Brief Nr. 61 – 2.-12.1.1857
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61 2.-12.1.1857
[2. Januar 1857]
Liebe Eltern!

(2t. Januar 57) Da die See gerade ruhig ist, will ich versuchen, wie es mit dem Schreiben geht. Altjahr-Abend und Neujahr wäre also glücklich vorüber, und zwar hatten wir über diese Tage seit der Abfahrt von Lissabon (Dienstag den 30t. Dec. Abends 4 Uhr) so wunderschönes Wetter, daß sich keine schönere Fahrt wünschen läßt. Sie hat auch in der That einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, und größere Gegensätze, als wie ich den letzten Jahres-Abend gewöhnlich im Hirzel und wie ich denselben diesmal zur See zugebracht, lassen sich nicht leicht denken. Und doch ist dies zu viel gesagt, da der Gegensatz bloß ein rein äußerer war, mit Beziehung auf Clima, Seefahrt etc. Innerlich war eigentlich kein Gegensatz da; es war hier keine gemeinschaftliche Feier, sondern jeder gieng mit sich allein beschäftigt dem neuen Jahr entgegen; mehrere, und so auch ich, brachten die letzten Stunden auf dem Deck zu, in warmer Sommerluft, unter herrlichem Sternenhimmel, in tiefster Stille. Der gestrige Abend (Neujahrs-Abend) war schon etwas belebter; zwar nicht rauschende Freude, nicht Zechen und Trinkgelage, aber eine allgemein fröhliche Stimmung, die auch ich theilte, und die sich besonders dadurch aussprach, daß man sich nicht mehr so vereinzelt hielt, sondern in kleinen Gruppen, wesentlich nach den Nationalitäten geordnet zusammenthat und zusammen spazirte. Was übrigens die Tafel betrifft, so wurde doch der Tag dadurch gefeiert, daß uns der Capitän mit Scherry regalirte, welcher ausgezeichnete Wein doch etwas zur Belebung beitrug. Was diese Nationalitäten betrifft, so wißt Ihr einstweilen bloß, daß unser 3 Schweizer und außerdem viele Deutsche an Bord sind. Dazu kommen nun aber noch etwa 10 Italiener aus der englischen Fremdenlegion, die nach der Argentinischen Republik reisen, und schon seit Southampton an Bord sind; ferner kamen in Lissabon 15 bis 20 Portugiesen zu. Vor Allen bemerkbar machten sich nun die Italiener durch wunderschöne Gesänge, die ihnen recht aus der Seele zu kommen schienen, da sie nur unter diesem südlichen Himmel ihre Heimath finden. Auch ich war theils durch diese Gesänge, theils durch den gewaltigen Eindruck, den die ganze umgebende Natur auf mich machte, theils durch die Erfahrungen der zwei letzten Tage (Bekanntschaft mit dem Capitän, davon später Näheres) in so heitere Stimmung versetzt, daß ich dieselbe gerne als ein omen für dies Jahr und für die Zukunft betrachte, und mit unendlicher Befriedigung und Zuversicht der neuen Welt entgegensteure. — Da mein Reisezweck wesentlich ein praktischer, auf die Auswanderung gerichtet ist, so muß ich doch noch einmal auf die Seekrankheit zurückkommen, und meine dabei gemachten Erfahrungen aufzeichnen zum Nutzen und Frommen derjenigen, die etwa nachfolgen wollen. Neben Übelkeit litt ich an vollständiger Apetitlosigkeit; so wie ich die letztere besiegt und gegen meine Neigung etwas gegessen hatte, so trat allmälig die Besserung ein. In der That muß man sich zwingen etwas zu essen, auch wenn man dasselbe gleich nachher wieder bricht, und so allmälig den Magen restauriren, und für die Schwankungen des Schiffes unempfindlich machen. Die Hauptsache ist nun eben, daß man in jenem Zustande der Appetitlosigkeit dasjenige zur Verfügung hat, worauf man noch am ehesten ein Gelüste hätte. Als Cajüten-Passagier dachte ich alles Wünschenswerte an Bord zu finden, und brachte mir daher Nichts aufs Schiff. Die beiden andern Schweizer dagegen nahmen sich gedörrte Zwetschgen mit, gaben mir nachher auch davon, und diese schmeckten mir vortrefflich. Außerdem sehnte ich mich eigentlich nach einem Apfel, oder auch nach einem sauren Zürich-Seewein. Wasser ist wohl an Bord, vermag aber nicht den unmäßigen Durst zu löschen. Dürre Zwetschgen und grüne saure Äpfel, die bei uns so leicht zu bekommen sind, sollte jeder Schweizer-Auswanderer mitnehmen. In Havre, Dover etc. erhält man leichter und wohlfeiler Citronen und Pomeranzen; die sind aber zu süß; ich wenigstens hatte kein Verlangen danach.

