Brief Nr. 63 – 4.2.-4.4.1857
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63 4.2.-4.4.1857
[Santos, 4. Februar 1857]
Liebe Eltern!386Abgedruckt in der NZZ vom 5. August 1857, S. 54-56.schliessen

Santos den 4t. Februar. Nach glücklicher, wenn auch nicht gerade angenehmer, Fahrt sind wir gestern Morgens früh in diesem Neste Santos eingetroffen; und da wir noch heute den ganzen Tag hier liegen bleiben müssen, so will ich diesen Brief beginnen, der freilich vielleicht erst in zwei Monaten abgeht; denn wie lange sich mein Besuch auf den Colonien und die weitere Reise hinzieht, davon habe ich jetzt noch keine Idee, da die Überzeugung mit jeder Stunde fester wird, daß ich durch das Besehen einer einzigen Colonie kein richtiges Urtheil über Colonisations-Verhältnisse im Allgemeinen fällen kann, und daher wahrscheinlich meine Reise noch ziemlich weiter ausdehne als ich anfänglich im Sinne hatte. — Mein Begleiter auf dieser Reise ist ein Diethelm387Joseph Anton Diethelm (*1822), der Sekretär des Schweiz. Generalkonsuls David in Rio de Janeiro war für Heusser der ideale Reisebegleiter: er war mit der Sprache vertraut und konnte als ehemaliger Verwalter einer Kaffeeplantage Heusser bei der Beurteilung der Kaffeeberge beraten. Heusser verstand sich auf dieser Reise zunächst sehr gut mit ihm. Umso mehr war er enttäuscht, als Diethelm später in der Polemik gegen Heusser die Partei Vergueiros ergriff und neuer Direktor auf Ibicaba wurde. Jos. Anton Diethelm ist in den Steuerbüchern von Lachen 1850 noch aufgeführt, dann folgt der Vermerk "Nach Brasilien ausgewandert." Für diesen Hinweis danke ich Herrn Ralf Jacober, Staatsarchiv Schwyz, bestens.schliessen von Lachen, Sekretär des Schweizerischen Consuls in Rio de Janeiro, der schon seit 5 oder 6 Jahren in Brasilien lebt, früher einer Cafée-Plantage als Direktor vorgestanden hat, und daher sowohl mit dem Cafée-Bau, als mit der Sprache und auch mit den Landes-Sitten genau vertraut ist, welches Letztere auch besonders wichtig ist bei einer solchen Reise zu Pferd oder Maulthier in die innern wenig bewohnten Gegenden. Natürlich ist mir ein solcher Begleiter sehr angenehm, und doppelt angenehm, da auch seine Persönlichkeit mich anzieht. Er ist ein gebildeter Mann; wie er nach Brasilien gekommen, habe ich im letzten Brief schon Widmer mitgetheilt; während des 12 tägigen Aufenthalts in Rio war er vorzüglich mein Führer und Begleiter; ich bin daher schon ziemlich näher mit ihm bekannt und befreundet. — Was die beiden Schweizerischen Begleiter betrifft, die von Southampton aus mit mir gefahren, so ist Wildberger, der als Colonist nach St. Paulo wollte, in Rio zurückgeblieben, um erst meine Berichte abzuwarten; er arbeitet unterdeß im Garten des Consul David, hat dafür freie Kost und Logis, und sieht sich unterdeß in Rio selbst um, vielleicht daß sich ihm dort etwas bietet; mit nach St. Paulo zu reisen, davon riethen ihm alle Schweizer in Rio ab, da er dort kaum finden würde, was er in der Schweiz geträumt. — Der Freiburger, Claraz, ist zu seinem Bruder388Joseph Claraz (*1833), der ein Jahr jüngere Bruder von Georges, war schon im Herbst 1855 nach Brasilien ausgewandert. Er heiratete da und übernahm eine Fazenda im Tal des Macahe. Bei ihm hielten sich Heusser und Georges Claraz im Frühjahr 1859 mehrere Monate auf. Vgl. Brief Nr. 76 vom 26. August 1859.schliessen gereist, der in der Entfernung von einigen Tagreisen von Rio sich nächstens unter günstigen Verhältnissen verheirathen wird. — So sind denn Diethelm und ich, Sonntag den 1t. Febr., Morgens 10 Uhr von Rio verreist, nicht unzufrieden, diese Stadt verlassen zu können, wo seit einigen Wochen schon das gelbe Fieber herrscht, und dafür bald in die gesundere Luft einer ziemlich hoch gelegenen, gebirgigen Gegend, wie die Provinz St. Paulo zu kommen. —

Das Meer war ruhig, daher insofern die Fahrt bis hieher angenehm; aus andern Gründen aber war sie unangenehm, und bildete in der That einen rechten Gegensatz zu der vorher überstandenen großen Fahrt von Europa nach Brasilien. In der That war ich wohl durch die Geräumigkeit und vortreffliche Einrichtung des Hamburger Schiffs so verwöhnt, daß dadurch mein Urtheil über diesen kleinen brasilianischen Küstenfahrer zu hart ausfallen mag. Allerdings rührt das meiste Unangenehme einer solchen Fahrt von dem geringen Platz her, und ist insofern nicht zu ändern, und besteht darin, daß man nirgends sicher ist, von seinem Nachbar mit einem Magen-Erguß ins Gesicht oder auch bloß an die Kleider betroffen zu werden. (Von der Bewegung des Schiffs allein wäre ich kaum mehr seekrank geworden. Der Eckel über diese Schweinereien war aber bei mir so groß, daß ich jedesmal, wenn ich einen brechen sah, auch selbst brechen mußte.) Unten in der Cajüte war eine Luft, die ich unmöglich aushalten konnte, daher die beiden Nächte ganz auf dem Verdeck zubrachte, und auch gar keinen Schaden davon nahm, da sie ganz milde waren. Ganz eigenthümlich und Europäischen Begriffen neu war auch die Ungenirtheit, mit der sich beide Geschlechter Abends niederlegten, oder besser gesagt den ganzen Tag neben einander aufführten. Ich will zwar nicht glauben, daß hier die Elite der Brasilianischen Bevölkerung beisammen war, aber im Ganzen hätte man, mit verbundenen Augen aus Europa hieher versetzt, bald gesehen, daß man Europäischen Sitten fern sei. — Die Schweinereien der Küche hätten wahrscheinlich den Appetit nicht gestört, wenn man sie nicht gesehen hätte, aber als ich einen Schwarzen die Kartoffeln mit den Nägeln schälen sah, da war mein Appetit dahin. — Zu allem dem kam, daß der Capitän kein Vertrauen einflößte, sondern sich benahm wie ein Bube. Nicht nur in bloßen Hemdärmeln, sondern sogar ohne Strümpfe bummelte er mit der Guitarre auf dem Schiff herum und suchte Leute, [S.2] die ihn mit Gesang begleiten sollten. Mit denen, die er fand, musicirte er; nachher fraternisirte, soff und schließlich zankte er mit ihnen auf ganz unwürdige Weise. Daß er dabei auf die Fahrt des Schiffs nicht sonderlich aufmerksam war, versteht sich von selbst; kurz wir waren froh, ohne Sturm Santos zu erreichen, und zu meiner Beruhigung erfuhr ich hier, daß die Brasilianischen Schiffe im Allgemeinen am aller wenigsten Unglück treffe, obgleich auf allen eine ähnliche Wirthschaft herrsche. —

[São Paulo, 7. Februar 1857]

