Brief Nr. 50 – 2.8.1856
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50 2.8.1856
[Zürich, 2. August 1856]
Liebe Mama!

Ich bin seit 8 Tagen in Uster bei meinem Freund Wethli,329Kaspar Wethli (1822-1889) war von 1854 bis 1857 Oberingenieur der Glattalbahn, später der Nationalbahn. Er arbeitete mehrere Bahnprojekte aus, unter andern das Projekt zu einer Bahn über den Lukmanier als Alternative zur Gotthardbahn. SL 6, S. 639, und J. Jung, Alfred Escher 1819-1882, Zürich 2006, Bd. 2, S. 556f.schliessen der als Ober-Ingenieur den Bau der Eisenbahn von Uster nach Rapperschwyl leitet, um mich da mit Ingenieur-Arbeiten aller Art bekannt zu machen.330Nach seiner Rückkehr aus Berlin im Sommer 1853 hatte sich Christian Heusser im Herbst 1853 an der philosophischen Fakultät der Universität Zürich habilitiert. Als Privatdozent las er vom SS 1854 an zu Themen der Mineralogie, Kristallographie und der physikalischen Geographie. Seine berechtigten Hoffnungen, die Professur für Mineralogie an dem neu gegründeten Polytechnikum zu erhalten, scheiterten am Widerstand Alfred Eschers. Mit der Begründung, er sei noch zu jung, lehnte der Erziehungsrat seine Kandidatur ab und berief im Juli 1856 Gustav Adolf Kenngott aus Breslau auf den Lehrstuhl für Mineralogie an beide Hochschulen. Der mit beiden Brüdern Heusser befreundete Regierungsrat Jakob Dubs (1829-1872) fragte daraufhin Christian Heusser an, ob er im Auftrag einiger Kantonsregierungen nach Brasilien reisen wolle, um einen Bericht über die dort lebenden Schweizer Auswanderer zu verfassen. Heusser war von der Aussicht begeistert und eignete sich sogleich das Fachwissen eines Vermessungs-Ingenieurs an, das ihm als mögliche Erwerbsgrundlage in Südamerika dienen konnte. Vgl. Brief Nr. 51a (17. 8. 1856) an die Eltern.schliessen In der That sind mir dieselben auch so leicht, daß mir Wethli bereits Anträge gemacht hat, bei ihm einzutreten. Also wenn Alles fehlen sollte, hätte ich hier eine Zuflucht. Indeß glaube ich ganz sicher, daß ich nach Brasilien reisen werde; ich habe jetzt doppelt Lust, da ich als Ingenieur ganz gewiß Aussicht habe, dort fortzukommen. Der Entscheid der Regierung hat sich nur noch hinausgezogen, weil ein zweiter Agent Schmid331Mit der Auswanderer-Agentur Schmidt in Hamburg arbeitete das Haus Vergueiro in Brasilien hauptsächlich zusammen, die Anwerbung in der Schweiz besorgte der Agent Emil de Paravicini. Vgl. B. Ziegler, Schweizer statt Sklaven. Schweizerische Auswanderer in den Kaffee-Plantagen von São Paulo (1852-1866), Stuttgart 1985, S. 99.schliessen von Hamburg nächstens herkommen wird, mit welchem man noch sprechen will. Von Rapperschwyl332Die von Christian Heusser Umworbene, die er nirgends mit Namen nennt, wohnte offenbar in Rapperswil.schliessen ist noch keine Nachricht gekommen. Übrigens würde ich wirklich jetzt gerne nach Brasilien gehen; auch die Regierungen von Appenzell und Aargau schließen sich noch an.

Nun denke ich muß man aber dem Papa einmal etwas [S.2] von der Sache sagen, da leicht nächstens einmal die Zeitungen davon sprechen könnten, und der Zweck dieser Zeilen ist der, Dich zu fragen, wie dies geschehen soll. Meine Meinung ist noch die, ihm die Aussicht so glänzend als möglich darzustellen und zwar aus zwei Gründen: Erstlich glaube ich in der That dabei eher auf einen grünen Zweig zu kommen, als bei einer schlecht besoldeten Schulmeisterstelle am Polytechnicum, und habe wirklich große Lust die neue Welt kennen zu lernen.

Zweitens aber bin ich überzeugt, daß der Alte von neuem seinen Haß auf Spyri333In der Eidgenössischen Zeitung kritisierte Johann Bernhard Spyri immer wieder den autoritären Regierungsstil Alfred Eschers, sicher ein Grund dafür, dass dieser Christian Heusser nicht am Polytechnikum haben wollte.schliessen werfen würde, wenn er erführe, daß Escher hier mich nicht vorwärts kommen ließ. Ich denke daher, es ist am besten, ihm die Sache so darzustellen, als ob diese Reise neben der Auswanderungs-Angelegenheit auch wissenschaftliche Zwecke habe, und mir vor Allem einen Namen verschaffen soll. Daß dies der Fall sein wird, glaube ich übrigens auch. Und jetzt frägt sich's ob Du vorläufig mit Papa sprechen, oder ob ich darüber schreiben soll. Ich bin heute nur kurz auf Besuch hier und gehe heute wieder nach Uster zurück. Die Reise nach dem Wallis führe ich nicht mehr aus, sondern bleibe noch möglichst lange Zeit in Uster. Nach Hause werde ich natürlich noch einmal [S.3] etwa 8 Tage kommen. Nun bitte, antworte, wie ich die Geschichte anfangen soll. In Uster logire ich im Gasthof zum Sternen.

Grüßend:
J. Ch. Hßr
Zürich, den 2t. August 56.


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