Brief Nr. 59 – 23.12.1856
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59 23.12.1856
[Southampton, 23. Dezember 1856]
Liebe Eltern!

In Southampton angelangt finde ich endlich einen freien Augenblick, an Euch zu schreiben. Von Berlin aus war mir es in der That unmöglich. Hier war ein Treiben und Jagen noch ärger als im Hirzel, da mir nur 5 Tage für diese Stadt übrig blieben. Trotz der kurzen Zeit habe ich aber doch in der Hauptsache meinen Zweck erreicht. Eine Empfehlung von A. v. Humboldt354Diese handschriftliche Empfehlung ist noch erhalten im Johanna Spyri-Archiv.schliessen lag bei meiner Ankunft in Berlin, dank den Bemühungen des Prof. Gustav Rose und meines Freundes Crull bereits bereit, so daß ich bloß noch diesem Nestor der Wissenschaft meine Aufwartung zu machen und meinen Dank auszusprechen hatte. Dies that ich in der That, konnte aber Humboldt nur ganz kurze Zeit sprechen, da in jenen Tagen eine Nichte355Humboldts Nichte Adelheid von Hedemann war am 14. Dezember 1856 gestorben.schliessen von ihm gestorben war, durch welchen Todesfall er sehr ergriffen war. — Die Empfehlung des Prinzen von Preußen,356Wilhelm (1797-1888), der jüngere Bruder Friedrich Wilhelms IV. führte seit 1840 den Titel Prinz von Preussen. Vom Herbst 1857 an führte er die Regentschaft für seinen schwerkranken Bruder und wurde 1861 sein Nachfolger als König von Preussen.schliessen die ich durch Humboldt hätte erhalten sollen, habe ich zwar nicht erreichen können, theils da Humboldt durch den Todesfall in jenen Tagen zu sehr in Anspruch genommen war, theils da der Prinz bei der gegenwärtig hängenden Neuenburger-Angelegenheit, wie man allgemein glaubte, nicht zur Empfehlung eines Schweizers geneigt war. Indeß wird ohne Zweifel Humboldts Empfehlung von dem größten Gewicht sein, da gerade die Regierung von Brasilien noch specielle Verpflichtungen gegen Humboldt hat. Bei einer Grenzstreitigkeit mit einer benachbarten Regierung berief man sich nämlich auf die von Humboldt auf seiner amerikanischen Reise am Rio Negro gemachten Ortsbestimmungen, und diese fie[S.2]len zu Gunsten Brasiliens aus, so daß in diesem Lande Humboldts Name noch mehr als bloß wissenschaftliche Bedeutung hat. —

Auf der Sternwarte habe ich noch zwei Tage zubringen können, und dabei meinen Zweck vollständig erreicht, so daß ich mit einem einfachen Sextanten, den ich von Berlin aus mitgenommen habe die geographische Breite meines Ortes bestimmen kann. Zur Bestimmung der geographischen Länge ist freilich noch ein sehr kostbares Instrument nothwendig, das ich jetzt nicht habe mitnehmen können. Da aber das Clima nur von der geographischen Breite und von der Höhe über Meer abhängt, so bin ich für den nächsten Zweck vollständig ausgerüstet. Denn auch die Höhenbestimmung kann ich mit dem Barometer sehr leicht ausführen.

