Brief Nr. 64 – 28.3.-6.4.1857
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64 28.3.-6.4.1857
[San Lorenzo, 28. März - São João, 6. April 1857]
Hoch geehrter Herr Oberst!419Dieser erste Bericht Heussers über die Lage der Schweizer Kolonisten in Brasilien ist an den Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements Oberst Benz gerichtet. Abschrift von fremder Hand. Das Original befindet sich im StAZH im Bestand N 53a.schliessen

Nach meiner glücklichen Überfahrt werden Sie gewiss schon längere Zeit Nachrichten von mir über die Colonien selbst erwartet haben.420Die Kopie des Textes im Johanna-Spyri-Archiv ist von Spyri redigiert: Die Anrede "Hoch geehrter Herr Oberst!" ist ersetzt durch den Titel "Aus dem ersten Bericht von Dr. Christian Heusser". Diese redigierte Textfassung publizierte Spyri in der Eidg. Zeitg. mit der Vorbemerkung: "Bei der allgemeinen Spannung, mit der die Berichte des Schweiz. Abgeordneten erwartet wurden, und da sich bereits das Misstrauen und die Verdächtigung an seine Person gewagt haben, theilen wir den ersten Bericht an Herrn Polizeidirektor Benz, obwohl er ein bloß vorläufiger und halbamtlicher ist, mit wenigen Abkürzungen mit. Der Berichterstatter erklärt ausdrücklich, daß der Brief in größter Eile geschrieben sei. Der Brief ist vom 28. März datirt." Eidg. Zeitg. Nr. 170 und 171, S. 679f. und 684, vom 21. und 22. Juni 1857.schliessen Es war mir indeß nicht möglich früher etwas Sicheres an Sie zu schreiben. Am 19. Januar kam ich nämlich in Rio de Janeiro an, und verweilte hier bis Ende des Monats. Wäre nicht die Nachricht von dem Ausbruch einer Revolution auf der Colonie Ybicaba nach Rio gedrungen, so hätte ich mich wahrscheinlich noch länger in dieser Stadt aufgehalten; denn in Europa hat man, kurz gesagt, gar keinen Begriff von den hiesigen Verhältnißen, und 12 Tage sind jedenfalls sehr wenig, um sich mit dieser ganz neuen Denk- und Lebensweise der Brasilianer bekannt zu machen. — Vom Schweizerischen Consul David in Rio, von den Herren Vollenweider421Johann Ulrich Vollenweider (*1818) war um 1850 in Rio de Janeiro mit seiner Handelsfirma Vollenweider & Cie. registriert. B. Veyrassat, Réseaux d'affaires internationaux, émigrations et exportations en Amérique latine au XIXe siècle, Genève 1993, S. 424.schliessen von Zürich, Lutz422Gustav Lutz leitete in Rio de Janeiro um 1850 das Handelshaus J. Keller & Cie. B. Veyrassat, Réseaux d'affaires internationaux, émigrations et exportations en Amérique latine au XIXe siècle, Genève 1993, S. 439.schliessen von Bern, sowie von allen andern in Rio niedergelassenen Schweizerischen Kaufleuten bin ich mit der größten Zuvorkommenheit aufgenommen, und von denselben auf eine Weise unterstützt worden, die ich nicht genug anerkennen kann.

So muß ich Ihnen vor Allem gestehen, daß ohne pekuniäre Unterstützung von dieser Seite mir die Reise nach den Colonien in St. Paulo geradezu unmöglich gewesen wäre. Näheres darüber im folgenden Briefe. Diese Schweizer in Rio gaben mir auf ihre Rechnung einen Begleiter mit, nämlich den Sekretär des Consuls David, Herrn Diethelm von Lachen, der mir nicht bloß der Kenntnis der portugiesischen Sprache wegen, sondern ganz besonders in der Beurtheilung der Café-Preise, der Qualität des Cafés, der Arbeit der Colonisten in den Café-Bergen wesentliche Dienste geleistet hat. Da er längere Zeit als Direktor einer Café-Plantage vorgestanden, konnte ich mich auf sein competentes Urtheil verlassen.