St. Paulo den 7t. Februar. Donnerstag Morgens 5 Uhr verließen wir stolz auf Maulthieren reitend Santos und kamen gestern Mittags in St. Paulo der Hauptstadt der Provinz gleichen Namens an. Es war eine Truppe von drei Reitern, einem Pion (Knecht zur Besorgung der Thiere, Schwarzer) ebenfalls beritten, und einem Lastthier mit unsern Effekten. Der zweite Begleiter, mit dem ich seiner Unbedeutendheit wegen noch gar nicht gesprochen, ist ein gewisser Klendgen, Agent der Hamburger-Auswanderungs-Gesellschaft, kam von Rio mit und will ebenfalls nach den Colonien des Hr. Vergueiro389Nicoláu Pereira de Campos Vergueiro (*1778), Grossgrundbesitzer und Politiker hatte ursprünglich das Halbpachtsystem erfunden, um den Plantagenbesitzern Ersatz für die nicht mehr erhältlichen Sklaven und Auswanderern aus Europa eine neue Existenz zu verschaffen.schliessen reisen, um auch von Seite dieser Gesellschaft einen auf eigne Anschauung gegründeten Bericht über die Lage der Auswanderer in Ibicaba zu veröffentlichen. Er ist ein sehr unangenehmer Mensch, dem ich, wäre mir nicht stets meine officielle Stellung vor Augen gewesen, manchmal gehörig ausgewischt hätte. Glücklicher Weise hat er uns bereits verlassen, und ist voraus geritten, indem er rasch nach diesen Colonien gelangen will, während ich bei dieser drückenden Hitze nicht täglich 14 bis 15 Stunden reiten will und kann. Hätte ich schon Jahre lang in Brasilien zugebracht wie er, so würde ich dem Herrn gewiß nicht im Aushalten von Strapazen nachstehen; so aber will ich mich allmälig an diese versengende Hitze gewöhnen. — St. Paulo ist von Santos 11 Legoas entfernt; und 1 Legoa390Die brasilianische Legoa oder Legua misst umgerechnet 5,590 km, die argentinische Legua dagegen ist etwas kürzer, nämlich 5,196 km.schliessen ist so groß, daß man dieselbe mit einem Maulthier im leichten Trab in einer Stunde, zu Fuß aber jedenfalls nicht so schnell zurücklegt. Ursprünglich wollten wir die Strecke in Einem Tag zurücklegen; in Cubatão, einer Colonie 2 Legoas von Santos noch in der Ebene gelegen, wurden wir aber von einem schwäbischen Arzt so freundlich aufgenommen, daß wir einige Stunden dort blieben, und in Folge dessen denselben Tag nur noch 4 Legoas zurücklegten, also wenig weiter kamen als Hälfte Wegs zwischen Santos und St. Paulo. Unmittelbar hinter Cubatão führt die Straße die sog. Serra hinan, d. h. einen Bergrücken, dessen Abhänge noch mit dichtem Urwald bedeckt sind, und dessen Höhe wir erst nach etwa 2½ Stunden erreichten. Dann folgt ein hügliges Hochland, das aber bis gegen St. Paulo immer etwas sich senkt, so daß diese Senke selbst wieder ziemlich tiefer in einem mit der Serra parallelen Thale gelegen ist. Etwas Näheres über die Gegend will ich aber erst nach meiner Rückkehr, wenn ich dieselbe zweimal gesehen haben werde, niederschreiben. — Die Nacht vom Donnerstag auf den Freitag brachten wir auf einer sog. Fazenda zu, d.h. nicht in einem Wirthshaus, sondern in einem Privathaus, in dem wir nach brasilianischer Sitte Gastfreundschaft genossen. Fazenda nennt man hier, wenn man Europäische Benennungen auf brasilianische Verhältnisse übertragen darf, einen großen Bauernhof, nur ist die Hauptarbeit nicht Ackerbau, sondern Cafébau; das ganze Besitzthum ist aber so groß, dem Fazendeiro gehören so große Strecken Landes, solche Heerden von Maulthieren, Schweinen und Geflügel, und solche Mengen von Schwarzen und Mulatten an, daß er selbst eher mit einem kleinen deutschen souveränen Fürsten, als mit einem Schweizerischen Bauer zu vergleichen ist. Vor einer solchen Fazenda kehrten wir also an, und zwar gehörte dieselbe einer Wittwe. Der Pion führte die Thiere auf die Weide, und wir giengen ungenirt in das Haus hinein, wo eine schwarze Dienerin uns sogleich ein Zimmer mit drei Betten anwies, und nach einer halben Stunde ein vollständiges Mittagessen aufsetzte. Nach Tische spazirten wir noch kurze Zeit vor dem Dunkelwerden, und dann wurde noch Thee servirt. Morgens 5 Uhr erhielten wir unsern Café und brachen dann auf, ohne Jemand von der Herrschaft gesehen zu haben. Besitzerin dieser Fazenda war nämlich eine Wittwe; und da die Frauen überhaupt in Brasilien sich fremden Gästen gar nicht zeigen, wenn dieselben nicht durch längern Aufenthalt erst etwas näher im Hause bekannt sind, so durfte sich auch jene Wittwe gar nicht sehen lassen. Von Bezahlung solcher Gastfreundschaft war natürlich nicht die Rede; man zahlt bloß ein Trinkgeld der schwarzen Bedienung und außerdem etwas im Stall für die Maulthiere. — Da nun das Geld überhaupt einen viel geringern Werth hat als bei uns, so kommt man mit diesen Trinkgeldern doch so hoch, wie wenn man in der Schweiz im Gasthof übernachtet. Deswegen darf man aber diese Gastfreundschaft nicht zu gering anschlagen; denn wer dasselbe hier in einer Wende (Wirthshaus) [S.3] genießt, zahlt das Vier- bis Fünffache; und außerdem sind oft auch an dieser verhältnißmäßig sehr begangenen Straße oft viele Stunden lang keine Wenden, so daß man ohne die Gastfreundschaft der Fazendeiros sehr oft auf das Übernachten im Freien angewiesen wäre. — So wie der Fremde nun einerseits diese für ihn sehr angenehmen Landessitten benutzt, so ist er andrerseits moralisch verpflichtet, sich auch den ihm weniger angenehmen zu unterziehen; in dieser Beziehung fiel mir bis jetzt besonders auf die nach Europäischen Begriffen zu weit gehende Zuvorkommenheit und Höflichkeit gegen Frauen aller Stände, und auch das Benehmen gegenüber Bettlern. Daß man hier Bettler zu Pferde findet wußte ich schon; von diesen wird man aber wenigstens aufgesucht und muß ihretwegen keinen Umweg machen; gestern trafen wir aber einen, der mehrere Schritte von der Straße entfernt im Schatten großer Bäume ein kleines Hüttchen erbaut hatte, und der Länge nach in demselben ausgestreckt war. Dabei lag sein Hut vor dem Hüttchen als Zeichen seines Standes; zu diesem ritt man nun hin, und warf sein Schärflein in den Hut, ohne von dem Bettler angeredet worden zu sein, oder für die Gabe Dank zu empfangen.

[Ibicaba, 13. Februar 1857]

Ibicaba. Fazenda des Herrn Vergueiro, den 13t. Februar.

Von St. Paul selbst weiß ich weiter Nichts zu schreiben; es ist zwar Hauptstadt der Provinz mit etwa 20'000 Einwohnern, aber ohne alle Merkwürdigkeiten, und für den Fremden ohne alle Bedeutung. Wir blieben 1½ Tage hier, theils um vom Präsidenten der Provinz, an den wir vom Minister in Rio empfohlen waren, Empfehlungen ins Innere zu bekommen, theils um eine Sammlung von Naturalien, die ein hiesiger Deutscher Doktor in hiesiger Provinz gesammelt hat, zu besehen. St. Paul ist zwar Universität, aber Naturwissenschaften überhaupt sind hier ein unbekanntes Feld, so daß die Sammlung des erwähnten Deutschen für mich der einzige Anknüpfungspunkt war, dem Vorkommen von interessanten Gesteinen auf die Spur zu kommen. Im Verhältniß zu den übrigen Provinzen scheint aber St. Paul arm, und daher verspricht diese Reise in wissenschaftlicher Beziehung keine große Ausbeute. —