[4. Januar 1857]

4t. Januar. Bereits haben wir am 2. Abends beim Einnachten die Canarischen Inseln erreicht und sind zwischen Palma und Teneriffa durchgesegelt, doch viel näher der erstern Insel, die wir bei Mondschein ganz gut erblicken konnten, während ich dagegen von Teneriffa Nichts sah; geübte See-Augen erblickten auch diese. An Ferro, welche Insel dadurch bekannt, daß die Spanier und mit ihnen bis vor nicht gar langer Zeit die meisten Nationen die geographische Länge von derselben aus rechnen, kamen wir auch ganz nahe, aber in den ersten Morgenstunden vorbei, so daß ich dieselbe nicht sah. Gestern Mittags erreichten wir den 26t. Breitegrad, und die heutige Ortsbestimmung, die, wie jeden Tag, um 12 Uhr gemacht wird, wird wahrscheinlich ergeben, daß wir den Wendekreis bereits passirt haben, und in die Tropen eingetreten sind. Darauf läßt auch die bereits eingetretene große Hitze schließen. Über die Natur-Erscheinungen [S.2] will ich übrigens lieber am Ende der Seereise zusammenfassend berichten, jetzt aber noch etwas Näheres über die verschiedenen Plätze mittheilen, damit Nachfolger wissen, welchen Platz sie zu nehmen haben. Was ich sage, gilt wahrheitsgetreu von dieser Fahrt, indeß mache ich besonders darauf aufmerksam, daß sehr wenig Passagire an Bord sind, und daher die Überfahrt, besonders auch für die Zwischendecks-Passagire viel angenehmer ist, als wenn das Schiff voll. Erste und zweite Cajüte haben immer (— nicht, wie ich im letzten Brief schrieb bloß jetzt, weil nur wenige Passagire zweiter Cajüte sind —) dieselben Mahlzeiten und zwar genießt man Morgens früh beim Aufstehen oder auch noch im Bett schwarzen Caffé, um 9 Uhr ein englisches Breakfast, d.h. Thee mit Fleisch (Beafsteaks, Cottelets etc.), um 12 Uhr ein zweites Frühstück bestehend aus kaltem Fleisch, Sardellen, Hering etc. mit Butterbrod und Käse, um 4 Uhr ein reichliches und feines Mittagessen mit schwarzem Café und endlich um 8 Uhr Thee mit Süßigkeiten. Offenbar viel zu viel! Was die Cajüten betrifft, so ist wie gesagt kein großer Unterschied; indeß sind in der zweiten Cajüte nur zwei einzelne Zimmer; wenn mehr Passagire sind, so müssen dieselben zusammen in der Cajüte selbst schlafen, so daß für Damen jedenfalls 1t. Cajüte anzurathen ist, umso eher, als der Unterschied im Preis nicht so bedeutend ist. Weit größer ist nun der Unterschied im Preis zwischen 2t. Cajüte und Zwischendeck, ebenfalls bedeutend ist er mit Beziehung auf Raum, Schlafstellen u.s.w. Nicht sehr bedeutend ist er dagegen mit Beziehung auf Kost; ich könnte mich mit der Zwischendecks-Kost ganz gut zufrieden geben, und bin überzeugt, daß wenn die Kost auf allen Schiffen so ist, die meisten Auswanderer in ihrem Leben nie so gut gegessen haben. Butter und Brod erhalten sie je für eine Woche, außerdem Morgens Caffé, Mittags Suppe Fleisch und Gemüse, Abends Thee. Und zwar ist Alles sehr schmackhaft und wird in solchen Portionen verabreicht, daß die beiden Schweizer sich Mittags von der Suppe und der Hälfte Fleisch satt essen, die andere Hälfte Fleisch aber und die Kartoffeln, die gewöhnlich als Gemüse gegeben werden, auf den Abend sparen, und dann die Kartoffeln mit ihrer überflüssigen Butter braten lassen. Kurz beide sind mit der Kost sehr zufrieden. Nicht so regelmäßig und reichlich, vielleicht auch nicht so gut mag die Kost sein, wenn das Zwischendeck voller ist, indeß bin ich überzeugt, daß die Nahrung auch dann allen billigen Anforderungen genügt. Das Schlimmste ist nun aber im Zwischendeck der Platz; alles Bettzeug müssen die Passagire selbst mitnehmen und sich darauf in den hölzernen Bettstellen lagern, die neben und über einander dicht gedrängt an den Wänden des untern Schiffs-Raums angebracht sind. Im freien Raum in der Mitte sind dann die Kisten und Koffern der Auswanderer gelagert, und dienen ihnen als Tische und Stühle, deren keine weiter vorhanden sind. Natürlich ist hier Alles durcheinander, Männer, Weiber, Kinder, und dabei eine Luft, wirklich kaum zum Aushalten! Und doch sind wir jetzo auf einem ganz neuen, großen, gut mit Luftzug eingerichteten Schiff, dessen Zwischendeck nicht zum 4t. Theil angefüllt ist. Wie mag es da manchmal aussehen und ausgesehen haben auf kleineren Schiffen, wo die Auswanderer wie eingepöckelte Heringe zusammen liegen! Da begreift man wirklich, daß die eine Hälfte der Auswanderer zu Grunde geht, und die andere den Muth verliert: Mein Begleiter Wildberger, der doch nun kein bemittelter Mann, aber für sich selbst ganz zufrieden ist, sagte mir heute, daß er wo möglich Frau und Kinder so lange nicht wolle nachkommen lassen, bis er für dieselben 2t. Cajüte bezahlen könne. — Die Preise der Plätze verhalten sich wie die Zahlen 1 [zu] 3 zu 4, d.h. Zwischendeck kostet von Southampton aus 10 Pfund = 250 Fr., 2t. Cajüte 30 engl. Pfund = 750 Fr. und 1t. Cajüte 40 Pfund = 1000 Fr. Soeben sagt mir Wildberger auch noch, daß einzelne Portugiesen von Ungeziefer geplagt seien, und sich mitten unter allen andern Zwischendecks-Passagiren desselben zu entledigen suchen; natürlich ist auch solche Schweinerei auf einem überfüllten Schiffe noch viel größer

