Brief Nr. 51 – 17.8.1856
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51 17.8.1856
[Zürich, 17. August 1856]
Liebe Mama!

Meine Brasilianer Angelegenheit steht in der That besser, als Du glaubst, und ich versichere Dich auf Ehre, daß ich diese Reise einer fixen Anstellung am Polytechnicum vorziehe. Es gestaltet sich immer mehr so, daß, auch wenn ich nicht in Brasilien Fuß fassen und drinnen bleiben sollte, dabei doch für die Wissenschaft etwas herauskommen kann. Und nach der Schweiz werde ich jeder Zeit zurückkehren können, ohne Besorgniß, keine Stellung zu haben. Ich sage Dir, daß Wethli mich jeder Zeit in seine Dienste nimmt; so werde ich noch diesen Herbst, wenn ich nämlich erst zu Neujahr verreise, mit Wethli zusammen eine Eisenbahn von Luzern nach Bern durch das Entlebuch ausstecken und vermessen, und mich dabei ganz gut bezahlen lassen. — Wenn ich so, ziemlich ordentlich mit den Ingenieur-Arbeiten vertraut nach Brasilien ausrücken kann, so glaube ich, kommt [S.2] es am Ende noch zur Realisierung der Träume von Hr. Pfr. Wild; ich glaube mit diesen praktischen Kenntnissen ausgerüstet, kann ich die ganze Welt bereisen, und da ich etwas mehr als gewöhnliche Ingenieure von Physik und Mineralogie verstehe, so glaube ich, sollte etwas bei einer solchen Reise herauskommen. — Hätte ich die Rapperschwyler-Geschichte nicht angefangen, so würde ich mit der größten Freude verreisen, und in derselben die Erfüllung aller meiner Wünsche erblicken.

So sehe ich denn wirklich nicht ein, warum man dem Alten die Geschichte so darstellen sollte, als ob ich Schiffbruch gelitten, und in dieser Reise einen letzten Nothanker ergreife. Warum soll man ihm seine alten Tage so verbittern, daß er glaubt, alle seine scheinbaren und wirklichen Opfer seien umsonst gewesen, und aus mir sei Nichts geworden. Und glaubst Du, daß er es nicht Dir selbst zum steten Vorwurf machen würde, daß man mich nicht zur Medicin gezwungen? - Wie mir Zuchthaus-Direktor Widmer334Johann Conrad Widmer (1818-1903) war von 1851 bis 1857 Direktor der kantonalen Strafanstalt in Zürich, danach Gründer und Direktor der Schweiz. Rentenanstalt. Er war mit dem damaligen Establishment gut vertraut und Escher gegenüber eher kritisch eingestellt. An Widmer schrieb Heusser oft über die Chancen von einzelnen Auswanderer-Projekten. HBLS VII, S. 515, und J. Jung, Alfred Escher 1819-1882, Zürich 2006, Bd. 3, S. 826-829.schliessen sagt, ist auch Regierungs-Rath Sulzer mir sehr günstig, weil er denkt, daß, wenn ich abgesandt werde, noch etwas für die Wissenschaft herauskommen könne. Ferner sagte Prof. Heer,335Oswald Heer (1809-1883) war seit 1834 Leiter des Botanischen Gartens und von 1835 bis 1882 Professor für Botanik und Entomologie an der Universität Zürich und am Polytechnikum. HLS 6, S. 183.schliessen für einen jungen Naturforscher könne sich keine günstigere Gelegenheit [S.3] bieten, sich einen Namen zu verschaffen und eine Carrière zu machen; von Berlin aus bin ich sicher Empfehlungen und Unterstützung in Instrumenten aller Art zu erhalten, und die geographische Gesellschaft daselbst wird jedenmals mit Vergnügen meine Berichte aufnehmen. Warum soll nun bei dieser Mission, die von mehreren Kantonsregierungen ausgeht, weniger Ehre sein, als damals, da Agassiz336Der Westschweizer Zoologe und Geologe Louis Agassiz (1807-1873) war schon in den 1850er Jahren berühmt als Erforscher der Alpenformationen und fossiler Tierarten. Dank der Freundschaft mit Alexander von Humboldt erhielt er vom preussischen König einen Forschungsauftrag in den USA. Er reiste 1846 in die Vereinigten Staaten und lehrte von da an bis zu seinem Tod an der Harvard University. HLS 1, S. 127f.schliessen auf eigne Faust den Ingenieur Wild337Wahrscheinlich Ingenieur Johannes Wild (1814-1894) aus Richterswil, Professor für Topographie am Polytechnikum in Zürich. HLS (www.hls-dhs-dss.ch). Agassiz reiste ohne ihn nach Amerika.schliessen mit sich nach Amerika nehmen wollte? Zudem kannst Du sicher sein, daß die Zeitungen die Sache als für mich ehrenvoll darstellen. So ist es bereits geschehen in einem Blatt, das unter dem Titel "Der Colonist"338"Der Colonist" wurde vom Auswanderungs-Agenten Emil de Paravicini herausgegeben als Propaganda-Blatt für die Auswanderung nach Brasilien.schliessen im Toggenburg erscheint: Wahrscheinlich wird dies Blatt die Nachricht von Graubündten aus erhalten haben. Der N.Z.Z. und der Eidg[enössischen Zeitung] bin ich sicher, und aus diesen beiden werden alle andern, wenn die Sache ausgemacht ist, die Nachricht entlehnen.

So bin ich denn noch der Ansicht und werde in dem Sinn morgen an den Alten schreiben, daß ich vom Regierungs-Rat den ehrenvollen Ruf erhalten werde, nach Brasilien zu reisen, und daß ich denselben unbedingt annehmen werde, weil er meinen Neigungen entspreche, und auch ökonomisch ganz günstig sei. Ersteres ist vollkommen wahr, und letzteres nicht unwahr. — Nächsten Samstag kommt die Frage wahrscheinlich vor Regierungs-Rat zur Entscheidung. Heute (Sonntag) bin ich nur auf Besuch hier, und werde heute Abend wieder nach [S.3] Uster zurückkehren.

Der einzige Lug,339Mundartlich: "Lüge".schliessen dessen ich mich bedienen werde, ist also der, daß die Mineralogie-Stelle noch nicht besetzt sei, und daß ich die Reise auch einer definitiven Anstellung vorziehe. In Betracht des seit vielen Jahren Gelogenen, und in Betracht der Geistesschwäche des Alten340Im Mai 1855 hatte der Vater einen Schlaganfall erlitten. Während der anschliessenden Krankheit pflegte ihn Christian. Seither hatten die körperlichen und geistigen Kräfte des Vaters deutlich abgenommen. Vgl. M. Heusser, Hauschronik, S. 112.schliessen halte ich diesen Lug noch für erlaubt, es wird der letzte sein.

Herzlich grüßend
J. Ch. Heußer
Zürich, den 17t. August 56


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