[S.2] Am 1. Februar reisten also Diethelm und ich zusammen von Rio ab, trafen am 3. in Santos ein, mussten dort wegen Besorgung der Maulthiere einige Tage warten, und traten am 5. die Landreise ins Innere an. In den Städten St. Paul und Campinas hielten wir uns noch je 1 Tag auf, und kamen so erst am 12. Febr. in der etwa 40 Legoas (d.h. etwa 50 Schweizerstunden) von Santos entfernten Colonie Ybicaba an.423Der vollständige Bericht Heussers, der 1857 von der Direktion der Polizei des Kantons Zürich publiziert wurde, ist veröffentlicht unter Heusser-Bericht.schliessen

Ybicaba ist die größte aller dieser auf Halbpacht424Beim Halbpachtsystem (parceria) bestand der Pachtzins in der Hälfte des Ertrags. Der Erlös für die vom Pächter erzielte Ernte wurde zwischen ihm und dem Besitzer der Plantage geteilt.schliessen gegründeten Colonien, Besitzthum des Hauses Vergueiro. Hier war der Lehrer Davatz425Thomas Davatz (1815-1888) war mit dem Auftrag des Kantons Graubünden nach Brasilien gereist, einen Bericht über die Auswanderer zu schreiben. Mit grosser Mühe gelang es ihm schliesslich, einen Brief - eben jenen "Jammerbrief" - an der strikten Zensur der Fazendaverwaltung vorbei zu schmuggeln. Zur Biographie des Davatz vgl. S. Davatz, Thomas Davatz. Bitterer Kaffee — ein Bündner Lehrer in Brasilien, in: Der Traum vom Glück, Zürich 2003, S. 22-40. HLS Bd. 3, S. 592.schliessen aus Graubündten, von dem voriges Jahr jener Jammerbrief an die Regierung Graubündtens gelangt war, und welcher selbst der intellectuelle Urheber und Leiter der ganzen Bewegung, ich kann fast sagen der einzige vernünftige und gebildete Mann auf sämmtlichen Colonien war. Aus diesen Grunden, und weil es außerdem im Anfang nothwendig war, einige Tage darauf zu verwenden, das Halbpachtsystem426Zum System der Halbpacht und den Gründen dafür, dass es nicht funktionieren konnte, vgl. die Analyse von B. Ziegler in ihrer Dissertation Schweizer statt Sklaven. Schweizerische Auswanderer in den Kaffee-Plantagen von São Paulo (1852-1866), Stuttgart 1985.schliessen im Allgemeinen in seiner Anwendung kennenzulernen, verweilten wir verhältnißmäßig lange auf Ybicaba, nämlich fast drei Wochen. Als wir hier fertig waren, brachten wir noch eine Woche auf der zweiten, kleinern, etwa 6 bis 7 Stunden entfernten Colonie des Hauses Vergueiro, auf Angelica, zu, und legten dann dem Chef der Häuser Vergueiro, Herrn José Vergueiro die Klagen der Colonisten, die uns begründet schienen, vor. Noch habe ich vergessen zu erwähnen, daß wir wirklich vollständig ungehindert die Rechnungsbücher der Colonisten, sowie die Hauptbücher, Maaß und Gewicht, kurz Alles, was wir verlangten, einsehen und untersuchen konnten. Wir können die Offenheit, und die ganze Art der Behandlung von Seite des Herrn José Vergueiro nicht genug anerkennen, und es war uns besonders diese Offenheit ein Beweis, daß der Chef des Hauses Nichts von den großen Mißbräuchen gewußt hatte, die sich in der Verwaltung eingeschlichen.427Wie aus den nicht für die Veröffentlichung bestimmten Begleitbriefen Heussers an Oberst Benz hervorgeht, hatte er zu diesem Zeitpunkt die Täuschungsmanöver der Herren Vergueiro schon durchschaut. Sie wussten sehr genau Bescheid über die Missbräuche, z.B. über falsche Abrechnungen zu Ungunsten der Kolonisten. In den offiziellen Berichten kann Heusser das nicht explizit aussprechen. Er hatte sich mit der sog. "Ehren-Erklärung", die er dem Hause Vergueiro schon am 4. März ausstellen musste, festgelegt. Zudem musste er um sein Leben fürchten, denn, wie er es im Brief an Benz vom 14. Juli 1857 ausdrückt: "Vergueiros Arm ist groß". Vgl. die Briefe an Oberst Benz, Zusätzliche Dokumente Nr. II.3-5 (Zitat in II.5) unter Materialien.schliessen