[5. Januar 1857]

5t. Januar372Abgedruckt in "Blätter für Kunst und Literatur" Nr. 44, Beilage der NZZ vom 6. Mai 1857, S. 173f.schliessen Seit gestern Morgen befinden wir uns also wirklich bereits unter den Tropen; doch ist die Hitze noch erträglich, theils wegen des stets wehenden Passates, theils weil eben die Sonne jetzt auf der südlichen Hälfte senkrecht steht, d.h. wir uns immer noch im Winter befinden. — Was nun die tägliche Beschäftigung betrifft, so mache ich täglich dreimal, morgens 6½, Mittags 12 und Abends 5½ Uhr astronomische und physikalische Beobachtungen, von denen später noch etwas Näheres folgen soll. Für die Stunden nach der ersten Beobachtung also etwa von 7 bis 9 Uhr hatte ich mir vorgenommen Portugiesisch zu treiben, und habe auch Grammatik und Lexikon bei mir, allein das Fleisch ist schwach, und im 30t. Jahr lernt man nicht mehr gern Grammatik; zudem ist die Sprache so charakterlos, zusammengewürfelt, aus allen möglichen Spra[S.3]chen, daß ich derselben keinen Geschmack abgewinnen kann; endlich ist die Aussprache ganz verschieden von der Schreibart, so daß alles dieß mich bewogen hat, diese Sprache nicht aus Büchern, sondern aus dem Leben zu erlernen, wie es Hundert Andere auch machen: und so habe ich in der That unseren Portugiesischen Gästen auch schon manches Wort und manche Redensart abgewonnen und denke, wenn ich ausschließlich unter Portugiesen bin, mich auch bald verständlich machen zu können. Ich genieße daher die ersten verhältnißmäßig noch kühlen Tagesstunden bis 9 Uhr einfach durch einen Spaziergang auf dem Deck mit irgend einem der Mit-Passagire, oder gerne auch mit einem der Offizire, die mir über Seefahrt etc. viel Interessantes mittheilen. Nach dem Frühstück von 9½ bis 12 Uhr lese ich entweder etwas Englisches, oder ich studire in den nautischen und astronomischen Büchern, die ich mitgenommen, oder ich schreibe, wenn die See ruhig ist, an diesem Briefe. Die Nachmittagsstunden von 1-4 Uhr sind sehr heiß und nicht zum Arbeiten geschaffen; in dieser Zeit bin ich gewöhnlich mit den beiden Schweizern zusammen und spreche mit Claraz (dem von Berlin mitgekommenen Studenten) französisch, da die Kenntniß des Französischen in Brasilien verbreiteter sein soll, als die des Englischen. Nach dem Mittagessen und meinen letzten Beobachtungen folgt in der Regel gleich der Sonnen-Untergang; diesen betrachtet man gewöhnlich gemeinschaftlich auf dem Deck, und bringt auch die Stunden bis zum Thee noch im Freien zu. Nach dem Thee folgt entweder ein kurzes Whist, oder gewöhnlicher noch gemeinschaftliche Unterhaltung, die besonders durch die Erzählungen des Capitäns, eines sehr liebenswürdigen und vielgereisten Mannes, interessant und anziehend wird. Er hat bereits alle Meere durchsegelt und alle 5 Welttheile gesehen, und ich finde hier eine bereits einmal gemachte Erfahrung bestätigt: Geographie in Schulen gelehrt interessirte mich nie, wohl aber interessirte es mich Land und Leute selbst zu sehen; jedes unbedeutende Thal, das ich selbst sah, blieb mir 10 Mal fester im Gedächtniß, als was ich über die größten und einflußreichsten Königreiche bloß las und hörte. So vermochte selbst der große Ritter nicht gerade für seine Wissenschaft mich sehr zu begeistern; mit größerem Interesse höre ich jetzt unsern Capitän sprechen, da er aus eigener Anschauung erzählt, und da mir selbst jetzt viel größere Aussichten geboten sind, alle diese Länder auch zu sehen, als auf den Schulbänken Berlins. — So rückt die 10t. Stunde immer sehr rasch heran, und ich kann wohl sagen, daß ich bis jetzt noch keinen Augenblick lange Zeit gehabt habe. Um 10 Uhr werden alle Lichter ausgelöscht. Indeß spazieren wir nachher regelmäßig wohl noch über eine Stunde, da die Nächte weit aus am schönsten, auch der Kühle wegen am angenehmsten sind.

[9. Januar 1857]