Wollte ich weiter erzählen, was ich in Berlin erlebte, so würde mein Brief sehr ähnlich demjenigen von Pfr. Pfenninger357Hans Kaspar Pfenninger (1782-1862) war seit 1824 Pfarrer in der Gemeinde Schönenberg. 1856 feierte er das 50jährige Jubiläum seiner Ordination im Jahr 1806. Vgl. Meta Heussers Memorabilien der Zeit zum 4. 3. 2.schliessen im Schönenberg, den wir in den letzten Tagen im Sellnau358In Selnau, damals noch selbständige Aussengemeinde Zürichs, wohnte seit ihrer Heirat Christians Schwester Anna Ulrich-Heusser mit ihrer Familie.schliessen gelesen haben. Wie jener ein Verzeichniß der an seinem Jubiläum erhaltenen Geschenke enthielt, so müßte der meinige ein Verzeichniß der in Berlin von den verschiedensten Seiten mir erwiesenen Freundlichkeiten und Wohlthaten werden. Oben an steht natürlich Frau Geheim-Rath Weiss. Indeß auch die Familie Rose (alle drei Brüder) so wie Magnus, Dove etc. thaten für mich, was sie nur konnten. Interessante Notizzen über brasilianische Zustände habe ich in Menge bekommen, so wie auch in der schönen Sammlung mich noch ziemlich auf die Fülle und Schönheit dortiger Mineralien vorbereiten können. Zu näheren Nachrichten darüber fehlt mir aber jetzt die Zeit. — So gerne ich auch in Berlin noch eine Oper gehört hätte, so fand ich nicht einmal dazu eine Abendstunde mehr frei; indeß ist es mir gleichgültig, da mir so immer noch die schöne Melodie Baumgartners359Zu Christian Heussers Abschied von Zürich schrieb Gottfried Keller ein Gedicht, das bei der Abschiedsfeier von den Freunden nach der Melodie "Am Brunnen vor dem Tore" gesungen wurde. Die Melodie von Schubert hat Christian fälschlich dem Zürcher Komponisten und Freund Gottfried Kellers Wilhelm Baumgartner (1820-1867) zugeschrieben.schliessen in den Ohren nachklingt.

[S.3] Was die Begleiter betrifft, die ich für meine Reise zu erwarten hatte, so ist der Freiburger Student, Claraz,360Georges Claraz (1832-1930) studierte von 1851 an Naturwissenschaften in Zürich. Er besuchte Heussers Vorlesungen über Mineralogie und ging dann 1856 für weitere Studien nach Freiburg i.Br. und Berlin. Als Heusser einen Begleiter für seine Reise suchte, empfahl ihm Arnold Escher von der Linth den jungen Claraz. Dieser blieb während 25 Jahren Heussers Mitreisender und wissenschaftlicher Mitarbeiter, mit dem er zahlreiche Arbeiten publizierte. Auch nach Claraz' Rückkehr in die Schweiz im Jahr 1882 blieben sie in engem Kontakt.schliessen in der That von Berlin aus mitgekommen, und wir werden uns also morgen hier einschiffen. Der Gärtner von Schaffhausen361Der Schaffhauser Adam Wildberger (*1819) wohnte in Zürich in der Enge. Er war seiner Ausbildung nach Lithograph, wollte aber in Brasilien auf einer Plantage oder als Gärtner arbeiten. Er blieb in Rio de Janeiro als Gärtner im Dienst des Schweizer Konsuls.schliessen hat ebenfalls bestimmt zugesagt, und wir werden denselben auf dem Schiff treffen. Der junge Basler Kaufmann dagegen konnte nicht mehr mitkommen, weil die Zeit vor der Abreise zu kurz war.

Freitag Abends verreisten Claraz und ich von Berlin und kamen Samstags früh in Cölln an; von da gieng es noch rasch nach Bonn zum Mineralienhändler Dr. Kranz,362Dr. August Krantz (1808-1872) war einer der bedeutendsten Mineralien-Kenner seiner Zeit. Er gründete eine Mineralienhandlung, die er seit 1850 von Bonn aus betrieb.schliessen mit dem ich von Brasilien aus in Verbindung treten werde; als ich meine Geschäfte mit ihm vollendet hatte, blieben mir vor Eisenbahn-Abgang noch etwa 2 Stunden Zeit, und ich war eben unschlüssig ob ich noch zu Prof. Lange oder zu einem Glas Bier gehen sollte, als der Zufall mir Adolf Tobler363Adolf Tobler (1835-1910), ein Sohn von Pfarrer Salomon Tobler, wurde Romanist, ab 1870 Prof. in Berlin und der Begründer des Altfranz. Wörterbuchs. HBLS VII, S. 7, und SL 6, S. 272f.schliessen entgegenführte, der gegenwärtig in Bonn studirt, mit dem ich dann zum Bier gieng. Er war dann der letzte Bekannte, den ich in Europa sah. Samstag Abends 11.Uhr gieng es von Kölln fort und über Aachen nach Calais, wo wir Sonntag Abends 4 Uhr ankamen; dann gleich mit Dampfschiff herüber nach Dover; von Calais konnten wir in der Eile Nichts sehen, und in Dover kamen wir erst bei Nacht an. Die See war ruhig, so daß ich gesund blieb; sonst sollen die meisten Passagiere schon auf dieser kurzen Strecke seekrank werden. Ich blieb immer auf dem Verdeck, wo Alles gesund blieb, während die Cajüte sich allerdings in einen Spital umgewandelt hatte. — Von Dover gieng es mit der Eisenbahn in wenig Stunden nach London, wo wir etwa um 10 Uhr ankamen. Den gestrigen Tag (Montag) benutzten wir nun dazu die mineralogische Abtheilung des Brittisch Museum zu durchsehen. Edelsteine und ausländische Mineralien aller Art sind allerdings so schön vertreten, wie nirgend anderswo, und insofern war es mir sehr interessant [S.4] diese Sammlung zu sehen. Dagegen wunderte ich mich, die Europäischen Mineralien nicht schöner vertreten zu sehen; davon besitzen Wien und Berlin viel größere Schätze. — Gestern Mittags blieb uns dann noch eine Stunde für den zoologischen Garten, der nun allerdings alles Ähnliche in andern großen Städten weit übertrifft, von Menagerien gar nicht zu sprechen. Solche Tiger und Löwen wird man außer in ihrer eigentlichen Heimath wohl nirgends finden. Außer diesen Pracht-Bestien finden sich dann die seltensten Thiere aus allen Ländern und Zonen, und ich kann wohl sagen, daß bei deren Anblick eigentlich erst die rechte Reiselust in mir erwachte. —