Sonntag den 8t. Morgens 4½ Uhr verließen wir nun St. Paul, und ritten ohne Aufenthalt bis nach 1 Uhr, kamen also volle 8½ Stunden nicht von den Maulthieren. Unterwegs war eine einzige kleine Wende, in der aber nichts als Cachas (Schnaps aus Zuckerrohr zubereitet) und Cafée zu haben, in der kaum ein Sessel zum Absitzen, zu finden, und wo die Unreinlichkeit so groß war, daß sie uns auf den ersten Augenblick zurückschreckte. Nach Europäischen Begriffen waren bei diesem Ritt vorzüglich die Maulthiere zu bedauern, nach brasilianischen aber durchaus nicht; Brasilianer hätten diese Tour, abwechselnd Trab und Galopp reitend in viel kürzerer Zeit, zurückgelegt, während wir meist Schritt oder leichten Marsch reitend, diese Entfernung von 10 Stunden in 8½ Stunden zurücklegten. Es ist in der That merkwürdig was diese Thiere alles aushalten, besonders, wenn man noch bedenkt, wie die Straßen hier sind; natürlich nicht von einem Ingenieur angelegt, sondern, wo ein Berg im Wege ist, ganz gerade denselben hinan, und ebenso auf der andern Seite herunter steigend, oft gewiß über 20 ?dabei natürlich nicht mit Steinen gepflastert, daher in Folge der heftigen Regengüsse der Art ausgespült, daß Erhöhungen und Vertiefungen und Löcher von mehreren Füßen sich finden, wo man fallend ganz leicht Arme und Beine brechen könnte; dies ist nicht im mindesten übertrieben, ist übrigens bei dem weichen, lehmig-thonigen Erdreich auch sehr leicht zu begreifen. Wir sind zwar jetzt in der Regenzeit, aber doch hat es etwa 6 Tage gar nicht geregnet, daher die Wege verhältnißmäßig gut waren; trotzdem gehen die Thiere im Wald, wo die Sonne wenig hin scheint manchmal bis über die Kniee im Schlamm; bei solchen Stellen stehen sie dann auf drei Beinen, und tasten mit dem vierten rings herum, wo sie wohl am besten hintreten können. Der Reiter thut auch am besten, das Thier ganz sich selbst zu überlassen, es findet sicher den besten Weg. Kommen die Thiere an einen Bach, so saufen sie; ich wollte mein Thier erst davon abhalten, aber sie mögen erhitzt sein wie sie wollen, so schadet ihnen nach allgemeiner Erfahrung das Wasser nicht im geringsten, und so gönnt man ihnen gerne [S.4] diese einzige Erquickung bei der fast erschöpfenden Anstrengung. —