Den 9t. Januar. Ich habe nicht unruhiger See, sondern der Hitze wegen in den letzten Tagen nicht geschrieben; gestern hatten wir aber ein Gewitter, und heute früh bereits ein zweites, wodurch die Luft ziemlich abgekühlt ist. Bereits sind wir nicht mehr als 5 oder 4 Breitegrade vom Äquator entfernt. — Ehe ich es vergesse, will ich bemerken, daß mir die zwei Schweizer im Zwischendeck bereits geklagt haben, das Essen werde immer schlechter und sei durchaus nicht mehr dem gedruckten Programm entsprechend. Näher will ich jetzt nicht mehr darauf eintreten, sondern bemerke dies bloß, damit, wenn in meinem Bericht an die Regierung davon die Rede sein sollte, Ihr darin keinen Widerspruch mit meinen Privat-Nachrichten erblickt. — Um nun einmal von den Leuten zu sprechen, deren Gesellschaft ich hier vorzüglich genieße, so bilden der Capitän, die deutsche Dame, die beiden Ärzte, der junge Kaufmann und ich einen ziemlich strenge abgeschlossenen, recht gemüthlichen Clubb. Die Portugiesen sind eckelhaft unreinlich, und überhaupt schon halb farbig, scheinen das Übergewicht der Deutschen selbst zu fühlen; die Engländerin ist ganz ungebildet, aus niedrigem Stande, paßt daher auch nicht zu uns, sondern zu den Zwischen-Decks-Passagiren. Es mag zwar aus diesen Worten scheinen, als ob ich meine bisherigen Grundsätze bereits verleugne, und mit Verachtung auf Armuth und Mangel an Bildung hinunterblicke; es ist dies nicht der Fall, nicht nur bringe ich mit die angenehmsten Stunden mit den beiden Schweizern zu, sondern ich unterhalte mich auch sonst oft stundenlang mit den deutschen Auswanderern des Zwischendecks. Aber daß zu näherem Umgang und zur Unterhaltung in den Abendstunden in dem oben genannten kleinen Kreis eine ordentliche Bildung nöthig ist, wird man hoffentlich begreifen. — Um mit dem Capitän den Anfang zu machen, so ist derselbe ebensowohl durch sein freundliches Ent[S.4]gegenkommen, als durch seine gründliche Bildung mir eine sehr angenehme und schätzenswerthe Persönlichkeit. Er gestattete mir gleich von Anfang an, in seinem und der Offizire Arbeitszimmer, das am wenigsten auf dem ganzen Schiff den Schwankungen ausgesetzt ist, meine täglichen Beobachtungen an zwei Barometern zu machen, und mit dem auf dem Schiff befindlichen Normal-Barometer zu vergleichen. Außerdem machte ich in der ersten Woche von Lissabon aus täglich mit dem Capitän zusammen um Mittag die Bestimmungen der Sonnenhöhe, aus welchen sich leicht die geographische Breite berechnen läßt. Seit einigen Tagen habe ich freilich damit aufgehört, und zwar auf Anrathen des Capitäns, weil bei diesem nahe senkrechten Stand der Sonne es etwas gefährlich ist, sich den Strahlen derselben lang auszusetzen; nachdem ich mich an die Hitze etwas gewöhnt, werde ich auch damit wieder fortfahren, und so noch praktisch einüben, was ich in Berlin der Kürze der Zeit wegen nur theoretisch mir aneignen konnte. Übrigens ist auch der Capitän nicht bloß praktischer Seemann, sondern weiß Alles was er macht, auf seinen Grund zurückzuführen und mathematisch zu beweisen. Theoretische Bildung verbunden mit Erfahrung giebt jedenfalls auch dem Seemann größere Sicherheit, als letztere allein. Charakteristisch war letzthin folgende Äußerung des Capitäns, die er that, als Einer bemerkte, wie weit die Engländer im Seewesen allen andern Nationen voraus seien: "Ja das ist wahr, sagte er, denn, wenn die Englischen Capitäne eine Klippe im Meer sicher vermeiden wollen, so richten sie die Fahrt so ein, daß sie nach ihrer Ortsbestimmung genau den Felsen treffen müßten, in der Überzeugung, daß ihre Beobachtung so weit falsch ist, daß sie neben durch kommen, wir Deutsche machen aber die Messungen so sicher, daß wir um den Felsen zu vermeiden, nicht auf denselben los, sondern um denselben herumsteuern. — Es sieht dies zwar fast aus wie Renommage, war es aber durchaus nicht; der Capitän meinte natürlich nicht, daß alle englischen Capitäne ihrer Beobachtung und Rechnung so unsicher seien, sondern nur ein großer Theil, und daß aber die besten, gebildeten englischen Capitäne ihresgleichen auch in Deutschland haben. Daß übrigens die meisten englischen Capitäne, wenigstens die der unbedeutenderen Kauffahrteischiffe, ihren Cours auf die eben beschriebene Weise einrichten, ist faktisch und sieht auch der Naivität der Engländer ganz ähnlich. — Gelegenheit zu dieser Bemerkung gaben die St. Paul genannten Felsenriffe, die vielleicht einen Grad nördlich vom Äquator liegen, und auf den meisten Karten, weil sie den Seefahrern sehr gefährlich sind, angegeben sind. Wir werden dieselben heute in der Nacht passiren, also leider wieder nicht sehen. — Von allen Ländern, die der Capitän gesehen, soll Chili das schönste sein; bekanntlich ist dasselbe sehr gebirgig, die Anden senken sich hier in steilem Abfall ins Meer, so daß das Land ohne Zweifel auch größere Ähnlichkeit mit unsern Alpen hat, als das ebenere und heißere Brasilien. Auch die Reise von Buenos Ayres nach Chili muß sehr interessant sein durch die Pampas, d.h. ungeheuer große und fruchtbare Ebenen, in denen überall ganze Heerden von wilden Rossen sich herumtummeln. Die Reise macht man auch zu Pferd und zwar stets im vollen Galopp; so wie die Pferde müde sind, läßt man sie laufen, und die begleitenden Indianer fangen mit ihren eigens dazu eingerichteten Schlingen andere Pferde ein, und auf diesen reitet man wieder einige Stunden weiter. Doch möchte ich lieber aus Erfahrung sprechen, und kann nicht leugnen, daß dies Chili und die Reise dahin eine große Anziehung auf mich ausübt. — Es folgt nun das 2t. Glied unser engeren Gesellschaft, die Hamburger Dame, die als Erzieherin nach Bahia reist, eine ächte Nord-Deutsche, fein, gebildet, zurückhaltend, aber wenn sie ins Gespräch kommt, doch ganz lebhaft und unterhaltend; sie gehört einer streng religiösen Richtung an, wenigstens sitzt sie oft über der Bibel und frommen Liederbüchern, hört es aber doch ganz gerne, wenn die beiden Doktoren immer und immer wieder auf dasselbe zurückkommen, und ihr begreiflich machen wollen, daß alle ihre Lektüre dummes Zeug sei. Sie vertheidigt sich zwar nicht mit Ungeschick, aber die täglich von demselben Punkt ausgehende Unterhaltung, die freilich dann sehr verschiedene Wendungen nimmt, läßt darauf schließen, daß es sich dabei von beiden Seiten nur um den Anfang eines Gesprächs handelt. Denn an Erfolg oder Überzeugung der Gegenparthei ist von ihrer Seite jedenfalls nicht zu denken. — Die beiden Doktoren, der eine von Hamburg, der andere aus Holstein, sind der wahre Ausdruck nordwest-Deutscher Musensöhne. Alle diese Leute aus Hamburg, Bremen, Oldenburg, Hannover, Meklenburg, Schleswig und Holstein, haben etwas Eigenthümliches, eine Mischung von feinem und treuherzigem Wesen, welche mir dieselben immer angenehm gemacht hat; dabei nicht die Anmaßung der Preußen: Unter sich sind die beiden sehr verschieden [S.5] im Alter, daher doch jeder ein eigenthümliches Element in die Gesellschaft bringt. Der eine nämlich, der Schiffsarzt, ist noch ganz jung, kaum den Universitäts-Jahren entsprungen, sein Ideal und Lieblings-Thema daher noch Alles was mit Universitäts-Leben und Treiben zusammenhängt. Der andere dagegen, obgleich noch ganz jugendlich aussehend, ist in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, und hat im Verhältniß zum Alter noch mehr erlebt. Nach Beendigung seiner Studien, also schon vor etwa 12 Jahren war er bereits in Brasilien Arzt auf einer Plantage mit sehr günstigem ökonomischem Erfolg; er sollte Mitbetheiligter an der großen Plantage seines Herrn werden, als 1848 die Revolution in Schleswig-Holstein ausbrach, und ihn veranlaßte in seine Heimath zurückzukehren und mitzukämpfen. Der Ausgang des Krieges machte ihm jede Stellung im Vaterlande unmöglich; zudem starb noch um diese Zeit seine Braut an Typhus in einer von den Dänen belagerten Stadt, und so wurde Dr. Aschenfeld denn wieder Schiffs-Arzt, und suchte in großen Reisen Zerstreuung und Erholung. Bis zum Ausbruch des Krim-Feldzugs durchflog er fast alle Länder und Meere und merkwürdig ist, daß auch dieser Mann, dessen Persönlichkeit mich sehr anspricht, von allen Nationen, die er kennen gelernt, die Nordamerikaner am tiefsten stellt, und Feuer und Schwert auf dieselben herunter wünscht, als auf das gemeinste Judenvolk, das existire, bei dem um Geld rein Alles zu erhalten sei, und das um Geld Alles zu thun jeden Augenblick bereit sei. Der furchtbaren Gewissenlosigkeit und Prellerei dieses Volkes wegen hält daher Dr. Aschenfeld die Auswanderung dahin für ein großes Unglück, während er in Brasilien viel größere Garantien für das Glück und Gedeihen deutscher Auswanderung erblickt. So verschieden sind die Urtheile! Ich sage dies besonders mit Beziehung auf den Brief, den ich von Southampton aus an Widmer geschrieben. Es ist wirklich gut, daß ich mir nun nächstens durch eigene Anschauung auch ein selbstständiges Urtheil bilden kann. — Beim Beginn des Krim-Feldzugs trat Dr. Aschenfeld als Arzt in die englische Fremdenlegion, und jetzt, da dieser Krieg beendet, geht er wieder nach Brasilien, wo er zwar auch menschliche Schwächen zu finden gefaßt ist, aber doch nach seinen Erfahrungen das freiste und angenehmste Leben zu führen hofft. —

