Brief Nr. 5 – 1.5.1848
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5 1.5.1848
[Berlin, 1. Mai 1848]
Liebe Mama, Netti68Die älteste Schwester Christians Anna Elisabetha Dorothea (1825-1907), von der Familie Netti genannt, heiratete 1852 den Kaufmann Friedrich Salomon Ulrich (1821-1899). Vgl. R. Schindler, Memorabilien, S. 116-119.schliessen und Hanni!

Zunächst muß ich die Geldgeschäfte abmachen; am 30t. Mai69Es ist wohl der 30. April gemeint: vgl. das Datum am Ende des Briefes.schliessen bezog ich 150 Thlr.; ich mußte nämlich nothwendig Geld haben, um die Collegien zu belegen und konnte daher nicht länger auf Antwort warten; ich wußte zuerst nicht, wie viel ich nehmen sollte; wenn ich nämlich weniger genommen hätte und Papa doch noch einmal 150 Thlr. geben wollte, so hätte er so erfahren, daß ich einen Creditbrief habe; wenn er nun aber meinen Vorschlag angenommen hat, so habe ich freilich zu viel Geld bezogen, denn 150 Thlr. werde ich nicht in Wädenschweil haben; in diesem Fall müssen noch die 20 Fr. von Lisebethli sel. und die 50 Fr. Capital dran glauben, wie ich sogleich an den Alten selbst schreiben werde, so bald ich einmal Antwort habe.

Jetzt zur Hauptsache; ich habe mir bei der letzten Geschichte des Umsattelns70Angesprochen ist die mehrfach vom Vater vorgebrachte Aufforderung, zum Medizinstudium zurückzukehren.schliessen noch einmal die ganze Lage der Dinge, die künftige Existenz von Papa und von Euch klar vor Augen geführt, und mir, nicht in der Erinnerung daran, daß ich von ihm nie, wie der ältere Sohn behandelt worden bin, sondern manchmal sogar in sentimentaler Stimmung beim Durchlesen seines eigenhändigen letzten Briefes, Vorstellungen gemacht, was ich eigentlich ihm schuldig sei; aber das Resultat ist nicht zu seinem besten ausgefallen. Ich habe mich überzeugt, daß Ihr Euch von ihm trennen müßt, und habe mich entschlossen, mein Möglichstes zu thun, Euch dazu zu bewegen. Es ist zwar hart für ihn, daß er in seinen alten Tagen keine Hülfe von seinen Söhnen hat, und wird doppelt hart sein für ihn, wenn er von den Seinigen total verlassen wird; aber betrachtet einmal Eure Lage während der ganzen Zeit, die Ihr neben ihm zubringen mußtet; seine künftige isolirte Lage wird ein Elysium sein gegen diese Sklaverei, in der Ihr schmachtet. Das größte Gut, das ich erst jetzt recht zu schätzen weiß, da ich es vollkommen besitze, dies größte Gut, die Freiheit hat Papa seit 40 Jahren besessen, und wird es ferner besitzen, und auch wenn Ihr nicht mehr bei ihm seid; Ihr habt sie noch nie besessen, müßt aber dazu kommen und einmal des Menschseins bewußt werden; ein andrer Weg ist aber nicht möglich, da ich auf eine Existenz in der Heimath wenigstens für die nächste Zukunft keine Aussichten habe. Da ich also auf dem Wege des Friedens Nichts werde ausrichten können, so thue ich mein Möglichstes den Krieg anzuflammen, und wenn Ihr einmal den Entschluß gefaßt, so werde ich entschieden zu Euch stehen, und überall, und auch vor Gericht offen das ganze Benehmen Papas schildern. So bald Ihr Euch entschlossen, so thut mir Eure Wünsche kund, ich werde sogleich an Papa schreiben, wie und [S.2] was Ihr wollt; und wenn es Zeugen braucht, so werde ich in den Herbstferien heimkommen. Ich glaube daß ein totales Verlassensein nach kurzer Zeit wohlthätig auf ihn wirken würde, er würde gewiß den Moralischen ärger bekommen, als ich in den ersten Tagen in Berlin darüber, daß ich 4 Jahre lang in Zürich Nichts gethan habe. — Die religiösen Skrupel sind glaube ich durch das Drückende Eurer Lage bereits beseitigt; und auf die öffentliche Meinung kommt rein Nichts an; ich begreife zwar, daß das Urtheil von Tante Wichelhausen und Hr. Pfr. Wild euch nicht gleichgültig sind; was erstere betrifft, so kann ich freilich Nichts machen, vielleicht Hr. Pfr. Birch, oder Nani;71Meta Heussers Nichte Nanny von Birch-Morf (1812-1863) war verheiratet mit Pfarrer Salomon von Birch. Die Kinder von Meta Heussers Schwester Anna Morf-Schweizer waren nach der Scheidung ihrer Eltern im Doktorhaus auf dem Hirzel aufgewachsen und blieben der Familie Heusser eng verbunden.schliessen bei Hr. Pfr. Wild habe ich aber bereits vorbereitet. Er schrieb mir nämlich, daß seine Ansicht über Papa den Sieg davon getragen habe, indem ein tief gemüthlicher Zug Papas in der Richterschweiler Affäre von Theodor sich ihm gezeigt habe.72Wohl eine Anspielung auf die Eröffnung von Theodors Arztpraxis in Richterswil im Frühjahr 1848, die dem jungen Arzt die ersehnte Unabhängigkeit vom Vater gab. Vgl. M. Heusser, Hauschronik, S. 97.schliessen Ich antwortete Hr. Pfr., daß ich diesen Zug kenne, daß er sich aber nur Theodor und mir gegenüber, nie aber gegen Euch zeige; ich schilderte ihm dann ungenirt seine ganze Barbarei, und erklärte, daß ich den festen Entschluß gefaßt habe, bei Euch auf Trennung hinzuarbeiten, und daß ich nur in der Hoffnung, daß diese zu Stande kommen werde, bei den gegenwärtigen Studien geblieben sei, sonst aber wieder umgesattelt hätte: Also bei Hr. Pfr. Wild ist vorgearbeitet, allenfalls kann ich es auch, wenn es nöthig ist, bei Pfr. Birch thun; wenn Ihr nicht rasch den Entschluß fassen wollt, so kann ich Euch allenfalls dann noch die Antwort von Hr. Pfr. Wild mittheilen, die wohl bald kommen wird; ich wäre jedenfalls für rasche That und werde durch Nichts mehr von meiner Überzeugung abgebracht werden!

Was die Hülfsmittel betrifft, so könnt Ihr doch existiren; was mich betrifft, so ist mir Geld versprochen, zwar von einer Seite woher ich es nicht gerne nehme; ich werde daher noch Hr. Pfr. Birch fragen, ob er mir Geld leihen will; thut er es, so ists mir recht, thut er es nicht, so bin ich doch geborgen. Hoffentlich wird Theodor aus seiner fetten Praxis73Die eigene Praxis in Richterswil hatte Theodor erst wenige Monate zuvor eröffnet.schliessen auch etwas für Euch erübrigen können.

Tante Regeli, Netti, Hanni treibt daran, daß es geht! — Zu Allem bereit, was zur Freiheit führt,

Euer: J. Chr. Heusser
Berlin, 1t. Mai 48.

NB. Besorgt doch möglichst bald die Zulage; ich habe ja auch einmal einen Brief durch Steinfels74David Steinfels (*1827), Zuckerbäcker, arbeitete in Berlin, ging später nach New York, wo er schon 1857 gestorben sein soll. Zürcher Bürgerbuch 1855 und 1858.schliessen von Euch erhalten.



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