Die391Von hier an abgedruckt in der NZZ vom 8. August 1857, S. 58-60.schliessen Wende, wo wir nun an jenem Sonntag Nachmittag anlangten, heißt Californien, und liegt in einem Thalkessel, dessen Abhänge abgebrannt, und seit Kurzem der Cultur von Mais etc. übergeben sind. Wir legten uns nach dem Essen etwas Schlafen, und hatten nachher nicht Lust, noch einmal das Maulthier zu besteigen, sondern machten noch einen Spaziergang; in dieser Einsamkeit und bei drückender Hitze uns eines Februar-Sonntags in der Schweiz erinnernd. Am folgenden Tag wollten wir bis zur zweiten größeren Stadt der Provinz, Campinas, reiten, mußten aber schon nach 6 Legoas liegen bleiben in einem furchtbaren Nest, da eines unserer Thiere nicht mehr vorwärts mochte. War die Wende der vorigen Nacht auch nicht splendid eingerichtet, so hatte man doch ein hölzernes Bettgestell mit einer reinen Matrazze; in dieser Nacht aber sah es derart aus, daß ich lieber davon schweigen will. Zu Essen aber findet man überall und so fanden wir auch hier Hühner, Mais und Fejão, d.h. unsere weißen Bohnen; alle drei Gerichte liebe ich sehr und werde mich daher Essens wegen in ganz Brasilien wohl befinden. Am folgenden Tag Dienstag kamen wir bloß bis Campinas, wo unser Pion dem kranken Maulthier zu Ader lassen mußte, was uns auch zwang bis gegen Mittag des folgenden Tages hier zuzubringen. Mittwochs um 12 Uhr brachen wir hier auf, und ritten wie gewöhnlich in unserm Marsche vorwärts stundenlang, ohne ein lebendes Wesen zu treffen. Abends zwischen 4 und 5 holten wir eine brasilianische Bauernfamilie ein, die ihren Wohnsitz veränderte, daher alle ihre Habe bei sich führte und zwar auf zwei Maulthieren. Es gehörte diese Familie zu den sogenannten Cabokeln, d.h. Abkömmlinge der Ureinwohner, der eigentlichen Indianer, aber vielfach mit weißem Blut vermischt. Auch diese Leute sind, wie die Mulatten schön und stark gebaut, aber stets frei; sie führen ein halbes Zigeunerleben, und sind noch halbwild. Der Vater war mit Nichts als Hosen und Hemd und Hut gekleidet, als Steigbügel hatte er, wie die meisten seines Stammes bloß einen ledernen Riemen zwischen dem großen und nebenstehenden Zehen; dabei trug er einen Dolch und zwei Pistolen im Gürtel, eine Flinte in der einen Hand, hatte Regenmäntel (aus eigenthümlichem hier fabrizirten Stoff) für seine ganze Familie vorn auf dem Pferd, und noch ein Pack unter dem einen Arme; dabei mußte er natürlich sein Pferd, ein ausgezeichnet schönes, aber wildes Thier, das schon wiederholt Preise im Rennen erhalten hatte, und auf das er seinen ganzen Stolz setzte, lenken. Er ritt auch nicht etwa bloß im Schritt, sondern, weil ihm seine Familie zu langsam sich bewegte, blieb er oft zurück, so namentlich in jeder Hütte, wo er einen Schnaps kriegen konnte, und ritt dann im vollen Galopp nach mit einer Sicherheit, die zeigte, daß er wirklich fast mit dem Pferd verwachsen war. Dieser Mann hatte nun Frau und drei Kinder bei sich. Die Mutter saß mit dem Kleinsten von etwa 3 Jahren auf Einem Thier, und ebenso ein Knabe und ein Mädchen von 7 und 8 Jahren auf einem. Wir ritten absichtlich langsamer, um uns mit den Leuten etwas zu unterhalten. Abends gegen 5 Uhr wurden wir von einem tüchtigen Gewitter überrascht. Ich hatte einen Schirm bei mir, mehr um mich gegen die Sonne, als gegen den Regen zu schützen; jetzt hätte ich ihn freilich auch gegen letztern gebrauchen können; die brasilianische Höflichkeit, zugleich aber auch Vorsicht, weil wir es für wahrscheinlich hielten, in derselben Wende mit der Familie übernachten zu müssen, erforderten es, daß ich der Frau den Schirm anbot, und so selbst ganz naß wurde. Es wäre dies übrigens auch mit dem Schirm geschehen; denn die hiesigen Gewitter sind so heftig, daß man sich im Freien gar nicht vor Nässe schützen kann. Um 7 Uhr kamen wir in einer elenden Wende an; die Familie blieb dort; daher war für uns keine Hoffnung auf ein erträgliches Lager; wir hätten mit dieser ganzen Gesellschaft auf dem Boden schlafen müssen, und zogen es daher vor noch 2 Legoas zu reiten, wo wir eine größere Wende finden sollten. Es war bereits dunkel, wir hofften aber, der Mond werde bald aufgehen, und so entschlossen [S.5] wir uns denn noch weiter zu reiten, und erfuhren nun, was es heißen will, in dunkler Nacht durch den Urwald zu reiten. Gegen 7½ Uhr war alle Tages-Helligkeit verschwunden, der Mond wollte aber immer nicht erscheinen; wir befanden uns im eigentlichen Urwald, wo zu beiden Seiten der Straße noch keine Axt einen Schlag gethan hat, wo die himmelhohen Bäume durch Schlingpflanzen so dicht mit einander verwachsen sind, daß man auch am Tag nicht einen Schritt weit in den Wald hineinsehen kann. So befanden wir uns denn bald in absoluter Dunkelheit, wie ich dieselbe noch nicht erlebt; trotz unsrer weißen Sommerkleider konnten wir uns in der Entfernung von zwei Schritten gar nicht sehen. Dabei war der Weg durch das Gewitter entsetzlich geworden; die Thiere sanken bis über die Kniee im Schlamm ein, und wollten, müde wie sie schon waren nicht mehr fort. Es blieb uns also nichts übrig, als abzusteigen, und die Thiere zu führen. Das Wasser und der Schlamm war so tief, daß man mit dem einen Bein, mit dem man vorwärts schritt, immer erst tasten und Stellen suchen mußte, wo das Wasser nicht oben in die Stiefel herein kam. Von der Höhe meiner Stiefel habt Ihr aber ein genaues Maaß an Spyris Bub,392Bernhard Diethelm Spyri wurde im August 1855 geboren, war also bei der Abreise des Onkels 1½ Jahre alt.schliessen wenn derselbe nicht etwa seit meiner Abreise bedeutend gewachsen ist. — Natürlich wurde uns die Zeit lang, und schon fürchteten wir, in unsern nassen Kleidern in diesem Urwalde die Nacht zubringen zu müssen, als wir an einen Abhang kamen, wo das Wasser hatte ablaufen können, daher die Straße besser wurde. Das gab uns neuen Muth; die Maulthiere bestiegen wir zwar nicht mehr, kamen aber doch nun in schnellerem Schritt vorwärts. Bald hörten wir die Fußtritte eines Thieres, das uns entgegenkam. Ich glaubte, es sei unser Pion, der vorausgeritten war, und nun käme, um uns aufzusuchen; ich rief daher seinen Namen "Sabia". Statt einer Antwort glaubten wir aber zu hören, daß der uns Entgegenreitende am Sattel herumgriff, um die Pistolen hervorzuholen. Diethelm redete ihn daher freundlich an, wie weit es noch sei zur nächsten Wende. Mit zitternder Stimme antwortete er ½ Legoa; offenbar hatte er von unsrer Seite einen Angriff erwartet. Nach einer Stunde ungefähr kamen wir zu einem schönen Fluß, etwa so groß wie die Reuß, in dem sich der Mond, der vor Kurzem aus Wolken emporgestiegen war, prächtig abspiegelte. Hier war die Wende, wo wir uns bei einem ordentlichen Nachtessen, der überstandenen Abentheuer zu freuen hofften. Statt dessen wurden wir hier abgewiesen, das Haus war schon voll von Gästen, und wir mußten froh sein, in einer danebenstehenden elenden Hütte ein Unterkommen zu finden; trotz aller Müdigkeit verbrachte ich eine schlaflose Nacht, von Ungeziefer geplagt, wie noch nie vorher. — Donnerstags den 12t. brachen wir daher früh auf, und kamen gegen 10 Uhr nach Limeira, einem ziemlich großen Dorf, wo wir bei einem Graubündtner, der dort eine Wende hat, freundliche Aufnahme, gutes Mittagsmahl, und ein ordentliches Lager, um einige Stunden auszuruhen, fanden. — Von da hatten wir noch 2 Stunden zu reiten auf die Colonie Ibicaba;393Zu Heussers schwierigem Auftrag, einen objektiven Bericht über die Lage der Kolonisten abzufassen, und zugleich während der eben ausgebrochenen Revolte zu vermitteln, vgl. den abschliessenden Bericht von Thomas Davatz, Zur Behandlung der Kolonisten in der Provinz São Paulo in Brasilien und deren Erhebung gegen ihre Bedrücker, Chur 1858. Eine detaillierte Untersuchung zum Halbpachtsystem gibt B. Ziegler, Schweizer statt Sklaven, Stuttgart 1985, S. 153-243. Eine literarische Umsetzung der Ereignisse auf der Kolonie findet sich in Eveline Haslers Roman Ibicaba, das Paradies in den Köpfen, Zürich 1985.schliessen wir kamen hier des Abends an und wurden von Hr. Vergueiro394José Vergueiro, der jüngere und tüchtigere Sohn des Senators, war nach Ausbruch der Krise nach Ibicaba gereist und unterstützte seinen Bruder Luiz Vergueiro, der für viele Fehler beim Umgang mit den Kolonisten verantwortlich war, bei den Auseinandersetzungen mit diesen.schliessen mit der größten Zuvorkommenheit und Gastfreundschaft aufgenommen.395Vgl. Th. Davatz, Zur Behandlung der Kolonisten in der Provinz São Paulo in Brasilien, Chur 1858, S. 181: "Um die Ansicht, daß das Haus Vergueiro an den vorgefallenen Ungerechtigkeiten unschuldig sei und es gut mit den Kolonisten meine, zu wecken, spielte Herr Joze Vergueiro, der Chef, den ganz offenen, unverstellten, freundlichen und wohlwollenden Mann. Er nahm die Herren ganz freundlich und zuvorkommend auf, [...]."schliessen Über die Colonisations-Angelegenheit spreche ich hier kein Wort, da ich nicht hier niederschreiben will, was ich doch im Bericht an die Regierung wiederholen müßte. — Dagegen will ich hier noch einige Worte sagen über meinen Reisegefährten und unsern Diener. Hier in Ibicaba sind wir in so ganz neue Verhältnisse getreten, haben so viel neue Bekanntschaften gemacht, daß jene 8 tägige Reise als ein abgeschlossenes, besonderes Erlebniß hinter mir liegt. Diese Reise war mir so angenehm, daß ich beim Eintritt auf die Fazende Ibicaba dasselbe Gefühl hatte, wie damals bei der Trennung unserer kleinen Gesellschaft auf der Teutonia, und nur wünsche, bei allen Reisen, die mir noch bevorstehen mögen, keine unangenehmeren Erfahrungen zu machen. Was mir als ein merkwürdiger Zufall vorkam, und eine passende Einleitung zu einem Roman gäbe, wenn ich denselben zu schreiben im Stande wäre, ist folgender Umstand: Mein jetziger Reisegefährte und Freund Diethelm hat anno 47 als Hauptmann der Schwyzer Truppen396Ein Anton Diethelm war im Sonderbundskrieg Oberleutnant im Schwyzer Bataillon von Reding-Biberegg. STASZ, Akten 1, 529. Die Sihlbrücke wurde wohl während der Kämpfe bei Gislikon im November 1847 zerstört.schliessen unsere Sihlbrücke abgebrannt; er hat es auf höhern Befehl gethan, gegen seinen Willen, indem er selbst ein Liberaler von Lachen ist. Wir beiden haben uns also hier in Brasilien getroffen, und so wurden oft fast unwillkürlich Gegenstand des Gespräches vergangene Zeiten, von denen ich zu Hause nie sprechen mochte. [S.6] Übrigens sind wir darüber nie in Streit gekommen, indem Diethelm die ganze Geschichte ziemlich objektiv und unpartheiisch behandelt, und so habe ich hier in Brasilien über die ganze Sonderbunds-Geschichte, wie ich glaube, genauere, treuere und wahrere Berichte vernommen, als jemals zu Hause. — Unser Pion397Der frei geborene Pion Sabia ist für Heusser das gute Gegenbild zur korrupten brasilianischen Gesellschaft.schliessen oder Camarad, wie ein solches Individuum auch genannt wird, ist ein ganz origineller Kerl. Einen solchen Camaraden hat und muß jeder ordentliche Reisende in Brasilien haben, weil man nicht in Wirthshäusern lebt, sondern überall auf Gastfreundschaft angewiesen ist. Letztere erstreckt sich aber nicht auf die Thiere, diese muß der Reisende selbst besorgen lassen, und darum ist der Pion unumgänglich nothwendig. Diese Pions sind nun bald Sklaven, bald Freie; erstere mögen aufmerksamer und gehorsamer sein, dabei aber sind sie servil und ängstlich. Wir sind daher ganz zufrieden, daß wir einen freien Pion haben, der zwar wenig auf unsere Befehle hört, dabei aber so lustig und vergnügt ist, daß wir selbst in seiner Gesellschaft nie ernst sein können, sondern die heitersten Stunden mit ihm verlebt haben. Sabia (d.h. die brasilianische Amsel) ist sein Name, ich habe also auch in Brasilien schon Amseln genossen! (Dies werden nicht alle verstehen, die es lesen). Er ist etwa 17-18 Jahre alt und ist in der That nicht bloß frei, sondern, wie ich glaube, einer der freisten Menschen die es giebt, freier als alle Europäer zusammen, frei auf der einen Seite von der Sucht, Geld zu bekommen, frei auf der andern von allen Leidenschaften und Begierden, die er nicht befriedigen kann. Wenn es ihm bei seinem Herrn nicht mehr gefällt, so geht er fort, ohne einen Rappen in der Tasche; ernähren kann er sich immerhin einige Zeit mit Bananen und andern Früchten und ist sicher, bald wieder einen andern Herrn zu finden, der seine Dienste gern annimmt. So ist dieser Bursche denn wirklich ausgelassen fröhlich, und nicht einen Augenblick ruhig auf seinem Thier, mit welchem er wie zusammengewachsen ist. Er ist voller guter Einfälle und ist mir der schlagendste Beweis, daß diejenigen Unrecht haben, die die Neger als eine wirklich geistig tiefer stehende Menschenclasse betrachten. Sabia ist zwar ein Creole, d.h. ein in Brasilien geborener Schwarzer, aber noch so schwarz, daß jedenfalls wenig Blut von Weißen in seinen Adern ist. Seine Mutter war ohne Zweifel eine reine Negerin, der Vater aber vielleicht ein Cabokel (Abkömmling der Indianer) oder ein Mulatte (Mischling von Schwarzen und Weißen). Sabia steht also sicher den Schwarzen näher, als den Weißen, und dabei wäre er, glaube ich, bildungsfähig trotz irgend einem Europäer. Merkwürdig ist aber, daß er trotzdem selbst das Gefühl hat durch die Farbe von der Natur benachtheiligt, niedriger gestellt zu sein, als die Weißen; er anerkennt in der Farbe ein geistiges Übergewicht, und lacht mich, da ich durch die Sonne sehr braun geworden bin, oft aus, ich werde noch ein Schwarzer, dann könne ich meine Untersuchung der Colonien einstellen. — Auf der Reise gaben wir ihm täglich so viel Geld, als nöthig war, um das Futter für die Thiere zu bezahlen. Einmal hatten wir in einer Wende, wo wir einige Früchte genossen hatten, kein kleines Geld; Sabia hatte aber noch etwas Kupfer, da stellte er seinen Hemdekragen in die Höhe, band sein Taschentuch als Cravatte um, kurz suchte in Allem uns nachzuahmen und zu verspotten, und zahlte so zum Hohn der Europäischen Civilisation die Zeche. Ein ander Mal hatten wir ihm aus Mangel an kleinem Geld einen Schein von 5 Milreis gegeben; Tags darauf kam er wieder, gerade wie wenn er nur einen erhalten hätte, um von neuem Geld zu fordern. Als wir ihn fragten, wo die 5 Milreis so schnell hingekommen seien, sagte er ganz ruhig, er hätte sie gebraucht. Für sich behalten hatte er dieselben sicher nicht, sondern wahrscheinlich andern Schwarzen Schnaps und Cigarren bezahlt; und so konnte man ihm in der That nicht zürnen, sondern höchstens ein andermal vorsichtiger sein. Eigenthümlich und ausgewählt sind seine Schimpfwörter; mit: "diavo daemon" (verfluchter Teufel), "Chararaca" (giftige Schlange) und ähnlichen wirft er um sich, besonders gegenüber der Bedienung des Hauses Vergueiro, die meist aus Sklaven besteht, und man weiß wirklich oft nicht recht, ob das Gefühl der Superiorität als Freier, oder aber bloße Lust am Schimpfen ihn zu solchen Ausdrücken veranlaßt.