Der junge Kaufmann373Mit dem jungen englischen Kaufmann Barker, den Heusser hier so hart beurteilt, wird er sich später in Buenos Aires befreunden. Vgl. Brief Nr. 79 (15. 1. 1860) u. ff.schliessen endlich ist, wie die meisten Herren seines Gelichters ziemlich ungebildet, spricht aber doch mit der größten Sicherheit und Frechheit über Alles ab; er hat etwas Eigenthümliches durch die Mischung von englischer und deutscher Nationalität: geborener Engländer, aber in Leipzig aufgewachsen und erzogen, ist er ein sächsischer Schwätzer geworden.374Im Abdruck in der NZZ ist dieses scharfe Urteil abgeschwächt: "Der junge Kaufmann endlich ist dem Geiste nach nicht sehr gebildet, spricht aber doch mit der größten Sicherheit und Keckheit über alles ab. [...] in Leipzig aufgewachsen, hat er sich zum britischen Selbstgefühl die sächsische Redefertigkeit angeeignet."schliessen Mit dem Welthandel und den damit zusammenhängenden Hauptfragen der Neuzeit recht bekannt, da er wiederholt in England und 6 Jahre bereits in Rio gewesen ist, und außerdem nicht ohne Witz, bildet er doch auch ein passendes Glied unserer Gesellschaft. — Mich kennt Ihr und somit ist das Bild unseres engern Kreises entworfen. Der Kaufmann nennt mich abwechselnd Wilhelm Tell, Winkelried und Zwingli, wohl die drei einzigen Schweizer-Namen, die ihm bekannt sind, von denen aber jeder in gewissem Sinne ganz gut den Gegensatz zu seiner Krämer-Seele ausdrückt.

