Brief Nr. 60 – 29.-30.12.1856
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60 29.-30.12.1856
[Lissabon, 29.-30. Dezember 1856]
Liebe Eltern!367Abgedruckt in: "Blätter für Kunst und Literatur" Nr. 43, Beilage der NZZ vom 2. Mai 1857, S. 169f.schliessen

Glücklich in Lissabon angelangt heute Montag den 29t. December Morgens 11 Uhr bei dem herrlichsten Wetter, etwa wie es bei uns Ende März sein mag, aber viel wärmer. Wie Ihr seht, beginne ich den Brief erst hier; denn davon war keine Rede, daß ich während der Fahrt auch nur ein Wort hätte schreiben können. Wie es Schanf368Verschrieb für "Schaaf": Heusser denkt an Philipp Schaff, den Freund der Mutter, der 1845 nach Amerika ausgewandert war. Vgl. R. Schindler, Memorabilien, S. 258-267, und Brief Nr. 18 (9. 6. 1849).schliessen und Altermatt mit ihren täglichen Notizzen und ellenlangen Briefen machten ist mir in der That unbegreiflich; denn davon ist keine Rede, daß ich, auch abgesehen von der Seekrankheit, auf dem Schiffe etwas Lesbares zu Stande gebracht hätte; so stark waren bisher die Schwankungen des Schiffes. Wir fahren nämlich auf einem ganz neuen Schrauben-Dampfschiff, das unbedingt unruhiger fährt als ein Räder-Dampfschiff.369Am 11. März 1857 erschien in der Beilage zu Nr. 70 der NZZ ein Artikel "Dampfschifffahrt nach Brasilien", der die Teutonia als den neusten Dampfer mit all seinen technischen Errungenschaften schilderte. Als ihr Kapitän wurde der Hamburger Malchin genannt; der Schraubendampfer bediene seit dem 24. Dezember 1856 die Linie Southampton - Rio de Janeiro. Heusser war demnach Passagier auf dieser ersten Fahrt der Teutonia.schliessen Genau habe ich das ganze Schiff noch nicht betrachten können, aber kurz gesagt, ist der Unterschied der, daß wir statt zweier vertikaler Räder in der Mitte des Schiffs nur Eine horizontale Schraube am hintern Ende haben, und zwar gerade unter der ersten Kajüte, so daß wir ganz besonders unter der Erschütterung derselben zu leiden haben. Der Vortheil der Schraubendampfer ist dafür, daß sie schneller gehen. — Von Southampton konnten wir nicht zur festgesetzten Stunde den 24t. Nachmittags 2 Uhr, sondern erst den 25t. früh 6 Uhr abgehen. Wir fuhren anfänglich ziemlich westlich der englischen Küste entlang, und erst später dann südlich; doch Genauers weiß ich nicht von der Fahrt, denn schon Donnerstag Nachmittags fieng sich bei mir Übelkeit an einzustellen, und Donnerstag Abends trat die Seekrankheit vollständig ein mit heftigem Erbrechen. Sturm hatten wir gerade nicht, aber doch hohe, d.h. bewegte See; und zudem ist hier, wo man aus dem Canal in die offene See [S.2] austritt, stets eine starke Strömung, so daß die Seekrankheit sich hier leichter als mitten auf dem großen atlantischen Ocean einstellen soll; in der That waren auch auf dem Schiff alle Personen mit Ausnahme des eigentlichen ans Meer gewohnten Schiffspersonals mehr oder weniger seekrank. Diese Übelkeit, die in der That ein etwas trostloser Zustand ist, dauerte nun Freitags den ganzen Tag fort; Samstags früh wurde es etwas besser; den ganzen Tag, der sehr schön war, immer besser, und heute morgen erwachte ich wieder ganz gesund, und freute mich der nahen schönen portugiesischen Küste.

(Montags den 29t. Dec.)