Diese Mißbräuche waren allerdings groß, so groß, daß man nach Europäischen Rechtsbegriffen sich keine Vorstellung davon machen kann. Herr José Vergueiro war aber bereit, alles geschehene Unrecht gut zu machen, und den Contrakt den Colonisten gegenüber bis auf zwei streitige Punkte vollkommen zu halten; außerdem gewährte er den Colonisten noch einige kleinere Vergünstigungen, zu denen er nicht einmal verpflichtet war. — Eine Garantie dafür, daß Vergueiro Ernst machen will, liegt darin, daß Diethelm als General-Direktor seiner beiden Colonien von ihm angestellt ist.428Mit der Formulierung, José Vergueiro habe von den Missständen nichts gewusst und werde nun ernstlich für Besserung sorgen, sucht sich Heusser selbst aus dem Widerspruch zu befreien, in den er hineinmanövriert worden war: Man machte ihm sehr deutlich klar, dass er sich als Gast des Hauses Vergueiro nicht kritisch über die Gastgeber äussern durfte. Dennoch musste und wollte er die auf den Kolonien beobachteten Missstände deutlich benennen.schliessen

Mit diesen Anerbietungen Vergueiros traten wir Sonntags den 8. März vor die Commission der Colonisten, und Montags den 9. vor sämmtliche Colonisten in offener Landsgemeinde. Es brauchte viel Mühe, die Leute zur Annahme zu bewegen, weil sie überspannte Hoffnungen und Erwartungen von unsrer Mission hatten,429Die "überspannten Hoffnungen", welche die Kolonisten auf Heussers Mission setzten, die zum Teil ganz falsche Einschätzung seiner Möglichkeiten, anhaltend einzugreifen, sollten ein Hauptproblem für Heusser werden. Die nachträglichen Behauptungen, er habe den Betroffenen zu viel versprochen, waren ein Hauptklagepunkt in der Polemik gegen ihn und weder zu beweisen noch zu widerlegen, weil dazu nichts Schriftliches existierte.schliessen und ich muß allerdings gestehen, daß es auch bei diesen Vergünstigungen Vergueiros vielen Colonisten, die eine große Schuldenlast auf sich geladen haben, schwer oder gar unmöglich sein wird, sich je schuldenfrei zu machen, wenn die Heimatgemeinden den Vorschuß nicht nachlassen.430Hier berührt Heusser einen wunden Punkt aus der Sicht der Heimatgemeinden: Viele waren gar nicht darauf erpicht, ihre Gemeindeglieder, die sie abgeschoben hatten, wieder zurückzuholen, und ihnen die vorgestreckten Reisekosten zu erlassen.schliessen

Gegenforderungen Vergueiros waren die, daß die Leute fleißiger und enthaltsamer (beides sehr begründet) wer[S.3]den, und daß Davatz die Colonie verlassen soll. Dienstag den 10. März ist dann Davatz wirklich verreist, und wird Ihnen entweder selbst diesen Brief überbringen, oder bald nach demselben bei Ihnen eintreffen. Ich darf daher umso eher die Einzelheiten über Ybicaba hier weglassen, und Sie auf die mündliche Erzählung des Davatz verweisen. Ueber Davatz sind viele Verläumdungen ausgestreut worden. Nach allen glaubwürdigen Nachrichten, die ich über diesen Mann eingezogen, ist er aber ein Ehrenmann, und ich bin überzeugt, daß er Ihnen mit Wissen keine Unwahrheit sagen wird. Trotzdem wird mein specieller Bericht in vielen Punkten von seinen Mittheilungen abweichen, da eine unpartheiische, leidenschaftslose Darstellung von dem Haupte der ganzen Bewegung kaum zu erwarten ist.431Vgl. den Bericht von T. Davatz, Zur Behandlung der Kolonisten in der Provinz St. Paulo in Brasilien und deren Erhebung gegen ihre Bedrücker, Chur 1858.schliessen — Jedenfalls aber bitte ich Sie, Ihr Möglichstes zu thun, daß dem Davatz von seiner Heimath-Gemeinde der Vorschuß der Ueberfahrt geschenkt, oder daß derselbe von Seiten der betroffenen Kantons-Regierungen bezahlt, und daß außerdem für Davatz und seine Familie gesorgt werde. Er hat sich unbedingt ein großes Verdienst erworben um mehrere hundert Schweizer-Familien aus fast allen Kantonen; denn er hatte Verbindungen angeknüpft mit allen Schweizer-Colonien in dieser Provinz. In mehreren andern sieht es noch viel schlimmer aus, als selbst früher in Ybicaba. Ich habe bereits eine Colonie getroffen, wo die Colonisten wenig vor den Sclaven voraus haben, vielleicht seit ihrer Ankunft mehr leiden mußten, als Sclaven, hoffentlich aber nächstens befreit werden.