Wenn398Fortsetzung abgedruckt in der NZZ vom 15. August 1857, S. 66-68.schliessen ich in Brasilien drei Stände annehme: Herren, Freie und Sklaven, so bin ich im Zweifel, unter welche der letzten beiden Stände die Colonisten zu zählen sind. Da sie erst seit dem Jahr 47 im Lande sind, hat sich ihre Stellung noch nicht recht fixirt; ich glaube aber, sie standen den Sklaven näher als den Freien, und jedenfalls wurden sie von den [S.7] Freien mit Verachtung angesehen und behandelt. Als wir ankamen, war eine Revolution am Ausbrechen;399Die Revolte der Schweizer Kolonisten auf Ibicaba unter der Führung von Thomas Davatz war auf den Besuch des Gesandten Heusser abgestimmt und sollte ihm und vor allem den Plantagenbesitzern Vergueiro den Ernst der Lage demonstrieren. Heussers Auftrag wurde dadurch wesentlich erschwert, brachte ihm auch nachträglich Verdächtigungen von Seiten der Plantagenbesitzer ein, die ihn sehr kränken mussten. Vgl. die Darstellung bei Th. Davatz, Zur Behandlung der Kolonisten, Chur 1858, S. 180-188.schliessen Näheres darüber mögt Ihr aus meinem offiziellen Bericht vernehmen. Um zu beruhigen und uns mit der ganzen Sachlage bekannt zu machen, waren wir nun täglich von morgens früh [bis] Abends spät auf der Colonie. Sabia glaubte nun Nichts Anderes, als daß täglich einige Colonisten hingerichtet würden, was allerdings unter gleichen Verhältnissen möchte der Fall gewesen sein. Er bat uns daher, ihn einmal mitzunehmen, und konnte vor Erstaunen keine Worte finden, als wir ihm dies erlaubten, und er uns in allem Frieden und mit großer Traulichkeit mit den Leuten zusammensitzen sah.

[Colonie Boavista, 16. März 1857]

Colonie Boavista den 16t. März. Es ist dies die Colonie eines Herrn Benedito Camargo,400Zu Heussers Besuch auf Boavista vgl. seinen offiziellen Schlussbericht, Die Schweizer auf den Kolonien in St. Paulo in Brasilien, S. 49-52 (Heusser-Bericht).schliessen etwa 6 Stunden von Ibicaba entfernt. Ich muß zunächst noch einmal auf unsern Sabia zurückkommen. Wir legten die Anerbietungen des Hauses Vergueiro den Colonisten in öffentlicher Landsgemeinde vor; es wurde für und gegen gesprochen, zuletzt aber wurden sie einstimmig angenommen, und dann wurden noch einige ernste und fröhliche Lieder gesungen. Sabia hatte zugesehen, und war jetzt vollends außer Fassung; um was es sich handelte, wußte er vorher, und verstand daher im Wesentlichen den Gang der Verhandlungen; die Leute, die er vorher so halb und halb als Sklaven betrachtet hatte, hörte er jetzt frei und offen darüber sich besprechen, ob sie die Anträge des Hauses Vergueiro annehmen, oder aber einen Kampf (sei es nun gerichtlichen oder wirklich offenen gewaltsamen) mit diesem ersten Hause der Provinz beginnen wollten. Sabia gestand, daß er dies nicht verstehen könne, betrachtet nun die Colonisten so halb als übermenschliche Wesen, und hat jetzt doppelte Achtung vor der weißen Farbe. —