[11. Januar 1857]

11t. Januar.375Abgedruckt in "Blätter für Kunst und Literatur" Nr. 45, Beilage der NZZ vom 12. Mai 1857, S. 177f.schliessen Wir sind erst gestern früh bei Tage bei den oben erwähnten Felsenriffen vorbeigekommen, und haben dieselben in aller Muße betrachten können. Gestern Abends gegen 8 Uhr passirten wir dann den Äquator. Die gewöhnliche Feier dieses Übergangs, die bei den meisten französischen und englischen Schiffen immer noch stattfindet, und in einer Taufe mit darauffolgendem allgemeinem Saufgelage besteht, war vom Capitän ganz verboten worden, weil sie gewöhnlich mit einer Prügelei der Matrosen endet. Unser kleine Kreis feierte den Schritt durch einen Champagner-Punsch in Eis und genoß diese bei fast unerträglicher Hitze ganz angenehme Kühlung. Der Transport des Produkts des Nordens an den Äquator ist auch erst seit kurzer Zeit versucht worden, und soll noch in vielen Schiffen mißlingen. Unser Eiskeller aber hält sich vortrefflich und es sagte uns der Capitän bei der Gelegenheit, daß bis jetzt noch nicht ein einziges der an Bord befindlichen Schlachtopfer getödtet worden, sondern das täglich frische Fleisch alles aus dem Eiskeller gekommen sei. — Bereits stellt sich das Gefühl einer glücklich und schnell zurückgelegten Fahrt ein, denn schon übermorgen in der Frühe sollen wir in Pernambuco also auf dem Boden der neuen Welt sein.

[12. Januar 1857]

12t. Januar. Gestern Abend saßen wir bis nach 24 Uhr bei herrlicher Witterung auf dem Verdeck; der Capitän und Dr.Aschenfeld erzählten uns viel von ihren Erlebnissen, und Letzterer bemerkte gelegentlich, er hätte noch keine so bequeme und angenehme Meerfahrt gemacht wie diese, ich wisse jedenfalls noch nicht, was das Seeleben sei, nicht bloß, weil wir keinen [S.6] Sturm erlebt, sondern hauptsächlich, weil man auf diesem bequem eingerichteten Dampfschiffe sich gar keinen Begriff machen könne, was Auswanderer in Segelschiffen bisweilen auszustehen haben. Darauf machte er uns eine Schilderung einer Reise nach Australien, von der ich die Hauptzüge hier wiedergeben will, damit Ihr seht, daß ich auch mit der Schattenseite der Auswanderung vertraut geworden bin, und, wenn ich je zur Auswanderung rathe, ich es gewiß nicht thue ohne gewissenhafte Prüfung der Schatten- wie der Lichtseiten. Nach Australien gehen nur Segelschiffe mit Auswanderern, und da hängt denn die Fahrzeit gar sehr vom Winde ab; diese Fahrt von Dr. Aschenfeld dauerte 5 Monate und einige Tage, wohl ziemlich lange, doch kommt es vor, daß die Fahrt auch noch länger dauert. Nun war aber schon auf der Hälfte der Fahrt das Brod ausgegangen, indem Alles von Ratten aufgefressen worden, ebenso alle andern Lebensmittel bis auf getrockneten Speck und Erbsen; dies wurde nun täglich in drei verschiedenen Kochweisen genossen, der Durst konnte aber nicht gestillt werden, da auch das Wasser fast ausgegangen; das Wenige, das geblieben aber doch schon in Fäulniß übergegangen war, wurde zu Thee verwandt. Die Ratten waren in solcher Zahl vorhanden, daß sie furchtlos in Kajüten und überall herumkrochen. Dr. Aschenfeld schlug in Einer Nacht, die er der Kranken wegen durchwachen mußte, 8 Stück mit einem Stock todt; viele andere entliefen, durch seine Streiche verwundet. Dazu kam nun zwar nicht ein Orkan und Schiffbruch, aber doch die heftigen tropischen Regen, bei denen man unmöglich an die frische Luft gehen konnte; und in Folge aller dieser Übel traten dann nacheinander und nebeneinander Cholera, Ruhr, Typhus und Skorbutt ein, von welchen Krankheiten die letztere auf See die entsetzlichste sein soll. Man denke sich unter solchen Umständen ein Zwischendeck mit 300 Passagiren! Ich denke die endliche Landung in Melbourne mußte den Übriggebliebenen unter allen Umständen Erlösung sein, und doch wartete ihrer kein Gutes Loos. Dr. Aschenfeld sagte einfach, sie waren verkauft, nicht zwar als wirkliche Leibeigene, sondern als Sklaven des Geldes. Ohne alles Eigenthum mußten sie jedweden Dienst annehmen, der sich ihnen bot; die einen mögen vielleicht menschliche Herren gefunden haben. Die meisten aber, denen die Überfahrt zur Hälfte bezahlt war, kamen in die Goldminen ins Innere und lebten ohne Zweifel unter härterem Druck und in größerem Elend, als zu Hause.376Von hier an ist der Text bis ans Ende der Seite gestrichen, in den Abdruck der NZZ aber doch übernommen.schliessen