Auf der Colonie, auf der ich mich jetzt befinde, sind die Verhältnisse ähnlich, wie in Ybicaba. Diese Colonie, "St. Lorenzo"432Vgl. Heussers Schlussbericht, S. 58-64 (Heusser-Bericht).schliessen gehört einem großen Gutsbesitzer und reichen Herrn,433Commendador Luiz Antonio de Souza Barros war einer der bedeutendsten liberalen Politiker Brasiliens, ein Freund Senator Vergueiros. Vgl. B. Ziegler, Schweizer statt Sklaven, Stuttgart 1985, S. 248f.schliessen der in der Hauptstadt der Provinz St. Paul wohnt, und nur einige Wochen jedes Jahr hier zubringt. In die Verwaltung mögen sich auch hier Mißbräuche eingeschlichen haben, von denen der Herr Nichts weiß; indeß sind doch in einem wesentlichen Punkte die Colonisten hier mit Wissen und Willen des Herrn schlechter gehalten, als in Ybicaba, und da wird es wohl schwerer zu helfen sein. — Die Colonisten erhalten nämlich fast gar kein baares Geld, ganze große Familien erhalten in einem ganzen Jahre nicht mehr als 15-20 Milreis (45-60 Franken) d.h. bei den hohen Preisen, in denen hier Kleider, Schuhe, Eisenwaren, kurz alle nothwendigen Sachen stehen, so wenig, daß die Kolonisten fast Alles auf der Fazenda zu kaufen gezwungen sind. Hier ist aber Alles in höhern Preisen, als ringsumher bei den Bauern, und in den kleinen Städten; und so gewinnt der Herr nicht bloß am Café, sondern auch an den Lebensmitteln und in der Loge,434Verkaufsstelle auf der Plantage. In der Loge konnten und mussten die Kolonisten sich mit allem Lebensnotwendigen eindecken. Andere Einkaufsmöglichkeiten gab es nicht.schliessen (so wird nämlich der Kaufladen genannt, der vom Herrn gehalten wird, und in welchem sich alle nothwenigen Kleider und Geräthe vorfinden) und der Colonist kommt gar nicht mehr aus den Schulden heraus. — Mit Beziehung auf die Loge habe ich vielleicht dem Besitzer von St. Lorenzo Unrecht gethan. Es ist möglich, daß, wie der Direktor behauptet, die Logen-Preise hier sogar billiger sind, als in der Stadt. Mit Lebensmitteln wird aber sicher auch auf dieser großen und bekannten Colonie Wucher getrieben, und die Entziehung des Geldes geht so weit, daß kranke [S.4] Leute ohne Arzt, Arzeneien und bessere Nahrung dahinsiechen müssen. — Die beiden andern Colonien, die ich noch gesehen, gehören einem ungebildeten Bauern,435Zur Kolonie Boavista des Benedito de Camargo vgl. Heussers Schlussbericht, S. 49-52 (Heusser-Bericht).schliessen und einem auch nicht sehr gebildeten Doktor der Rechte, welche beide durch die Colonisten schnell reich werden wollen, und darum die Entziehung des Geldes noch weiter treiben, in der Loge und auf den Lebensmitteln noch mehr gewinnen wollen, als dies in Lorenzo der Fall ist. Außerdem sind beide sehr erfinderisch im Aufsuchen von Mitteln und Wegen, die Colonisten recht tief in Schulden hineinzurennen. Ich will nur die grellsten Beispiele anführen: Der Bauer ist offener, er führte einfach Geldstrafen ein für verschiedene Vergehen, zum Beispiel wenn ein Colonist ohne Erlaubniß nach dem Städtchen St. João zur Kirche oder zum Arzt ging, dann gleich 5 Milreis (15 Frk.) Strafe. Der Advokat436Dr. José Elias Pacheco Jordão wird von Heusser mehrfach genannt als besonders brutaler und ausbeuterischer Plantagenbesitzer. Heusser, Schlussbericht, S. 