Nachdem wir Ibicaba verlassen, waren wir, bevor wir hieher kamen, noch etwa 8 Tage auf der zweiten Colonie des Hauses Vergueiro, auf Angelica, auch etwa 6 Stunden von Ybicaba entfernt. Hier hatte ich am besten Gelegenheit die drei oben bezeichneten Kasten neben einander und näher kennen zu lernen. Herren nenne ich die großen Güterbesitzer (Fazendeiros); ihre Herrschaft besteht nicht nur im fast ausschließlichen Besitz der Ländereien, sondern auch im ebenso ausschließlichen Besitz der gerichtlichen Gewalt, des politischen Einflusses, und der Bildung. Mit letzterer ist es aber bei den meisten Fazendeiros auch nicht weit her; viele derselben sind ungebildete Bauern, portugiesischer Abstammung, die früher durch Sklaven, und seit die Einfuhr derselben verboten ist, durch Europäische Colonisten ihre Ländereien bebauen lassen, und dabei reich geworden sind, und in Überfluß und Schwelgerei leben. — Den Gegensatz zu diesen Herren bilden natürlich die Sklaven, die hier wie anderswo und überall von dem einen Herrn milder, von dem andern strenger behandelt, von Allen aber als käufliche Waare betrachtet werden, und damit ist genug gesagt. Das Sklavenleben ist zu einförmig und bekannt, als daß ich mich hier auf eine Schilderung desselben einlassen möchte. Nur das will ich noch bemerken, daß jeder Sklave in Brasilien sich frei kaufen kann, und zwar um einen Preis, den ein unpartheiisches Schieds-Gericht zu bestimmen hat. Auf dem Lande wird es schwer fallen, in den Städten aber haben die Schwarzen mannigfache Gelegenheit sich selbst etwas zu verdienen, und daher soll dort der Fall, daß sich Sklaven loskaufen, ziemlich häufig vorkommen. — Die mannigfaltigste Entwickelung bietet aber der Stand der Freien. Frei sind zunächst eine große Menge Europäischer Auswanderer, die als kleinere Kaufleute, Ärzte, Apotheker, Wendenbesitzer, Spekulanten, Sklaven-Aufseher durch die ganze Provinz verbreitet, und hieher gekommen sind, um, wie man bei uns sagt, ihr Glück zu machen, um als reiche Leute nach Hause zurück zu kehren. Diese interessiren uns jetzt nicht, da ihr ganzes Streben und Trachten nichts Neues bietet, und den Europäern hinlänglich bekannt ist. Nur so viel will ich noch bemerken, daß diese Leute aus Gründen, die ich jetzt nicht weiter auseinandersetzen kann, in der Provinz St. Paulo kein gar günstiges Terrain haben. Von den Colonisten, die am passendsten hier anzureihen wären, will ich hier ganz schweigen, da ich über dieselben noch genug zu schreiben bekommen werde. — Frei sind aber außerdem eine große Anzahl Farbiger, von Schwarz durch [S.8] alle Nüancen bis in Weiß, und ebenso von Braun oder Dunkelgelb durch alle Nüancen bis in Weiß. Erstere sind die Mischlinge von schwarzen aus Afrika eingeführten Negern mit Weißen (hier Mulatten und Creolen genannt); die letztern sind Mischlinge der Ureinwohner, der eigentlichen Indianer mit Weißen (hier Cabokeln genannt). — Es versteht sich von selbst, daß auch Schwarze und Creolen mit Indianern und Cabokeln sich vielfach gekreuzt haben, so daß vielleicht auf der ganzen Erde keine so große Mannigfaltigkeit der Mischungen zu treffen ist, wie in Brasilien. In einer nördlichen Provinz am Mukkuri ist diese Musterkarte noch bunter, und wird nach hundert Jahren noch viel bunter sein, da in den letzten Jahren dort auch Chinesen neben den Europäern als Colonisten eingeführt worden sind. Ich hoffe diese Menschenkinder in den nächsten Monaten auch zu sehen. — Fast hätte ich mich von meinem letzten Ziel entfernt; ich sagte nämlich, auf Angelica habe ich Gelegenheit gehabt, die drei verschiedenen Klassen: Herren, Sklaven und Freie kennen zu lernen.401Heusser verschweigt in dieser Schilderung seines Besuchs auf der Fazenda Angelica sein wichtigstes Erlebnis, wohl weil er seine Familie nicht beunruhigen wollte. Er wurde von den Brüdern Luiz und José Vergueiro massiv unter Druck gesetzt und genötigt, mit einem Dankesschreiben, einer "Ehren-Erklärung", zu bezeugen, dass er die Zustände auf Ibicaba in guter Ordnung gefunden habe. Diese Erklärung machten die Vergueiros zur Bedingung, bevor sie einer gütlichen Einigung mit den Kolonisten zustimmten. Welches Druckmittel den Fazendeiros in ihren treu ergebenen Cabokeln jederzeit zur Verfügung stand, schildert Heusser hier in der Folge selber. Er musste um sein Leben fürchten, konnte dies aber nicht öffentlich sagen. Zur Verwendung der "Ehren-Erklärung" gegen ihn vgl. Brief Nr. 66 (3. 8. 1857).schliessen Dies war etwas zu viel gesagt; denn wie ich eben auseinandergesetzt, sind diese Freien so zahlreich und mannigfaltig, daß ich nicht alle Freien, sondern nur eine gewiße Abtheilung derselben, die Cabokeln, näher kennen zu lernen Gelegenheit hatte. Diese Cabokeln scheinen in der Scheu vor Arbeit ihren Ahnen noch nicht untreu geworden zu sein. Sie nähren sich lieber von Jagd und Fischfang, als von Händearbeit. Die Sucht nach Geld hat diese Leute noch nicht ergriffen; sie wohnen auf kleineren Sitzen in der Nähe von größern Fazenden, ich bin aber wirklich nicht sicher, ob ihr Haus und umliegende Güter ihr Eigenthum ist, oder ob Alles den großen Fazendeiros gehört. Zins bezahlen diese Cabokeln jedenfalls nicht, schon aus dem einfachen Grund, weil sie Nichts arbeiten und verdienen, und ich glaube fast, die Cabokeln betrachten es als ganz natürlich und selbstverständlich, daß jeder so viel Land bebaut und als sein Eigenthum betrachtet, als er eben gerade nothwendig hat. Den Fazendeiro aber, als gebildeten Mann, betrachtet der Cabokel als viel höher stehend, überhäuft denselben, wenn er die Fazenda besucht, mit Geschenken von der Jagd und aus seinem Garten, und ist demselben auf Tod und Leben ergeben. Es geht dies so weit, daß in andern Provinzen, diese Cabokeln unter dem Namen "Todtschläger" bekannt sind; von diesen begleiten stets einige den Fazendeiro, und vertheidigen denselben nicht bloß gegen allfälligen Angriff, sondern sind auch auf jeden Wink bereit Feinde des Herrn meuchlings, oder auch ziemlich offen niederzuschießen. Gerichtliche Verfolgung tritt deswegen nicht so leicht ein. Wie gesagt ist dies System der Todtschlägerei hier nicht so ausgebildet, als in andern Provinzen, indeß soll auch hier das plötzliche Verschwinden des einen oder andern keine Seltenheit sein. Daß ich übrigens so ungenirt dies schreiben kann, ist ein Beweis, daß man doch nicht so ohne weiters jeden niederschießen kann; denn wenn ich auch schon viel verschluckt habe, so habe ich doch auch schon mich nicht bezwingen können, und habe ziemlich offen ausgesprochen, was ich von dieser ganzen Colonisations-Geschichte halte, so daß diese Fazendeiros jedenfalls wissen, daß ich Wahrheit nach Hause berichte.402Die Sicherheit, die Heusser hier noch zeigt, verlor er kurze Zeit später, als die Anfeindungen gegen ihn in Rio de Janeiro begannen.schliessen — Wie wir nun nach Angelica kamen, rückten auch diese dem Herrn Vergueiro ergebenen Cabokeln an mit Geschenken an Vögeln, Wild, Gebäck, Früchten etc., und waren auf die Bitte des Herrn Vergueiro gern bereit, uns zu Ehren eine große Jagd zu veranstalten. Tags darauf erschienen etwa 8 Mann mit 16 bis 20 Hunden; der älteste und erfahrenste dirigirte das Ganze, stellte Diethelm und mich an einen bestimmten Punkt hin, und sagte hier in der Entfernung von wenig Schritten müsse das Reh durchkommen. Obgleich ich es wenig ehrenvoll fand, bei dieser Jagd dieselbe Rolle zu spielen, wie die Deutschen Fürsten auf ihren Jagden, so konnte ich mich nicht wohl entziehen, stellte mich also hin, und wartete mehrere Stunden, aber umsonst. Kein Wild kam, sondern gegen Mittag die Jäger, mißmuthig, daß ihnen die Rehe entgangen; sie sagten, das Wetter sei zu naß, so daß die Hunde das Wild nicht gewittert, und wollten durchaus den folgenden Tag ihre Jäger-Ehre retten. [S.9] Ich konnte aber unmöglich noch einen Tag der Jagd opfern, sondern beschäftigte mich am folgenden Tag wieder mit den Colonisten. Das muß ich übrigens noch gestehen, daß die Witterung sehr feucht war, und daß ich trotz dieses mißlungenen Versuches, der theilweise auch darum gescheitert war, weil einer der Jäger vorher auf der Fazenda schnell einen tüchtigen Rausch getrunken hatte, diese sämtlichen Cabokel für ausgezeichnete Schützen und Jäger halte. Gerne hätte ich ihre Bemühungen wenigstens in diesem Briefe mit Erfolg gekrönt, wenn ich mir nicht fest vorgenommen hätte, mich in allen Punkten streng an die Wahrheit zu halten. — In der That haben mir diese Cabokeln ausnehmend gefallen, und lebhaft an Coopers "letzte Mohikaner"403J. F. Coopers Roman "The Last of the Mohicans" war 1826 erschienen, bald auf Deutsch übersetzt worden und um die Mitte des 19. Jh.s auch in Europa eines der populärsten Jugendbücher.schliessen erinnert. Raabenschwarze Haare und feurige fast ebenso dunkle Augen, schlanker hoher Wuchs und stolze Haltung zeichnen sie aus; in ihrem Blicke aber liegt etwas Finsteres und Ernstes. Daß sie sich noch nicht sehr um Landes-Gesetze kümmern, davon mag folgender Zug des Anführers der oben beschriebenen Jagd den Beweis liefern. Vergueiro erzählte mir selbst, daß diesem Manne, Namens Koreja, vor einigen Jahren von einem Feinde seine Wohnung angezündet worden, und daß dabei seine Frau und seine Tochter im Hause erstickt seien. Koreja wußte, wer der Brandstifter war, und erklärte demselben öffentlich vor vielen Zeugen, als er denselben bald darauf in der Stadt traf, daß er ihn zwar jetzt mit dem Messer niederstechen könnte, daß er dies nicht thue, aber auch nicht ruhen werde, bis er ihn mit demselben Tod bestrafen könne, an dem seine Frau gestorben. Darauf verfolgte Koreja jenen Mordbrenner unaufhörlich, Tag und Nacht; letzterer mochte sich hinwenden, wo er wollte, immer war Koreja wie sein Schatten hinter ihm; und als jener nirgends mehr Ruhe fand, sich in keiner Hütte mehr sorgenfrei schlafen legen konnte, da überlieferte er sich selbst wegen seines Verbrechens dem Gericht, und soll jetzt im Gefängniß in St. Paul sitzen.