Um nun endlich etwas zu sagen über das Meer und die Natur überhaupt, so muß ich zunächst gestehen, daß das Meer, das man sich im Binnenlande gewöhnlich als Bild der Größe und Unermeßlichkeit und zugleich der Macht und Unüberwindlichkeit denkt, auf mich keineswegs diesen Eindruck gemacht hat. Größe und Unermeßlichkeit scheinen mir in den Hintergrund zu treten, theils weil das Auge hier bei dem unbegrenzten Horizont gar kein Maaß hat, theils weil das Himmelsgewölbe, das als volle Halbkugel auch viel majestätischer erscheint, als auf dem Festlande, zunächst auf jene Prädikate Anspruch macht. Dies Gefühl hat man ganz besonders des Nachts; man wende mir nicht ein, daß man dann der Dunkelheit wegen keinen Horizont, das Meer nicht in seiner ganzen Größe sehen könne. Ja wohl sieht man auch des Nachts, bei unbewölkter Luft und klarem Sternenhimmel einen ganz scharf abgegrenzten Horizont, und die Seeleute benutzen denselben auch oft, um die Höhe eines Gestirns in seiner Kulmination zu beobachten. In solch schönen Nächten ist man ganz besonders zur Betrachtung der Natur aufgelegt, denn wie Lenau sagt:


"Die Zeit des Mondes und der Sterne,
das ist die ungestörte Zeit
Der Sehnsucht nach der stillen Ferne
aus dieser Welt voll Schmerz und Leid."377Das Zitat aus Niklaus Lenaus Gedicht "Weihnacht" im Zyklus "Savonarola" ist im Abdruck der NZZ vom 12. Mai 1857, S. 177, korrigiert: "aus dieser Welt voll Schmerz und Streit."schliessen

(Ich weiß nicht, ob wörtlich, aber wenigstens dem Sinne nach.)

Beim Anblick der Millionen Sterne, von denen die meisten unter sich um unendlich viele Erddurchmesser entfernt sind, muß aber selbst das gewaltige Meer den Eindruck der Größe verlieren. Daß das Meer auch nicht den Eindruck der Macht und Unüberwindlichkeit auf mich gemacht hat, hoffe ich zur guten Stunde zu sagen. Noch haben wir nicht den mindesten Sturm, sondern immer ruhige See gehabt. Da fühlt man sich denn auf so stolzem Schiffe, wie das unsere, das 300 Fuß Länge, 35 Fuß Breite und 2500 Tonnen Inhalt, außer dem Capitän und den Matrosen, die gewöhnlichen Handwerker an Bord hat, mit Lebensmitteln, und zwar nicht nur den einfachsten nothwendigsten und mit frischem Wasser, sondern mit Delikatessen aller Art, mit den feinsten Weinen und Eis, das bereits den Äquator passirt hat und den südlichen Wendekreis erreichen soll, und versorgt ist, auf dem man in den geschmackvollsten Zimmern und Säälen wohnt (— von dem Luxus der Salons 1. Cajüte habe ich noch gar nicht gesprochen, er ist aber wirklich großartig —) einer ganz neuen Bibliothek, Schach und Kartenspiel jeden Augenblick zur Verfügung hat, so, sage ich, merkt einer bei ruhiger See wirklich nichts von Gefahr, sondern fühlt sich so sicher und wohl wie im bunten und genußsüchtigen Leben einer großen Stadt.378Ende der gestrichenen Partie.schliessen