52-58 (Heusser-Bericht).schliessen trieb das Ding etwas geheimer, und hatte einen Alqueiro, (das Maaß, nach welchem den Colonisten der Cafè bezahlt wird), der nahezu 5½ statt 4 Quart hielt. In einigen Punkten haben die Leute beim Advokaten (Bündtner und Schaffhauser) es zwar noch besser, als beim Bauern, (Unterwaldner). Durch einen Gewaltstreich des ersteren sind aber seine Colonisten dermaßen verletzt, und in Wuth gebracht, daß ein Bleiben nicht mehr möglich ist. Anfangs Februar nämlich, kurz vor unserer Ankunft in Ybicaba, ließ der Advokat mehreren Colonisten-Familien ihre fast reifen Feldfrüchte (Reis, Mandioken, Bohnen) durch seine Schwarzen abschneiden. Grund hatte er keinen, reine Bosheit trieb ihn dazu. — Vergueiro selbst ist geneigt, diese Leute vom Advokaten wegzunehmen; den Unterwaldnern wollen wir sonst, so gut als möglich, zu helfen suchen. — Sie können sich denken, daß wir unter solchen Verhältnissen viel Jammer und Elend getroffen haben; daher noch einige Worte über diejenigen, welche vorzüglich das Unglück verschuldet haben, die Agenten. Allen legen die Leute ohne Zweifel mit Recht zur Last, daß sie ihnen Hoffnungen gemacht, die nie und nimmer in Erfüllung gehen, daß sie sie um schnöden Geldes willen nach Brasilien verlockt, d.h. eben nicht viel anders als verkauft haben. Alle werden ferner wegen wirklicher Betrügereien angeklagt, ob mit Grund, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen; ziemlich sicher scheint aber diese Anklage zu sein mit Beziehung auf Bry437Vom Genfer Agenten Bry sagt Heusser im Brief vom 2. Juni 1857 an Oberst Benz: "Bry spedirte die Leute bloß bis Rio de Janeiro statt nach seinem Contrakt bis Santos, etwa 60-70 Stunden weiter." Diese wurden "nicht bloß um die Passage von Rio de Janeiro bis Rio grande oder Santos betrogen, sondern [...] sie sind hülflos in eine große Stadt versetzt, wo sie kein Wort verstehn, und dem größten Elend Preis gegeben wären, wenn sie nicht das Schweizerische Consulat auffinden, und von diesem [...] weiter spedirt würden. Die von Bry spedirten Leute klagen ferner, daß ihnen auf der Reise mehrere Koffer und Kisten verloren gegangen seien, für welche der Agent nach dem Contrakt verantwortlich ist, aber Nichts bezahlt hat."schliessen in Genf, Erlach438Franz von Erlach betrieb eine Auswanderer-Agentur in Bern und war über Heussers Vorwürfe besonders empört. Seine Entgegnung veröffentlichte Spyri in der Eidg. Zeitg. über mehrere Tage hin.schliessen in Bern, und Greve439Ph. J. Greve, Agent in Zürich, empfahl sich in Inseraten in den Zeitungen als Spediteur nach Brasilien. Er betrog die Auswanderer insofern, als er sich vertraglich verpflichtet hatte, sie für das abgemachte Reisegeld an ihren neuen Wohnort zu transportieren, viele von ihnen aber einfach in Rio de Janeiro stehen liess, wo sich die Leute ohne Kenntnis der Landessprache und ohne Geld nicht zu helfen wussten. Vgl. Heussers Brief an Oberst Benz vom 2. Juni 1857, Zusätzliche Dokumente Nr. II.3 unter Materialien.schliessen in Zürich.440Auf diesen Vorwurf reagierten die namentlich genannten Agenten scharf und verdächtigten ihrerseits nun Heusser, von den Kolonisten bestochen zu sein, während sie selber nur das Beste der Auswanderer im Auge hätten.schliessen

