Brief Nr. 66b – 3.8.1857
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66b 3.8.1857
[3. August 1857]
Lieber Spyri!

So eben, d. h. ½ Stunde bevor ich beiliegende Briefe abschicken muß, erhalte ich den Brief der lieben Mama vom 8t. Juni, sowie deine eingelegten wenigen Worte. Seitdem sind hoffentlich die Briefe, die mit den Schiffen vom Mai und Juni von Rio abgiengen, bei Euch angelangt.471Brief Nr. 65 (18. 4. - 21. 5. 1857). Wie Heusser selber schreibt, ging dieser im April angefangene Brief erst im Juni von Rio ab. Ein weiterer Brief vom Mai 1857 ist nicht erhalten.schliessen Was Ihr, nachdem Ihr diese Briefe gelesen, zu der Geschichte sagt, weiß ich nicht; auf die beiden Gerüchte,472Das Gerücht, das Heusser am meisten kränken musste, war der Vorwurf, er sei von den Kolonisten bestochen worden. Wie schon erwähnt, hatte José Vergueiro dafür gesorgt, dass die "Ehren-Erklärung", die Heusser am 4. März 1857 hatte abgeben müssen, auf schnellstem Wege nach Europa geschickt und dort stark redigiert im Auswandererblatt "Der Colonist" veröffentlicht worden war. Heusser hatte damals noch an die ehrlichen Absichten Vergueiros geglaubt. Der Widerspruch zu seinen später eintreffenden offiziellen Berichten war unübersehrbar und bot allen am Auswanderungsgeschäft Beteiligten die willkommene Gelegenheit, an seiner Ehrlichkeit zu zweifeln. Vgl. B. Ziegler, Schweizer statt Sklaven, Stuttgart 1985, S. 301-304.schliessen die von Rio aus in Umlauf gesetzt werden, antworte ich Folgendes: Am meisten habe ich mich getäuscht in Perry Gentil473Charles Perret-Gentil, früherer Schweizer Generalkonsul in Rio de Janeiro, machte in der Schweiz schon 1851 Propaganda für das Halbpachtsystem und animierte damit viele Schweizer zur Auswanderung auf die Plantagen der Firma Vergueiro. Sein Bruder war mit einer Tochter des Senators Vergueiro verheiratet. Charles Perret-Gentil war während Heussers Besuch in Ibicaba ebenfalls dort anwesend.schliessen und in Diethelm. Ersterer ist, wie aus dem Aktenstück, das ich an Benz geschickt habe, [hervorgeht,] entschieden ein Spitzbube; bei den Herren in Rio474"Die Herren in Rio" wird nun ein stehender Ausdruck für die Schweizer Kaufleute in der brasilianischen Hauptstadt, die vor allem an ihren eigenen guten Beziehungen und Geschäften interessiert waren und sich nicht ernsthaft um das Schicksal der Kolonisten kümmerten.schliessen stand er aber bis zu dieser Geschichte in großem Ansehen, und ich hatte a priori keinen Grund, demselben zu mißtrauen. Diethelm, der mir von den Herren in Rio mitgegeben worden ist als "Chancelièr des General-Consuls" wie er dort großartig genannt wird, von mir auch nicht gleich als das erkannt worden, was er ist, nämlich als ein Hallunke. Daß die Herren in Rio mir Unerfahrenem, eben erst aus Europa Angekommenen, einen Hallunken mit zu dieser schwierigen Mission mitgaben, das durfte ich freilich nicht erwarten. — Der Name Hallunke ist nicht zu stark für Diethelm.475Diethelm wurde der neue Direktor der Plantagen Vergueiros, wie Heusser selber in seinem 1. Bericht an Oberst Benz (Brief Nr. 64) erwähnt. Heussers Enttäuschung über Diethelm war umso grösser, als er sich ja zunächst mit ihm so gut verstanden hatte.schliessen Indeß will ich, was ich seither mit Sicherheit von ihm weiß, Dir nicht mittheilen; ich beabsichtige keineswegs durch Anklagen gegen [S.2] Diethelm jenen meinen Brief zu rechtfertigen. Es ist mein entschiedener Wille, daß Diethelm in keiner Weise von Dir öffentlich blamirt wird; ich drohe bei der Übertretung meines Willens damit, daß ich kein Wort mehr schreibe. Was ich gethan, dazu stehe ich auch, und sage zudem frei heraus, daß an jenem Brief die Regierungen der Schweiz und die Herren in Rio selbst schuld sind.