[São João, 4. April 1857]

St. João den 4t. April.404Abgedruckt in der NZZ vom 18. August 1857, S. 71f.schliessen Ich wohne hier bei Dr. Gattiker405Heinrich Gattiker (*1828) hatte in Zürich von 1851 bis 1853 Medizin studiert. Er kannte die Familie Heusser von Richterswil her. In São João führte er eine gut gehende Praxis. Hier fühlte Heusser sich sicher. Er konnte in Ruhe seinen ersten vorläufigen Bericht an Oberst Benz (Brief Nr. 64) schreiben und die Ostertage im April 1857 verbringen.schliessen in einer kleinen Stadt ziemlich in der Mitte aller der Fazenden und Colonien, die ich bis jetzt besucht, 2½ Legoas von Ybicaba entfernt, und denke zunächst einige Tage bei ihm auszuruhen. Er hat sich hier in kurzer Zeit eine ausgezeichnete Praxis erworben, Viele haben sich neben ihm niedergelassen, aber keiner bestehen können; alle die Fazendeiros rings um bis in eine Entfernung von 20 bis 30 Legoas lassen ihn bei wichtigen Fällen rufen, und zur Besorgung dieser weitläufigen Praxis hat er etwa 8 Pferde und zwar die besten in der ganzen Umgegend und einige Maulthiere. Als Diethelm und ich mit unsern erbärmlichen, gemietheten Maulthieren auf Ybicaba ankamen und Gattiker uns daselbst besuchte, sagte er, das dulde er nicht, daß Schweizerische Abgeordnete auf solchen Thieren reiten, und schickte uns daher gleich am folgenden Tag seine zwei besten Pferde. Wer brasilianische Gastfreundschaft und brasilianische Sitten überhaupt kennt, weiß, daß wir dies nicht ausschlagen konnten; und so reite ich denn zu meiner großen Freude seit mehreren Wochen auf einem herrlichen Pferde herum, und rühme mich trotz der vielen Jahre, während welcher ich kein Pferd bestieg, die edle Reitkunst nicht vergessen zu haben. Gattiker selbst reitet wirklich fast wie ein Cabokel; schon mehrere Mal ritten wir zusammen einige Legoas; kamen wir da auf einen Campos (große Sandebene), so wurden die Bügel über das Pferd gelegt, die Spornen eingesetzt und dann mit den halbwilden Pferden im Fluge davon! Bis jetzt bin ich noch nie zurückgeblieben, werde auch nie zurückbleiben.406Der nächste Satz ist von fremder Hand - ev. von Spyri? - wohl im Hinblick auf die Publikation in der NZZ ausgestrichen und nicht mehr lesbar.schliessen [...]Gattiker läßt Papa und Bruder grüßen und erinnert sich gerne und mit Freuden an seinen Aufenthalt in Richterschweil. Was Müller von der Werra407Im Matrikelverzeichnis der Universität Zürich findet sich in den entsprechenden Jahren kein Eintrag zum Namen Müller von der Werra.schliessen und Pott408Friedrich Bott (*1922) studierte 1850-1855 in Zürich Medizin. Heusser und Gattiker kannten ihn vom Studium her.schliessen betrifft, welche beide durch mich in Brasilien placirt werden wollten, so will Gattiker vom erstern Nichts wissen, er sei ein Schwärmer und kein Arzt, kurz Gattiker ist nicht gut auf ihn zu sprechen. Was dagegen Pott betrifft, so wird Gattiker für denselben sorgen. Er will selbst einige Zeilen an Pott beilegen. Wißt Ihr nicht, wo Pott sich gegenwärtig aufhält, so kann Spyri es bei Zinn in Thalwyl erfahren. — Was den Müller von der Werra betrifft, so soll er, wenn er wirklich ein guter Arzt ist, sich von Deutschland aus Empfehlungen nach Rio, und von Rio aus Empfehlungen an einige Fazendeiros in irgend einer Provinz verschaffen, so daß er bei diesen die erste Zeit kostenfrei leben kann. Gelingen ihm dann eini[S.10]ge bedeutende Kuren, so ist sein Glück gemacht. Gelingt ihm Nichts, so ist's freilich schlimm; für länger als einige Monate darf man die Gastfreundschaft doch nicht in Anspruch nehmen. Ich glaube, einem tüchtigen Arzt kann es hier nicht leicht fehlen; indeß entschlage ich mich natürlich aller Verantwortlichkeit. — Was den [...]409Der Name ist von fremder Hand unleserlich gemacht.schliessen betrifft, so werde ich an ihn speciell, oder aber durch [Widmer]410Auch dieser Name ist gestrichen, aber noch lesbar.schliessen schreiben.