Gestern Abends 8½ Uhr gieng es dann noch mit der Eisenbahn nach Southampton und heute früh hatte ich mit Einschiffung des Gepäcks zu thun; außerdem erfreute ich mich am Anblick des mit Schiffen überfüllten Hafens, des weiten Meeres, aber auch des herrlichen Landes. Vom schönen Grün englischer Wiesen habe ich schon viel gehört, aber daß dasselbe noch um diese Zeit so intensiv sei und einen so bezaubernden Eindruck mache, hätte ich nie geglaubt. —

Morgen früh geht es also auf's Dampfschiff Teutonia, und Nachmittags um 2 Uhr stechen wir in See. Wie bereits mündlich gemeldet, landen wir in Lissabon. Zählt aber von dort aus nicht sicher auf einen Brief; denn wenn die Seekrankheit mich recht erfaßt, so dauert sie auch länger an, als bis Lissabon, und in diesem Zustande werde ich nicht schreiben können. — Gruß an Alle!

Euer J. Ch. Heußer.
Southampton den 23t. Dec. 56

Lieber Spyri! In den nächsten Wochen wirst Du von Prof. Wolf364Julius Rudolf Wolf (1816-1893) war seit 1855 Professor und Direktor der Sternwarte in Zürich. HBLS VII, S. 583.schliessen 25 Exemplare der Fortsetzung meiner Erdbebenschrift erhalten; sei so gut und schicke davon 2 nach Bern, 1 an Studer,365Bernhard Studer (1794-1887) war seit 1834 Professor für Mineralogie und Geologie in Bern. Er war der führende Erforscher der Geologie der Alpen und regte die Herausgabe der Geologischen Karte der Schweiz an. HBLS VI, S. 582f., und HLS (www.hls-dhs-dss.ch).schliessen 1 an den Telegraphen Brunner; außerdem lege für den letztern noch 1 Exemplar des Neujahrsblatts366Chr. Heusser, Das Erdbeben im Visperthal im Jahre 1855, 58. Neujahrsblatt der Zürcher Naturforsch. Ges. auf das Jahr 1856. Die hier erwähnte Fortsetzung der Erdbebenschrift ist leider im Werkverzeichnis Heussers im Anhang zu G. Claraz, Erinnerungen an Dr. Christian Heusser, Vierteljahrsschrift der Naturforsch. Ges. in Zürich, Jahrg. 72 (1927), S. 394f. nicht aufgeführt.schliessen selbst bei; es sind noch welche bei Euch. Ferner schicke 1 Exemplar des Neujahrsblatts und 8 Exemplare der Fortsetzung unter Kreuzbanden an: D. Krull, Assistenten am K. Mineralienkabinet zu Berlin (Universitäts-Gebäude.)



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