Den ganzen Brief habe ich in Eile geschrieben, und bitte daher um Entschuldigung, daß ich nicht mehr Details gegeben. Vor einigen Stunden nämlich hörte ich, daß Briefe, die am 15. April mit dem Englischen Postdampfschiff abgehen sollen, schon heute von hier abgehen müssen. Der Hauptzweck dieser Zeilen war, Davatz bei Ihnen einzuführen. Noch habe ich aber von Davatz Eines vergessen: Davatz hat voriges Jahr einen Jammerbrief an die Regierung Graubündtens gerichtet, der jeden Leser unangenehm berühren muß, weil D. darin bloß von seiner Person spricht. Der Mann muß damals den Kopf verloren haben. Jedenfalls hat er seither gezeigt, daß er nicht bloß an sich denkt: Vergueiro hatte ihm nämlich schon vor unserer Ankunft Schenkung seiner Schuld und freie Reise nach Europa angeboten. D. hatte es aber damals nicht angenommen, weil er seine Brüder nicht verlassen wollte, solange sie keine andere Hülfe hatten.

Hochachtungsvoll ergebenst Dr. J. Ch. Heusser.
Colonie St. Lorenzo, Provinz St. Paulo in Brasilien. 28. März 1857

[S.5] Nachschrift aus St. João den 6. April: — Mein Brief ist richtig einige Stunden zu spät zur Post gekommen, es zeigt sich aber gerade heute wieder eine Gelegenheit, den Brief nach Santos zu schicken, daher will ich Ihnen noch kurz mittheilen, was ich seitdem gesehen.

Es sind dies zwei kleine Colonien, beide von armen Teufeln angefangen, die bisher Veitonen (Sclavenaufseher) oder Administradoren (Verwalter von Fazenden) waren, und am besten beweisen, wie einträglich das Geschäft ist, Colonisten zu halten. Der eine,441Elias Velho auf der Kolonie São Antonio: vgl. Heussers Schlussbericht, S. 64-66.schliessen der 5 Berner- und 2 Freiburger-Familien hat, wuchert in hohem Grade mit Lebensmitteln und in der Loge, hat Strafen darauf gesetzt, wenn die Leute ohne Erlaubniß die Colonie verlassen, und ist überhaupt ein roher Mensch, der die Colonisten ziemlich den Sclaven gleich hält. Der beste Beweis, daß dieser Mann die Leute recht tief in Schulden hineinbringen und von sich abhängig machen will, ist der, daß er für alle 7 Familien nicht mehr Café hat, als 2 Familien bearbeiten können, während doch die Café-Gewinnung der einzige Verdienst der Leute ist. — Die Berner sind erst voriges Jahr gekommen, und sind gleich von Anfang an dadurch vollständig entmuthigt worden, daß 4 Familien mit 28 Personen 7 Monate lang in einer Wohnung zubringen mußten, die ich höchstens mit einem europäischen Hühnerstall vergleichen kann, und die nicht mehr als 20 Schweizer-Fuß Länge und 13 Fuß Breite hatte; und dies in der tropischen Regenzeit! — Kurz ich glaube diese Leute sind schlimmer dran, als irgend welche andere, und diese Berner haben uns unter Thränen gebeten, sie aus dieser Sclaverei zu befreien!

Ich brauche Ihnen wohl nicht zu versichern, daß wir unser Möglichstes thun werden, aber wenn man keine Finger hat, kann man keine Faust machen! — Die Hauptsache habe ich noch vergessen, nämlich die, daß dieser Caféberg-Besitzer allgemein als ein Schurke bekannt ist, von dem also täglich die größten Willkürlichkeiten und Gewaltthätigkeiten zu erwarten sind.