Vor etwa 8 Tagen machte ich mit Gattiker zusammen von der Colonie St. Lorenzo aus einen Ritt nach Prizicaba,411Heute: Piracicaba.schliessen einer etwa 7 Legoas von hier entfernten ganz neu angelegten Stadt. Theils Schweizerische Straßenarbeiter, die hier gelagert sind, theils ein Zürcher, der hier ein Stück Land gekauft hat, machten es mir zur Pflicht, diese Stadt zu besuchen; es war mir dieser Ausflug übrigens sehr angenehm, indem er mich zum ersten Mal daran erinnerte, was ich nach vollendeter Mission Großes und Schönes als Naturforscher in diesem Lande zu erwarten habe. Prizicaba ist eine ganz neu entstandene Stadt am linken steil abfallenden Ufer eines Flusses gleichen Namens. Der letzte bedeutende Ort gegen das Innere hin; hieher sollen jährlich ein oder zwei Mal die Wilden aus dem Innern den Fluß herauf kommen, um Salz zu holen. Es wird ohne Zweifel der Ort mit der Zeit commerciell sehr wichtig werden; doch davon will ich jetzt nicht sprechen. Als Curiosum in Beziehung auf commercielle Verhältnisse will ich hier nur noch anführen, daß in diesem bedeutenden Ort kein Wirthshaus sich findet, wo ein Fremder übernachten kann. Alle Fremde sind auf Gastfreundschaft angewiesen, und so waren auch wir gezwungen bei einem norddeutschen zuckersüßen, aber sehr hungrigen Arzt abzusteigen. Was wir bei ihm genossen hat er übrigens bereits und wird es noch zehnfach bei Gattiker einziehen. — Was mir aber in Prizicaba ganz besonderes Interesse gewährte, das war der Fluß, und die Schlüsse, die ich daraus zog mit Beziehung auf die Größe des La-Plata- Stromgebietes. Man mag in irgend einem Lehrbuch der Geographie lesen, der La-Plata sei bei seiner Mündung so und so viele Meilen weit, oder auch sein Stromgebiet erstrecke sich über die Hälfte des Continents von Südamerika, vom 10t. bis 33t. Grad südlicher Breite und vom 50t. bis 70t. Grad westlicher Länge, es enthalte so und so viele Quadratmeilen, alle diese Zahlen geben keine Anhalts- und Vergleichungspunkte und deswegen kein deutliches Bild. Nun ist aber der Fluß Prizicaba bei der Stadt gleichen Namens etwa 193 meiner Schritte, d.h. 579 Schweizer Fuß breit, wenn ich nicht sehr irre, nahe so breit, wie der Rhein bei Basel; die Tiefe ist natürlich mir unbekannt; ganz nahe bei der Stadt macht er aber einen Fall von etwa 25 Fuß Höhe, und da sieht man daß er eine gewaltige Wassermasse mit sich führt. Kurz dieser Prizicaba erscheint nach Europäischen Begriffen schon als ein gewaltiger Strom; wenige Meilen unterhalb dieser Stadt mündet er in den Tieté, welcher letzterer Strom schon bedeutend größer sein soll. Nehmt nun irgend eine Specialkarte von Brasilien zur Hand, so werdet Ihr bloß den Tieté, (den Prizicaba aber gar nicht) verzeichnet finden; und auch den Tieté bloß als feine Linie, welche neben den vielen andern gleich großen und größern Zuflüssen des La-Plata kaum zu finden ist. Es ist also wohl nicht zu viel gesagt, daß dieser Prizicaba, der selbst dem Rheinstrom bei Basel nahe gleich kommen wird, sich zum Plata-Strom bei seiner Mündung ungefähr verhält, wie ein kleines Capillar-Gefäß zu der großen Vena cava; diesen Kreislauf, die übrigen Capillargefässe und Venen, die durch die gewaltige Vene des Platastromes ihr Blut dem Herzen der Erde, dem Meer, zuführen, möchte ich aber noch weiter verfolgen; diese Sehnsucht hat mich in Prizicaba ergriffen wie nie zuvor412Die nächsten fünf Zeilen sind von anderer Hand - ev. von Spyri? - ausgestrichen und unleserlich gemacht.schliessen [...]. [S.11] [...] so sehr erwünscht, da die meisten Colonien an der Küste liegen, während ich mehr nach dem Innern trachte. Es ist mir in dieser Beziehung lieb zu vernehmen, ob die Allg. Ztg. oder sonst ein Blatt meine Berichte aufnimmt und bezahlt. Gerade was ich in diesem Briefe geschrieben ist zwar nicht geordnet, weil ich zu verschiedenen Malen mich hinsetzte, und immer zu diesem Zweck den dringenden Colonisten-Angelegenheiten die Zeit abstehlen mußte. Was ich aber geschrieben, ist wahr, und ist mehr werth, als alles Andere, was bis jetzt in der Litteratur über die Provinz St. Paul erschienen ist. Kurz wenn ich einmal weiß, wie viel mit solchen Berichten zu verdienen ist, so werde ich meine Rechnung machen; und wenn ich damit nebst einigen andern Erwerbszweigen, die ich noch habe, fortkommen kann, so reise ich lieber auf eigne Faust, als im Dienste des Ministeriums ins Innere, damit ich ganz ruhig und ungestört meinen Neigungen leben kann. — Für die Colonisation sind und bleiben ohne Zweifel immer bedeutende Kräfte nöthig; ich denke immer in erster Linie an Widmer, kann aber jetzt noch nichts Näheres schreiben; mein erster Brief von Rio aus wird jedenfalls an Widmer gerichtet sein.413Mit Widmer hatte Heusser offenbar die Möglichkeit besprochen, dass man in Brasilien gleichsam als eigenes "Entwicklungsprojekt" einen Kaffeeberg kaufen könnte. Vgl. den Brief Nr 63a an Spyri.schliessen Jedenfalls soll er den Gedanken nicht fallen lassen, herzukommen; ich glaube, er wird Beschäftigung genug finden. Hoffentlich werden sämmtliche Agenten bei den Köpfen genommen. Wenn er den Augenblick benutzen und eine Agentur übernehmen könnte, so wäre es recht, um vorläufig etwas mit den Geschäften bekannt zu werden. Sollte er nachher selbst herkommen so würde sich wohl in Zürich ein ehrlicher Nachfolger finden (Walder,414Karl Walder (1821-1898) war Fürsprech und Mitredaktor der "Freitagszeitung". Als Sekretär der Direktion des Innern (1847-1866) war er an sozialen Fragen interessiert. Er verfasste die Schrift Die Entwicklung der Armenverhältnisse des Kt. Zürich 1836-1854, Zürich 1856, und wurde ein populärer Führer der demokratischen Bewegung. Vgl. HBLS VII, S. 364f. und S. G. Schmid, Die Zürcher Kantonsregierung seit 1803, S. 363, Zürich 2003.schliessen oder am Ende Spyri selbst.) — Krank bin ich noch nie gewesen; doch mußte ich schon drei oder viermal für einen halben oder ganzen Tag mich niederlegen, das eine Mal in Folge leichter Erkältung, das andere Mal in Folge vom Genuß von Früchten, wieder andere Male wurde mir in Folge von Hitze und Erschlaffung schwindlig, so daß ich von der Arbeit ruhen [musste].415Ergänzung bei eingerissenem Rand.schliessen In Santos und Rio, kurz an der Küste, herrscht jetzt das gelbe Fieber, daher habe ich mich auf den Rath von Dr. Gattiker entschlossen, hier meinen Bericht abzufassen, und zu warten, bis das gelbe Fieber die Küstengegend wieder verlassen hat, was muthmaßlich bis Mitte oder Ende Juni der Fall sein wird. Von hier aus schreibe ich nicht mehr, sondern meine nächsten Berichte habt Ihr von Rio aus nach etwa 2 Monaten zu erwarten. Bis dahin lebt wohl!

Euer J. Ch. Heußer.
St. João den 4t. April 57.

NB. Meine Adresse bleibt stets die im letzten Brief mitgetheilte: Dr. Ch H. pr. adr. Consul David in Rio.



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