hat mich vor meiner Abreise schriftlich gebeten, ihm Näheres von seinen Gemeindegenossen, von denen er mir ein schriftliches Verzeichniß gab, zukommen zu lassen. Außer den in meinem officiellen Bericht erwähnten habe ich noch eine Familie Walder getroffen, die Grund-Eigenthum in Prizicaba gekauft hat, und ziemlich ordentlich steht. Die meisten sollen aber in Ubatuba gewesen sein, wo sie es sehr schlecht hatten, jetzt aber von der Regierung weggenommen und wahrscheinlich gut gestellt sind.

[S.4] Hat der jüngere Spyri noch seine Bankstellung? Wenn ja, so hätte er vielleicht Zeit und Lust nebenbei einen Versuch zu machen, wie es mit dem Verkauf unserer Naturalien gehen würde. Ich glaube, auch für ihn wäre dabei ein Artiges zu verdienen, und vielleicht, daß die Sache selbst ihm noch Freude machen würde. Unsere Sammlungen wachsen so schnell an, daß wir bald einen Verkäufer in Europa haben müssen. Vor der Hand könnten wir hauptsächlich Käfer und Vogelbälge liefern. Er müßte sich eben Kataloge von Naturalienhändlern und Privatsammlern aus allen Ländern, besonders aus England verschaffen. Doch Näheres später, vorläufig soll er sich einmal darüber aussprechen, ob er Lust hat, oder nicht?

Der ältere Spyri soll doch Mousson mahnen, falls er meine bestellten Instrumente noch nicht versandt hat; er darf es wohl thun; wenn M. mir die Sache recht besorgt, so soll er auch zufrieden sein mit mir. — An Widmer und Walder herzliche Grüße; beiden werde ich mit dem nächsten Schiff antworten. Ich glaube Walder thut besser, nicht an die Protestanten484Um welche protestantischen Kolonisten es sich handeln könnte, konnte nicht aufgeschlüsselt werden.schliessen zu denken; jedenfalls kann ich nicht dahin gehen. Ausführlich darüber das nächste Mal. — Dem Agenten Erlach, den ich keineswegs persönlich kenne, antworte ich nicht.485Der Berner Agent Franz von Erlach schrieb eine lange "Erwiderung auf die Beschuldigungen des Dr. Heusser", die Spyri in der Eidg. Zeitg. vom 25. Juli bis 5. August 1857 in 10 Fortsetzungen publizierte.schliessen Im günstigsten Fall hat er nach dem, was ich selbst von seiner Handschrift geschrieben gesehen habe, armen Leuten Geld abgemarktet zu Gunsten der Hamburger-Juden. Ich glaube, er hat es zu seinem eignen Vortheil gethan. Überhaupt, wer Leute nach Amerika spedirt, ohne dieselben selbst zu besuchen, oder durch zuverlässige Leute besuchen zu lassen, ist ein gewissenloser Kerl.

Mit bestem Gruß an alle Freunde
Ch. Heußer
3t. October 1857.


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