Ich fahre hier Dienstags fort, da wir bis heute Abend 4 Uhr im Hafen von Lissabon liegen bleiben. Von der Fahrt kann ich nur noch weniges nachtragen. Das Schiff ist eines der größten Dampfschiffe, die den atlantischen Ocean befahren, 320 Fuß lang und 35 Fuß breit; der größte Raum ist für das Zwischendeck verwendet, indem das Schiff für Auswanderer erbaut und zwar für 500 Zwischendecks-Passagiere berechnet ist. Erste und zweite Kajüte fassen im Ganzen vielleicht kaum 100 Passagiere. Weder Zwischendeck noch die Kajüten sind übrigens voll; in jenem sind etwa 50, in diesen beiden bloß etwa 10 Passagiere, und da hier einige aussteigen, bloß noch 6, vorausgesetzt, daß Niemand mehr zukommt, was ich freilich noch nicht weiß. Jedenfalls aber werden die großen Räume lange nicht voll, so daß schon deswegen die Fahrt eine sehr angenehme zu werden verspricht. — Ein solches Schiff ist nun wirklich eine Welt im Kleinen. Von dem ganzen Bau und dem eigentlichen Zusammenhang des ganzen Mechanismus, der Taue, Masten etc., habe ich, wie bereits gesagt, noch keinen Begriff, hoffe aber denselben noch etwas studiren zu können. — Was die Lebensbedürfnisse betrifft, so haben wir schon für die kleine Anzahl Passagiere lebende Hühner, Schweine, Schaafe und eine Kuh (letztere bloß der Milch wegen, erstere aber zum Schlachten) an Bord. Alle diese Thiere scheinen die Seekrankheit nicht zu bekommen; anders ist's mit den Pferden. Wir nahmen [S.3] von England aus zwei prachtvolle Pferde mit, die in Bahia ausgeschifft werden sollten; das eine verendete aber schon am 2t. Tag der Fahrt; das andere blieb gesund, und wird nun hoffentlich die ganze Fahrt glücklich überstehen. Sobald ein Pferd die Seekrankheit bekommt, so soll es auch in den ersten Tagen daran zu Grunde gehen. Viele unterliegen aber derselben gar nicht. —

Ich habe also 2t. Cajüte; dieselbe unterscheidet sich von der ersten nur dadurch, daß sie etwas ungünstiger liegt. Tafel ist für beide gemeinsam, und ist wirklich luxuriös; daran liegt mir nun rein Nichts, mit einem einfachen Stück Fleisch wäre ich eben so zufrieden; aber das Angenehme der gemeinschaftlichen Tafel ist, daß ich so mit dem Capitain370Der Hamburger Malchin wird als Kapitän der Teutonia im erwähnten Artikel der NZZ vom 11. März 1857 genannt.schliessen und ersten Officier bekannt werde. Beide sind sehr freundliche Leute, Hamburger, (wie denn die ganze Bemannung deutsch ist) die mich auch bereits aufgefordert haben, wenn die See ruhiger wird, an ihren täglichen Ortsbestimmungen theilzunehmen. — Von der weitern Schiffsgesellschaft im folgenden Brief Näheres; man kennt sich noch zu wenig; doch scheint sie angenehm zu werden. Es sind zwei junge Hamburger-Ärzte, der eine Schiffsarzt, der andere im Begriff nach Bahia als Arzt auf eine Deutsche Colonie zu gehen, außerdem ein junger Kaufmann, Engländer, der aber vollkommen deutsch und portugiesisch spricht, mit bis Rio geht, und mir dort wohl beim Aussteigen mit der Sprache behülflich sein kann. Ferner eine ältere englische und eine jüngere norddeutsche Dame, welch letztere als Gouvernante nach Bahia geht. — Wie gesagt sind hier in Lissabon einige Passagiere ausgestiegen, von denen mich besonders Einer, ein geborner Portugiese, dessen Vater aber ein Haus in Hamburg hat, interessirte, und zwar deswegen weil er meine Aufmerksamkeit mit Beziehung auf die Auswanderung auf Portugal lenkte. Wir standen gestern Morgen zusammen auf dem Verdeck und betrachteten zusammen die schöne portugiesische Küste; ein steiles felsiges Ufer fällt zunächst ins Meer ab; hinter demselben erhebt sich ein fruchtbares hügliges Gelände, das in einigen Meilen Entfernung zu ganz ordentlichen Bergen anwächst. Wie in England das [S.4] schöne Wiesengrün, so fesselt hier das dunkle Grün der zahlreichen Olivenbäume das Auge. — Zahllose Windmühlen, die wie ganze Dörfer die höchsten Hügel bedecken, erinnern zwar daran, daß das Land keine fließenden Gewässer hat, zeigen aber auch, welchen Getreide-Reichthum das Land produciren muss. Zieht man dazu noch in Betracht, welch herrliche Weine hier wachsen, so muß man zu dem Schluß kommen, daß es hier nicht übel zu wohnen ist. Ich konnte auch dem Portugiesen mein Entzücken über das schöne Land nicht versagen; und da er um meine Mission wußte, antwortete er, er wundere sich nur, daß sich die Auswanderung noch nicht Portugal zugewandt habe, während doch dies Land, im Innern ebenso fruchtbar wie an der Küste, aber gar nicht bewohnt und angebaut sei. Natürlich hatte ich jetzt nicht Zeit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen; aber, wenn, was mir der Portugiese sagte, wahr wäre, warum sollte man über dem Meere suchen, was man in viel größerer Nähe haben kann? Zunächst muß ich nun natürlich sehen, wie es in Brasilien steht. Aber Portugal kann man immer noch im Auge behalten. (Dies mitzutheilen.)371Diese Beobachtung sollte nach Heussers Wunsch wohl an den Direktor der Strafanstalt Johann Conrad Widmer weitergeleitet werden, der sich besonders für aussichtsreiche Ziele der Auswanderung interessierte. Vgl. Brief Nr. 61 (9. 1. 1857).schliessen