Ein wohltuendes Gegenstück zu dem vorigen Bauern bildet ein zweiter mit 2 Schaffhauser-Familien, der sein wahres Interesse am besten kennt, und seine Leute als Menschen behandelt.442Die Kolonie Moro alto gehörte Joze Rodrigues Cäsar. Von ihm schreibt Heusser im Schlussbericht, dass er und seine Kolonisten zufrieden seien. "Hier zeigt sich's recht, wie schöne Früchte dieses Halbpacht-System tragen könnte, wenn die Fazendeiros ihr eigenes Interesse besser verstehen und sich mit dem Gewinn am Kaffee begnügen würden" (S. 66).schliessen Er hat in der That einen kleinen, aber so niedlichen und saubern Caféberg, wie ich noch keinen gesehen, und sieht ein, daß es sein eigener Vortheil ist, die Colonisten gut zu behandeln, und keinen andern Gewinn zu erzielen, als nach dem Contrakt die Hälfte des Café-Ertrags. Beide Familien waren leider früher bei dem oben genannten Advokaten, und erst seit vorigem Jahr bei dem jetzigen Herrn; den Advokaten haben sie mit je 1'000 und 600 Milreis (3'000 u. 1'800 Frk.) [S.6] Schulden verlassen, werden aber, wenn der jetzige Herr sich gleich bleibt, in 4 oder 5 Jahren aus den Schulden heraus kommen. Hätten sie seit ihrer Ankunft einen solchen Herren gehabt, so hätten sie ohne Zweifel bereits ein kleines Vermögen. — Der Gedanke des Halb-Pachtsystems war schön, die Ausführung aber in den meisten Fällen schändlich!

Von Lorenzo aus machte ich nun noch einen Abstecher nach der 3 Legoas entfernten Stadt Prizicaba, wo viele Schweizerische Straßenarbeiter, und die einzige auf Grundeigenthum niedergelassene Schweizer-Familie (Walder von Stadel, Zürich)443Im September 1855 wurden Hans Heinrich Walder und seiner Frau, sowie fünf Geschwistern Walder von Stadel Pässe nach Brasilien ausgestellt. Passerteilungen nach Südamerika (www.staatsarchiv.zh.ch.).schliessen sich befindet. Letztere ist erst seit letzten Herbst dort, ich kann daher noch nicht von ihrem Erfolge sprechen. — Und was die Straßen-Arbeiter444Zu den Strassenarbeitern vgl. Heussers Schlussbericht, S. 80-83.schliessen betrifft, so ist ihre ganze Lage, obgleich sie von der Provinzial-Regierung angestellt sind, doch eine traurige, und ich kann nicht umhin, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß gerade gegenwärtig eine große Anzahl Straßen- und Eisenbahn-Arbeiter durch die Hamburger Agentur für ein Privat-Unternehmen am Muccuri gesucht wird. Ich hörte den Agenten der Hamburger-Gesellschaft selbst aussprechen, er habe ein gutes Geschäft gemacht, es sei bei ihm "eine Ladung" Straßen-Arbeiter bestellt worden. — Der Chef der Muccuri-Gesellschaft soll zwar ein Ehrenmann sein, nach dem Urtheil des Consuls, aber trotzdem kann ich, nachdem was ich bis jetzt gesehen, nur von der Auswanderung nach Brasilien abrathen, so lange nicht ganz andere Garantien geboten werden.

J. Ch. H.445Die Abschrift des Berichts schickte Spyri den Eltern mit einem kurzen Begleitbrief: "Liebe Mutter, hier habe ich Christels Bericht an Benz, den ich Dir ganz sende. Verzagt nicht, Christel macht sich darin doch gar nicht so übel, man sieht doch, daß er für die Leute Herz hat und sorgt. Freilich wird er nun wahrscheinlich ins Kreuzfeuer kommen, da er die Schuld auf beiden Seiten sieht. Wo wäre sie es nicht? [..] Mit freundlichen Grüßen Spyri."schliessen


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