[S.7] Ich habe die letzte halbe Seite aus folgendem Grunde durchgestrichen: Ich wollte den Eindruck, den das Meer und die ganze Natur bis jetzt auf mich gemacht, hier zusammenfassen, damit Ihr mit diesen Zeilen einen Versuch bei der Redaktion der Allgemeinen Zeitung machen könnt: Nun höre ich eben, daß ich von Bahia aus, wo wir heute Abend ankommen werden, diesen Brief abgehen lassen kann, mit einem Schiff, das morgen oder übermorgen von Rio kommend in Bahia anhält und nach Europa fährt. Da nun diese schnelle Gelegenheit, unsere glückliche Ankunft auf dem neuen Continent zu erfahren, auch Euch sehr angenehm sein wird, so will ich jene angefangene Naturschilderung unterbrechen, und dieselbe erst in Rio ganz beenden, dafür aber jetzt noch kurz die Erlebnisse der letzten Tage mittheilen. — Dienstag, den 13t. Morgens in der Frühe erblickten wir die neue Welt, und lagen auch um 7 Uhr schon 1 Stunde vor Pernambuco vor Anker. Die Stadt und besonders deren Vorstadt Olinda, auf einem Hügel gelegen, nehmen sich ganz gut aus. Das ganze bewaldete Ufer aber machte in dieser Entfernung keineswegs den imposanten Eindruck, den ich von den Tropen erwartete; statt üppiger Vegetation glaubte man eher dürre Wälder auf unfruchtbarem Sandboden zu erblicken. Nachmittags fuhren wir zur Stadt und je näher wir derselben kamen, desto schöner traten auch die Palmen hervor, aus denen jene Wälder bestehen, und deren dunkles Grün in die Ferne ganz so aussieht wie unsere Tannenwälder. Unsere kleine Gesellschaft miethete einen Wagen, um in der uns kurz zugemessenen Zeit die große, wenn auch nur von 80'000 Menschen bewohnte Stadt zu betrachten. Das Eigenthümliche, das dem Europäer am meisten auffällt, ist natürlich das bunte Gemisch von Schwarzen und Farbigmatten aller Abstufungen. Weiße sieht man wenige auf den heißen, ungepflasterten und des tiefen Sandes wegen fast ungangbaren Straßen. Im Ganzen wird natürlich Pernambuco in Bauart und öffentlichem Leben wenig verschieden sein von den andern Brasilianischen Küstenstädten Bahia und Rio. Ich will mich daher nach diesem kurzen Besuch in Pernambuco noch nicht in eine Schilderung hiesiger Verhältnisse einlassen, sondern dergleichen bis nach einem längeren Aufenthalt in Rio versparen. Gegen Abend fuhren wir natürlich an Bord zurück, mußten aber den Abend noch im Hafen bleiben; gestern morgen früh rückten wir wieder ins offene Meer, doch nur so weit, daß wir stets die Küste erblicken konnten; heute sind wir wieder etwas weiter davon entfernt. Doch werden wir uns derselben auch bald wieder nähern, da wir, wie gesagt, heute Abend um 6 Uhr in Bahia eintreffen werden. — In Pernambuco ist auch ein junges vornehmes Brasilianisches Ehepaar auf unser [S.8] Schiff gestiegen, das mit nach Rio fährt, und zwei Sklaven bei sich hat, von denen der eine, erst etwa 8 Jahre alt, ein ganz netter Junge, gestern ganz unglücklich war. Herr und Frau blieben nämlich den ganzen Tag, der Seekrankheit wegen, in ihren Kajüten; und unterdeß lag der Junge unter lautem Geheul auf dem Deck. Zwischendecks- und Kajütenpassagire sammelten sich um ihn, und überboten sich, ihm Freundlichkeiten zu erweisen, Leckereien anzubieten etc. Nichts half, und doch schien der Junge nicht seekrank zu sein. Gegen Abend ließen sich der Herr und seine Frau etwas Bettzeug auf die Bänke des Decks legen, um so etwas frische Luft zu genießen. Sowie der Kleine seine Herrschaft erblickte, legte er sich zu ihren Füßen auf den harten Boden hin; und war von dem Augenblick an ganz glücklich und zufrieden. Der Herr scheint aber wirklich auch gutmüthig und generös zu sein. Ich sah es selbst, wie er die Farbigen, die ihn auf einem Kahn zum Dampfschiff führten, mit etwa 60-70 Franken bezahlte. Beim Überladen seines Gepäcks aufs Dampfschiff fiel durch die Nachlässigkeit eines Officirs und der Matrosen ein Koffer ins Wasser, der ganz mit seidenen Kleidern seiner Frau und Büchern angefüllt war, so daß der Schaden auf etwa 1600-1800 Franken geschätzt wird. Der Kapitän war wüthend und wollte den Officir dafür verantwortlich machen, und den Schaden zahlen lassen. Der Brasilianer nahm dies nicht an, sondern gab im Gegentheil den Matrosen noch ein Trinkgeld von etwa 18 Franken. Er erinnerte mich im Augenblick an jenen jungen Pflanzer in New Orleans in Onkel Toms Hütte,379"Onkel Toms Hütte" von Elisabeth Harriet Beecher-Stowe war 1852 erschienen und schon kurz darauf übersetzt und in Europa bekannt.schliessen dessen Namen ich aber vergessen habe. — Wenn schon dieser Herr gewiß sehr generös war, so kann man doch daraus ungefähr abnehmen, daß das Geld im Ganzen hier einen geringeren Werth hat. —

In Bahia werden wir bleiben bis am 17t. Mittags, und dann in 3 Tagen d.h. am 20t. in Rio eintreffen. In Rio denke ich etwa eine Woche zu bleiben und dann die Reise nach St. Paul anzutreten. Ob ich von Rio aus noch einmal schreibe, hängt davon ab, ob ich in Rio etwas Schreibens-Werthes erfahre, oder nicht. Diesen Brief werdet Ihr spätestens Mitte Februar erhalten, den Brief, den ich möglicher Weise in Rio schreibe, erst in den ersten Tagen des März. Nun bitte ich aber diesen zweiten Brief nicht abzuwarten, sondern in der zweiten Hälfte des Februar mir zu schreiben. In den ersten Tagen des März geht das englische Postschiff und mit diesem hoffe ich Antwort zu erhalten. (Das Datum der Abfahrt dieses Schiffs kann Spyri genau erfahren von Hr. A. Nägeli380Der Kaufmann Arnold Nägeli war mit Spyri bekannt und der Onkel von Heinrich Nägeli, mit dem sich Heusser in Brasilien befreundete. Er stand in Geschäftsbeziehungen mit Südamerika und wurde mit der Zeit der Vertrauensmann Heussers, wenn es um die sachgerechte Spedition von Waren nach Brasilien ging.schliessen) so daß ich bei meiner Rückkehr aus St. Paulo etwas von Euch erfahre. Es trifft Ende März in Rio ein, und um diese Zeit werde ich jedenfalls wieder nach Rio zurück sein.

Mit herzlichem Gruß.
Christen

Gesendet unter 12° 35' südl. Breite und 37° 33' nördl. Länge von Greenwich
pr. adr. Hr. David,381Niklaus Heinrich (Henri) David (1823-1867), der Schweizer Generalkonsul in Rio de Janeiro, stammte aus Basel. Zu ihm stand Heusser zuerst in gutem Verhältnis, das sich aber im Verlauf seiner schwierigen Mission zeitweise trübte. Zu David vgl. HBLS II, S. 673.schliessen Schweizerischer Consul in Rio de Janeiro.



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