Wir fuhren nun längs der Küste herunter und kamen etwa um 9½ an der Mündung des Tajo an; die Vorstädte Lissabons ziehen sich fast so weit, während der Mittelpunkt der Stadt wohl etwa 1½ Stunden weiter Fluss-aufwärts liegt. Nun käme ich also zur Beschreibung dieser wundervollen Stadt, die ich beim schönsten Frühlingswetter (denn anders kann man diese Witterung nicht nennen) gesehen habe. Die Zeit drängt aber, denn bald soll dieser Brief abgehen; daher kurz Folgendes: Das Charakteristische und Schöne liegt darin, daß sie nicht auf einem ebenen Ufer, sondern auf mehreren steilen Hügeln, die senkrecht auf den Lauf des Flusses gerichtet sind, erbaut ist. Zwischen diesen Hügeln liegen ziemlich ebene Thäler, und in diesen befinden sich schöne breite Straßen, und überhaupt die schönsten Quartiere. Die Hügel dagegen sind so steil, daß die Straßen, die befahren werden, gewiß manchmal 12-15% ansteigen. Soviel ist mir klar geworden, daß ein Erdbeben hier 100 mal größeren Schaden anrichten muß, als bei gleicher Intensität in einer eben gelegenen Stadt. — Natürlich gewinnt [S.5] die schöne Lage Lissabons noch unendlich viel durch den gewaltigen Tajo, der hier eigentlich bereits nicht mehr Fluß, sondern Bucht des Meeres ist. — Eine solche Hügelstadt ist schön! Was das Leben betrifft, so schon viel südliche Faullenzerei und Schweinerei. Proletarier reiten auf armseligen Eseln, gewöhnliches Volk rennt auf kleinen Rossen im Galopp in den Straßen herum, viel Dreck und Schmutz überall; die Reichen freilich in schönen Equipagen mit prächtigen Maulthieren, wie ich noch keine gesehen, so schön und edel wie Pferde. — Ich muß schließen und den Brief abgehen lassen. Den nächsten also von jenseits des Meeres! Morgen Abend also Altjahr-Abend; da werde ich auf offener See sein, und nach Hause denken. Gruß!

J. Ch. Heußer.
Lissabon Dienstag den 30t. Dec. 56.

Ich bitte die beiden inliegenden Briefe zu besorgen; den von fremder Hand an die Frau meines Begleiters:
Frauen Wildberger, Modiste im Bleicherweg



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