Die Kantons-Regierungen hätten mich nicht so entblößt reisen lassen, das Anerbieten der Gesellschaft Vergueiro gar nicht annehmen sollen.476Der Vorwurf war berechtigt, doch hatten die Kantonsregierungen ebenso wenig eine Ahnung brasilianischer Gepflogenheiten wie der Abgesandte Heusser, daher lag die Hauptschuld bei den "Herren von Rio", die hätten warnen müssen, aber doch hauptsächlich an ihre eigenen Geschäfte dachten.schliessen Durch den weisen Rath der Herren in Rio, bei Vergueiro gar nicht als Abgesandter der Regierungen, sondern als sein Eingeladener und Freund aufzutreten, kam es vollends, daß ich in St. Paul gar keine Macht in Händen hatte, ein reiner Spielball war. Außerdem hatten die Herren in Rio bis wenige Monate vor meiner Ankunft, selbst die Auswanderung nach St. Paul empfohlen, ohne daß Einer sich die Mühe genommen hätte selbst hinzugehen, und zu sehen. Und jetzt, als die Sachen so weit gediehen waren, wie Du jetzt weißt, da hätte ich alles ganz so wie [in] einem civilisirten Europäischen Staat dadurch in Ordnung bringen sollen, daß ich zu Vergueiro gesagt hätte, das erste Unrecht und schreiende Unrecht ist von dir geschehen, alle Schritte der Colonisten sind daher zu entschuldigen.477Wie aus Heussers Brief an Oberst Benz vom 2. Juni 1857 hervorgeht, war Heusser anfangs März auf der Plantage Angelica massivem Druck durch beide Brüder Vergueiro ausgesetzt, ohne irgendein Machtmittel in der Hand zu haben.schliessen Die Herren in Rio kennen von den Verhältnißen im Innern Brasiliens (mit Ausnahme von David) ebenso wenig als irgend ein Europäer. [S.3] Niemand als ich selbst weiß, welch schlaflose Nächte ich in St. Paul gehabt, welchen Kampf mich jener Brief gekostet; ich weiß aber auch, daß ich fest und treu Ein Ziel verfolgt hätte, wenn die ganze Sache von Rio aus nicht eine andere Wendung bekommen hätte.478Mit dem Vorwurf, von den Kolonisten bestochen worden zu sein, wurde Heussers Mission und Bericht sowohl in Rio de Janeiro wie in den am Auswanderer-Geschäft interessierten Kreisen in Europa diskreditiert.schliessen

Ich habe zu viel gesagt; es war bereits und zwar vor etwa 2 Jahren, also während Luiz Vergueiro Verwalter war, und alle die Schweinereien auf Ybicaba bereits stattfanden, ein Schweizer monatelang auf Ybicaba, und zwar ein Bruder von dem Kaufmann Vollenweider, an den ich einen Brief von Dubs hatte. Dieser hatte alle Bücher durchstöbert, wußte alles, und doch geschah von Rio aus nicht Ein Schritt gegen die Auswanderung. Und doch war der Kaufmann Vollenweider nicht der letzte, der von Bestechung gesprochen hat; nachher freilich hat er mich wieder in Güte aufgenommen. — Dem Widmer habe ich das letzte Mal schon geschrieben, daß man sich in keine Zeitungs-Polemik einlassen soll. Noch jetzt ist mir dies das liebste; sagen die Schweinehunde, was sie wollen. Sollte aber doch irgend eine Vertheidigung nicht zu vermeiden sein, dann nur keine Entschuldigung, sondern losgedonnert, und denen wüst gesagt, die es verdienen! Wenn Davatz in der Schweiz die volle Wahrheit sagt, so werdet Ihr Euch überzeugen, daß die Zustände in St. Paul Einen weit hinter das Mittelalter, fast in die ganz alte Welt zurückversetzen. Mich erinnerten sie oft an die Geschichten des [S.4] Herodot; und wenn ich mich nicht sehr irre, hat Cyrus mit den Persern durch List und Geduld die Meder besiegt! Christian

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